»Überall Reihenhäuser«, stellte Yella verblüfft fest.

Das Viertel am östlichen Rand Bergens erinnerte sie an eine Perlenschnur. Wie bei einer Kette reihten sich einförmige Einfamilienhäuser aneinander. Schulter an Schulter, Reihe um Reihe identische Häuser.

»In Pauls Bücherschrank gibt es ein Buch darüber«, sagte Helen. »Es scheint, dass Reihenhäuser nirgendwo in Europa so populär sind wie hier. 60 Prozent aller Menschen wohnen so. Wenn man die Häuser aneinanderklebt, reichen sie bis nach Peking und zurück.«

»16.000 Kilometer lang pragmatisch schnörkellose Häuser«, staunte Yella.

Die Häuser am Wijzend waren rechteckig um einen gemeinschaftlichen Innenhof angeordnet und betonten sowohl das Miteinander als auch Individualität. Die riesigen Fenster an der Vorderseite boten Passanten freien Blick durch die Wohnzimmer bis in den Garten.

»Weißt du, wie so was heißt?«, sagte Helen. »Doorzonwoning. Für so was gibt es nicht mal eine deutsche Übersetzung.«

Als hätten sich die Bewohner abgesprochen, standen in den Fensterbänken jeweils zwei Vasen mit trockenen Zweigen, zwei Orchideen, identische Topfpflanzen in silbernen Übertöpfen. Dazu Urlaubsreliquien und Sammlungen von

»Ein oe wird wie u ausgesprochen«, rekapitulierte Yella den Lehrsatz ihres Vaters.

»Hurra, ein Mädchen«, übersetzte Helen.

Für alle, die es noch genauer wissen wollten, klebte darunter ein Fenstersticker mit dem Namen des Neuankömmlings: Welkom, lieve Saar. So etwas konnte man in Holland offenbar bestellen.

»Die Leute haben ein enormes Mitteilungsbedürfnis«, lachte Yella. »Die Fenster haben was von einem Schwarzen Brett.«

Ein paar Meter weiter wurde Geburtstag gefeiert, wie ein großes handgeschriebenes Spanntuch verkündete. Im Vorgarten schwankte eine drei Meter hohe, wenig charmante aufblasbare Puppe mit enormem Busen und Weinflasche in der Hand, auf deren blauer Schürze ein Verkehrszeichen mit 60 prangte. Andere Familien warben an den Fenstern für Kunstausstellungen, politische Parteien oder gaben das Erreichen persönlicher Meilensteine wie Führerschein und Diplome bekannt.

Vor dem Haus mit der Nummer 85 stand ein Umzugswagen. Zwischen den Kisten wirbelte eine blasse Frau um die vierzig umher, der man das Unglück vom Gesicht ablesen konnte. Noch bevor sie sich eine Strategie zurechtlegen konnten, ließ die Frau einen Karton aus ihrer Hand sacken und schoss wie eine Furie auf sie zu.

»Helen Thalberg«, sagte sie. »Und das ist meine Schwester Yella.«

Die Frau hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf.

»Großartig«, sagte sie. »Ihr seid sicher wegen der 1.000 Euro hier«, schimpfte sie in perfektem Deutsch los.

»Welche 1.000 Euro?«, fragte Helen.

»Ihr wisst schon, wer die verdammte Hochzeit sponsert?«, fragte die Frau. »Mein Sohn. Der zukünftige Mann eurer Mutter hat es fertiggebracht, meinen vierzehnjährigen Sohn anzupumpen! Er hat ihm ein iPhone als Dank versprochen. Und das Kind hat ihm geglaubt.«

Im Hintergrund drückte sich ein magerer Junge mit dunkler Haut und schwarzem Lockenkopf herum.

»Thijs ist nicht sein Vater«, sagte die Frau, als könne sie ihre Gedanken erraten. »Zum Glück. Aber ich kann euch die Adresse seiner Kinder geben, da gibt es sicher auch noch ein paar alte Rechnungen zu begleichen.«

Der Junge senkte schuldbewusst den Blick und versuchte, so unsichtbar wie möglich zu sein.

»Er hat drei Jahre für diese Summe gespart«, empörte sie sich. »Mit Thijs zusammen zu sein, ist teuer. Fragt eure Mutter doch mal, wer den Camper bezahlt.«

Sie seufzte auf und wirkte auf einmal unendlich müde.

