Die Dinge lagen weit komplizierter als gedacht. Je tiefer die Schwestern in Thijs’ Leben eintauchten, umso mehr stapelten sich Fragen und Bedenken. Er hatte Schulden und verfügte weder über ein geregeltes Einkommen noch über einen festen Wohnsitz. Sein gutes Aussehen und sein mitreißender Charme, den er durchaus entwickeln konnte, waren sein ganzes Kapital.
»Mama fragt schon, wo wir bleiben«, sagte Yella.
»Erst mal Luft holen«, verantwortete Helen.
Auf dem Weg nach Hause machten sie mit einem Koffie verkeerd, den sie an einem mobilen Stand gekauft hatten, am Hertenkamp halt. Das enorme Tiergehege lag mitten im Dorf. Rehe trabten neugierig zum Zaun und verkrümelten sich ebenso schnell, als sie merkten, dass es bei ihnen kein Futter zu holen gab. Ein Reh nieste sie empört an und zog weiter zu zwei Kindern, die sich über den schräg geneigten Zaun beugten, um die Tiere mit Maiskolben, Karotten und Salatköpfen zu füttern.
Erschöpft ließen Yella und Helen sich auf eine Parkbank fallen. Sie brauchten einen Moment, um alle Informationen zu verarbeiten, bevor sie zu ihrer Familie ins Ferienhaus zurückkehrten.
»Leo und Nick würden es hier lieben«, sagte Yella.
Ihre beiden Jungen hätten ihre helle Freude an den zutraulichen Tieren gehabt. Zwischen dem Damwild, einem Pfau und jeder Menge Krähen dösten dicke Schafe. Dahinter stolzierte ein schwarzer Schwan.
»Ist das derselbe, den wir früher gesehen haben?«, fragte Yella verblüfft.
»Schwäne können bis zu zwanzig Jahre alt werden«, wusste Helen.
Sie erinnerte sich, wie sie als Kinder hierhergekommen waren, um jedes Jahr aufs Neue nachzusehen, ob der schwarze Schwan, der immer alleine war, eine Partnerin gefunden hatte. Es war beruhigend und beängstigend zugleich, dass es auf dieser Welt Plätze gab, denen die Zeit nichts anhaben konnte.
»Und was sagt uns das jetzt?«, nahm Yella den Faden wieder auf.
Helen blätterte durch die Fotografien in dem Buch.
»Wenn ich das richtig verstehe«, sagte Helen und deutete auf den Klappentext, »betreut Tessa van Dijk das gesamte Archiv von Lee To Sang. Mit 70.000 Fotos.«
Auf einmal dämmerte es ihr, dass alles auch ganz anders gewesen sein könnte.
»Was ist, wenn Thijs die Aufnahme nicht gefunden, sondern aktiv gesucht hat? Vielleicht hat er Henriette früher mal gesehen und ahnte, dass es bei ihr etwas zu holen gibt«, sagte Yella.
»Und woher wusste er von der Existenz des Fotos?«
»Wir waren bekannt wie die bunten Hunde«, zitierte Helen Thijs’ Exfreundin. »Vielleicht wussten mehr Leute von unserem Amsterdamer Ausflug.«
Der Himmel über ihnen war genauso düster wie ihre Stimmung. Dicke Wolken dräuten über ihren Köpfen und veränderten ununterbrochen ihre Gestalt. Yella fotografierte das flüchtige Schauspiel, das schon ihren Vater gefangen genommen hatte.
»Man hat ständig das Gefühl, etwas zu verpassen«, hatte er gesagt, wenn er wieder stundenlang den Himmel studiert und vergeblich versucht hatte, die Flüchtigkeit des Moments auf einem Stück Papier einzufangen. Jetzt verpasste er seit zwanzig Jahren alles. Beim Blick auf das Wolkenschauspiel wurde Yella auf einmal klar, was zu tun war. Sie hatten ihren Vater verloren, sie durften nicht auch die Mutter verlieren, indem sie sie blind ins Unglück laufen ließen.
»Wir müssen mit Henriette sprechen«, sagte Helen, als hätte sie die Gedanken ihrer Schwester gelesen.
»Sie ist beratungsresistent«, wandte Yella ein. »Wenn sie auf unsere Meinung Wert legen würde, hätte sie uns nicht vor vollendete Tatsachen gestellt.« Sie seufzte tief auf. »Ich bin sowieso die Letzte, die Mama Ratschläge erteilen kann. Wir geraten bei der kleinsten Kleinigkeit aneinander.«
»Wir müssen es wenigstens probieren«, sagte Helen.