Yella stellte Hafermilch und Tee auf die Anrichte in der Küche. Doro sah sie so überrascht an, als habe sie nicht im Mindesten damit gerechnet, dass Yella die Einkäufe wirklich erledigte.

»Wow«, sagte sie verblüfft. »Das ist wirklich nett.«

»Bedank dich bei Helen«, entgegnete Yella kühl und ließ sie einfach stehen.

Im Vorübergehen registrierte sie ein bisschen neidisch, dass ihre Schwester selbst im Freizeitlook umwerfend aussah. Yella fragte sich, wie lange Doro wohl gebraucht hatte, ihre Haare so gekonnt zu verwuscheln und ein derart nonchalentes Make-up aufzulegen, als koste es keine Mühe, so ungeschminkt auszusehen. Unter einer bodenlangen eierschalenfarbenen Kaschmirjacke trug sie einen hautengen, bauchfreien Sportanzug in auffälligem Rot, knapp genug, um ein beeindruckendes Sixpack erkennen zu lassen und die makellosen Fesseln, die in Prada-Turnschuhen mit transparenter Sohle steckten. Selbst am frühen Morgen schaffte Doro es, zugleich Glamour und Arbeitsatmosphäre zu verbreiten. Auf dem Küchentisch balancierte Amelie in einem strahlend weißen Unterrock zwischen Stoffteilen, Stiften, Heißkleber, Drahtrollen, Glitter, Garn und Kaffeetassen, während Doro den Saum absteckte. Amelie war exakt so groß wie ihre Mutter und hatte, nachdem

Doro klickte einen der Schalenkoffer auf und packte eine tragbare Nähmaschine aus, aus einem zweiten holte sie das Rohmodell des Hochzeitskleids hervor. Der aufwendige Entwurf dokumentierte eindrucksvoll, wie lange sie bereits in die mütterlichen Pläne eingeweiht war.

»Wer bin ich, Henriettes Pläne zu durchkreuzen?«, verteidigte sie ihr Stillschweigen. »Sie hätte mich umgebracht, wenn ich ihr die Überraschung kaputt gemacht hätte.«

Yella winkte ab. »Geschenkt«, sagte sie.

Dabei war nichts weniger wahr. Sie hatte bloß keine Lust, eine weitere Entschuldigungsarie über sich ergehen zu lassen. Sie war fertig mit Doro. Und das unabhängig von Hafermilch und Tee.

»Unsere Mutter will barfuß am Strand heiraten, und ich werde dafür sorgen, dass sie großartig dabei aussieht«, verteidigte sich Doro, als ob sie dringend Yellas Bestätigung brauchte.

»Sie kennt ihn kaum«, gab Helen zu bedenken.

Yella war ihr fast dankbar, dass sie das Gespräch umleitete.

»Und wenn schon. Wir sind nicht hier, um ihre Wahl in Zweifel zu ziehen. Solange Thijs nicht mit unserem Erbe davonrauscht, hat sie meinen Segen.«

»Als ob es um Geld geht«, wandte Amelie ein. »Es geht vor allem darum, ob sie glücklich ist.«

»Wenn er mit ihrem Geld durchbrennt, wird sie wohl kaum glücklich sein«, meinte Helen trocken.

Amelie konnte auch dieses Argument nicht überzeugen. »Niemand kann wissen, wie die Geschichte ausgeht. Es gibt keine Garantien.«

Lucy stürmte in den Raum. »Kann ich so an den Strand?«, rief sie und drehte sich im Bikini vor Doro.

Verblüfft erkannte Yella den korallenroten Bikini ihrer Mutter. In den Händen trug sie die verblichenen Jip-und-Janneke-Strandlaken von damals.

»Wo kommt das ganze alte Zeug her?«, fragte sie.

»Hab ich von Oma abgestaubt«, sagte Lucy. »Als sie die alten Holland-Sachen vom Speicher geholt hat. Steht der mir? Ich bin so eklig weiß.«

»Kein Problem«, quetschte Doro die Worte zwischen den Stecknadeln hervor. »Wenn du bei den Temperaturen ins Wasser willst, bist du ohnehin in zwei Minuten blau. Da sieht man die weiße Haut nicht mehr.«

»Eisbaden ist total angesagt auf TikTok«, verteidigte sich Lucy. »Und supergesund.«

»Zieh dir lieber was an«, sagte Doro. »Sonst erfrierst du, bevor du am Strand angekommen bist.«

»Willst du wirklich nicht mitkommen?«, sagte Lucy.

»Ich habe noch so viel zu tun«, stöhnte Doro.

Lucy packte die Handtücher in ihren Rucksack. Ludwig kam aus der Küchenecke und wedelte mit einer Thermoskanne. »Ich habe uns heiße Schokolade gemacht«, sagte er. »Mit einer Prise Chili, Kardamom und Zimt. Das wärmt von innen auf. Und für den Rest bin ich gut gepolstert.«

Er klopfte zufrieden auf seinen imposanten Bauch. Yella erkannte den Enthusiasmus in Lucys Augen. Genauso waren sie früher auch gewesen. Nichts und niemand und bestimmt

Die Schwestern schwärmten in alle Himmelsrichtungen aus. Jedes Familienmitglied nutzte die Zeit auf eigene Weise. Bis zur Trauung blieben noch etwas mehr als dreißig Stunden. Während Doro mit dem Kleid beschäftigt war, übernahm Amelie praktische Aufgaben.

»Blumendekoration und Brautstrauß sind ja geregelt«, sagte sie. »Aber wo bekommt man auf die Schnelle eine Hochzeitstorte her? Ich weiß nicht einmal, wie das auf Niederländisch heißt?«

Helen tippte auf ihrem Telefon herum und hielt ihrer Zwillingsschwester die gegoogelte Übersetzung hin: Huwelijkstaart. Amelie starrte das exzentrische Gebilde aus Vokalen und Konsonanten an.