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte sie. »Vor ein paar Jahren war ich nämlich die andere. Die Romantischen sind die Schlimmsten. Erst macht er dir von morgens bis abends Komplimente, schwärmt davon, dass er in dir eine Seelenverwandte und die einzig Wahre gefunden hat. Dann überzeugt er dich davon, in die gemeinsame Zukunft zu investieren.«

»Noch glaubt sie, ihn verändern zu können. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, wann ihm wieder langweilig wird. Männer wie Thijs gehören zu den Fluchttieren.«

Plötzlich ging ihr die Luft aus. Sie musterte Helen und Yella, als würde sie die beiden jetzt erst wirklich wahrnehmen.

»Ich habe mich oft gefragt, was aus euch geworden ist«, sagte sie.

»Aus uns geworden ist?«, fragte Yella nach.

»Nach dem Unfall wart ihr Gesprächsthema Nummer eins. Alle hatten Mitleid mit euch. Und mit eurer Mutter. Das halbe Dorf wollte sie trösten.«

Yella war wie elektrisiert. Waren sie zum ersten Mal auf jemanden getroffen, der die Familie Thalberg noch von früher kannte?

»Fleur«, sagte Helen auf einmal. »Ihr hattet das Café ganz am Ende vom Strand.«

»Mein Onkel, ich habe nur in den Ferien ausgeholfen. Weil ich in der Schule so gut in Deutsch war.«

»Wir hatten da so einen kleinen Bretterverschlag gemietet, wo unsere Liegestühle und Strandsachen drin waren«, erklärte Helen aufgeregt.

»De Jutter«, sagte Yella, die nun auch begriff. »Der Laden neben der Surfschule.«

»Eure Mutter saß oft schon nachmittags mit ihren Freundinnen vom Camping bei uns auf der Terrasse, Flasche Rosé und dann Hof halten. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie in

»Du erinnerst dich an uns?«, sagte Yella noch immer verblüfft.

»Ihr wart bekannt wie bunte Hunde«, sagte sie. »Deine Mutter, Doro … die Mädchen, die für die Ferien herkamen, waren immer interessanter als die Mädchen aus dem Dorf. Daran hat sich bis heute nichts geändert.«

»Dann warst du das, die uns auf dem Foto erkannt hat?«, sagte Helen.

War es das, was Thijs verschwiegen hatte? Dass seine Freundin sie identifiziert hatte? Hatte er diese Frau vor ihrer Mutter geheim halten wollen?

»Welches Foto?«

»Das Foto, das Thijs von uns gefunden hat. Angeblich bei Jonkmans.«

Fleur befand, dass sie genug Zeit verschwendet hatte.

»Ich habe was Besseres zu tun«, sagte sie genervt. »Was auch immer Thijs erzählt hat, vermutlich ist es eine einzige große Lüge.«

Sie drehte sich um, um weiter ihre Kisten einzupacken.

Yella zog ihr Telefon heraus, scrollte durch die Fotos, bis sie das Schwesternporträt fand, das sie für David abfotografiert hatte.

»Es geht um dieses Foto«, sagte sie und hielt ihr die Aufnahme hin.

Fleur war zu neugierig. Sie schaute flüchtig auf das Display und lachte dann auf.

»Das Foto will Thijs bei Jonkmans gefunden haben?«

Fleur lachte immer noch schrill.

»Was ist daran so komisch?«, fragte Helen.

Statt ihr zu antworten, öffnete Fleur die Mülltonne, wohin sie ganz offensichtlich Thijs’ übrig gebliebene Sachen entsorgt hatte, und wühlte in den Habseligkeiten, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Sie überreichte Helen ein blaues Buch mit chinesischem Titel. Yella erkannte den in lateinischen Buchstaben geschriebenen Namen der Autorin: Tessa van Dijk.

Helen schlug das Buch auf und stellte überrascht fest, dass es sich um ein Kunstbuch handelte, das den Fotos von Lee To Sang gewidmet war.

»Ich habe mich schon gewundert, warum Thijs sich neuerdings für Fotografie interessiert«, sagte sie. »Er ist sogar nach Amsterdam gefahren und hat Sangs Archiv abgesucht nach einem Foto, das er erwerben kann. Mir hat er erzählt, er hat nichts Schönes gefunden.«

Helen gab das Buch zurück.

»Ich schenke es euch. Ihr könnt seinen ganzen Müll mitnehmen. Das Einzige, was mich tröstet, ist: Er wird Henriette früher oder später das Herz brechen. So wie jeder Frau vor ihr.«

Sie ließ sie stehen und winkte ihnen zu.

»Schönes Leben noch!«