»Und wie spricht man das aus? Und zwar so, dass jemand am Telefon versteht, was ich meine.«

Auch die alternative Übersetzung bruidstaart sah nur ein klein wenig vertrauenswürdiger aus.

»Hast du Thijs gefragt?«

»Der ist mit Mama an der Hochzeitslocation«, sagte Doro, deren Stimme sich überschlug. »Und dann brauche ich sie.«

Amelie schlüpfte in ihre Jacke. »Ich radle ins Dorf. Irgendjemanden werde ich schon finden, der mir hilft.«

Doro war genervt: »Henriette kommt gleich. Gebt mir zwei Stunden alleine, sonst ist nichts fertig bei der Anprobe.«

Sie war so gestresst, dass sie nicht registrierte, wie Yella im Hintergrund das Schwesternbild abnahm und heimlich in ihr Zimmer im oberen Stock transportierte. Helen folgte ihr unauffällig. Sie atmeten tief auf, als sich die Tür hinter

»Wordt door J.Thalberg afgehaald«, las Helen noch einmal vor. »Da fängt es schon an. Wer in Bergen einen Rahmen braucht, geht zu Jonkmans. Aber dort kannten sie unseren Vater. Der Besitzer sprach ihn mit dem Vornamen an, so viel Geld hat er dorthin geschleppt. Wir selber waren ständig dort. Das Foto hat unmöglich zwanzig Jahre in dem Laden herumgelegen, ohne dass sich jemand bei uns gemeldet hat.«

Vorsichtig löste Yella die Klemmen und Rückwand des Bildes. Im Inneren fand sich ein Passepartout, das eher auf einen industriell gefertigten Rahmen als auf Handwerk verwies. Darunter kam ein Etikett zum Vorschein.

»Das Foto war nie im Leben bei Jonkmans«, sagte Helen ernüchtert. »Dafür brauchst du keinen Spezialisten.«

Sie las die Informationen vor: »Knoppäng. 21675. Made in Poland«.

»Das Ding stammt von Ikea«, sagte Yella entgeistert.

Helen nickte: »Wenn Thijs das Bild nicht bei Jonkmans gefunden hat, woher stammt es dann?«

»Vielleicht aus dem Studio in Amsterdam?«

Helen googelte den Namen des Fotografen, Lee To Sang.

»Wenn der Rahmen bei Ikea gekauft ist, stimmt die ganze Geschichte nicht, wie das Bild bei Thijs gelandet ist«, sagte Yella.

Sie blickten ratlos in die Gesichter der vier Mädchen auf dem Foto, als könnten sie das Geheimnis, wo sie die letzten zwanzig Jahre verbracht hatten, enthüllen.

»Warum sollte er über so was lügen?«

Der Satz schwang unbeantwortet in der Luft.

»Sollen wir ihm ein bisschen auf den Zahn fühlen?«, sagte Yella.

Helen nickte.

»Willst du nicht lieber was mit Paul unternehmen?«, fragte Yella vorsichtig.

»Der hat seine eigenen Pläne«, sagte Helen. »Er versucht gerade, das Haus zu finden, das wir damals gemietet haben. Es ist um 1920 gebaut und scheint architektonisch etwas ganz Besonderes zu sein. Mama konnte sich nicht an die Adresse erinnern.«

Yella sah sie nachdenklich an: »Du kannst nicht ewig vor ihm davonlaufen.«

Helen blieb eine Antwort erspart, denn in diesem Moment ertönte ein markerschütternder Schrei durchs Haus. Yella und Helen rasten nach unten.

Doro lief kopfschüttelnd im Wohnzimmer auf und ab. »Sie haben Thijs’ Anzug vergessen«, wütete sie, während sie am Telefon hing. Offenbar war Doro nicht nur für das Outfit ihrer Mutter zuständig.

»Er kann ihn doch hier abholen«, sagte Helen.

»Und so ganz nebenbei einen Blick auf das Brautkleid werfen?«, sagte Doro und wies auf die großen Fensterscheiben. »Das Kleid soll eine Überraschung für den Ehemann bleiben. Die beiden übernachten doch sogar getrennt voneinander.«

Entnervt legte sie auf. Ganz offensichtlich erreichte sie niemanden.

»Ludwig sollte eine Sache erledigen, eine einzige …«, schimpfte Doro munter weiter. »Stattdessen machen sie es sich am Meer gemütlich.«

Helen grätschte sofort in die Lücke. »Wir können ihm die Sachen vorbeibringen«, sagte sie.

Ein Strahlen huschte über Helens Gesicht. Yella verstand sofort, was in ihr vorging. Die Situation bot den idealen Vorwand, Thijs Janssen einen Überraschungsbesuch abzustatten.

»Duinrand«, sagte Doro. »Ihr könnt den Anzug einfach an der Rezeption abgeben.«

»Wie bitte?«, sagte Yella entgeistert.

»Der Campingplatz«, sagte Doro genervt. »An den Dünen, du weißt schon.«

»Er wohnt auf dem Campingplatz?«, fragte Helen. »Auf unserem Campingplatz?«

»Er arbeitet da«, sagte Doro, die über jedes Detail informiert war. »Es ist quasi eine Dienstwohnung.«

Yella tauschte einen alarmierten Blick mit Helen aus. Henriettes neue Liebe war auf magische Weise mit der Vergangenheit verwoben. Jeder Schritt konfrontierte sie mit dem Gestern und dem Verlust, der seit über zwanzig Jahren die Familie prägte.