Wie fand man den richtigen Moment für schwierige Gespräche und schlechte Nachrichten? Als Yella und Helen beim Ferienhaus eintrafen, begrüßten sie laute Musik und eine hämmernde Lichtorgel. Im Wohnzimmer tobte eine regelrechte Party.

»Da seid ihr ja endlich«, rief ihre Mutter hocherfreut. »Ich kann doch meinen Junggesellinnenabschied nicht ohne euch begehen.«

Gefeiert wurde mit Wellness, mundgerechten Heringshappen mit dicker Zwiebelauflage und holländischer Fahne, Käse- und Leberwurstwürfeln, die, wie es hier üblich war, in Senf getunkt wurden, eiskaltem Heineken-Bier, lautem Gesang, Gelächter und Musik.

»Wir brauchen euch«, rief Amelie begeistert.

Zu Yellas Verblüffung brachte Lucy ihrer Großmutter im frei geräumten Wohnzimmer Dance-Moves bei.

»Omas sind immer gut für Likes«, erklärte der Teenie.

»Ihr seid meine Hintergrundtänzerinnen«, erklärte Henriette mit fieberglühenden Wangen. »Ist ’ne TikTok-Challenge für Bräute mit ihren Brautjungfern.«

Henriettes Balance und Kondition ließen zu wünschen übrig, der Atem rasselte, aber sie war trotzdem voller Eifer dabei, die Schritte zu lernen und sich für ihre Enkelin vor der Kamera in Szene zu setzen.

Ihre Schwester unternahm einen halbherzigen Versuch, ihre Mutter zur Seite zu nehmen, doch Henriette Thalberg war nicht in der Stimmung für ernste Gespräche.

»Warum bist du immer so eine Spaßbremse, Helen«, sagte sie. »Kein Wunder, dass sich Paul in die Arbeit flüchtet.«

»Es ist wichtig, Mama«, sagte Helen.

»Wichtig ist, dass wir den Tag genießen«, sagte sie. »Ab heute wird in unserer Familie nur noch gefeiert.«

Henriettes Stimme klang, als ob das Glas Wein in ihrer Hand nicht ihr erstes war. Sie wirkte so ausgelassen und fröhlich wie schon seit Jahren nicht mehr. In ihrem Gesicht erkannte Yella die Spuren der alten Henriette wieder, von der auch Fleur berichtet hatte. Die kokette Frau, die bereits am Nachmittag Rosé schlürfte und sich in männlichen Blicken sonnte. Aller Druck schien von ihr abgefallen. Wann hatten die Schwestern zuletzt so mit ihrer Mutter herumgealbert und gelacht?

Yella erstickte fast an all den Einwänden, die in ihr tobten. Helen zog sie ins Badezimmer. Auch ihr waren inzwischen Zweifel gekommen.

»Vielleicht sind wir auf dem falschen Dampfer«, flüsterte sie Yella zu. »Haben wir wirklich die Verpflichtung, uns in das Leben und Lieben unserer Mutter einzumischen?«

»Er ist eine dubiose Erscheinung«, sagte Yella. »Sie muss das wissen.«

»Thijs tut ihr gut«, entgegnete Helen.

Dem konnte Yella kaum widersprechen.

»Hat nicht jeder das Recht, sich Illusionen hinzugeben?«, fragte Helen leise. »Vielleicht ist er ja ihre große Liebe.«

»Für wie lange?«, fragte Yella.

»Du willst aufgeben?«

»Versuch du, mit ihr zu reden«, sagte Helen erschöpft. »Ich kriege es nicht hin.«

 

»Nachtisch ist fertig«, rief Doro und dämpfte die Musik. »Es gibt vier in de pan.«

Ratlos fanden die beiden Schwestern sich wieder in der Küche ein. Yella blickte gerührt auf die pfannkuchenähnliche Eierspeise mit Apfel, die ihre Mutter abends oft auf dem Campingkocher zubereitet hatte. Vier Teigkleckse brutzelten einträchtig nebeneinander in einer Pfanne. Zu den fertigen Apfelküchlein gab es dicken holländischen Sirup und Puderzucker. Es schmeckte wie in den allerbesten Zeiten. Amelie teilte das Rezept sogar mit ihren Followern.

»Wir müssen öfter mal einen Mädelsabend veranstalten«, sagte Henriette gerührt. »Mit den Männern dabei wird es immer so unübersichtlich.«

Yella sah die Gelegenheit gekommen und holte den Bildband von Lee To Sang hervor.

»Schau mal, was wir gefunden haben«, fing sie zögerlich an.

Ihre Mutter legte das Buch zur Seite, ohne einen Blick hineinzuwerfen.

»Du erinnerst mich an was«, sagte sie und sprang auf.

»Für Leo«, sagte sie, als sie mit einem Paket in der Hand zurückkehrte. »Ich habe irgendwie nicht mehr die Nerven, mich auf kleine Kinder einzustellen.«

»Amelie hat ihn mit so einem japanischen Kintsugi-Set repariert«, erklärte Henriette Thalberg. »Sie versucht mir beizubringen, dass das Unperfekte einen besonderen Reiz besitzt.«

Sie rutschte ein bisschen beschämt auf ihrem Stuhl herum. »Wenn man nur noch existiert, um die Erinnerungen abzustauben, hat man etwas falsch gemacht. Sagt Thijs.«

»Leo wird sich sicher freuen, dass der Kopf wieder dran ist«, sagte Yella.

Sie versuchte ihre Mutter zu umarmen, aber die wehrte ab.

»Ich ziehe es dir vom Erbe ab«, antwortete sie stattdessen. »Damit deine Schwestern nicht denken, ich bevorteile dich.«

Yella war einen Moment irritiert. Aber sie wollte sich die Stimmung nicht verderben lassen.

»Ich habe auch was für euch«, rief sie fröhlich.

Endlich bot sich eine gute Gelegenheit, ihre Mitbringsel zu verteilen. Yella brauchte keinen besonderen Anlass, andere zu beschenken. Im Wohnzimmerschrank, den sie beim Sperrmüll gefunden und liebevoll restauriert hatte, gab es drei Fächer, in denen sie ihre Fundstücke sammelte: für die Adventskalender der Kinder, für David, ihre Schwestern und die nie enden wollende Reihe Kindergeburtstage. Wann immer ein Festtag oder Besuch anstand, öffnete Yella ihr Geheimfach und ging durch ihre Schätze, die sie auf Flohmärkten, in Secondhandläden, lokalen Geschäften oder in ihrem kreativen Freundeskreis

»Das ist so lieb von dir«, sagte ihre Mutter und betrachtete den Berg an Geschenken, alle fein säuberlich eingepackt in Leos und Nicks ausgemusterten Wasserfarbenbilder, die sich prima als Geschenkpapier eigneten. Gerührt strich sie über den Seidenschal, den Yella bei einem Musterverkauf für ihre Mutter entdeckt hatte.

»Er hat genau die Farbe deiner Augen«, erklärte Yella verlegen.

Ihre Mutter reagierte nicht. Kam das vom Tanzen, hatte sie sich verausgabt? Sie wirkte immer ein bisschen angestrengt hinter der fröhlichen Fassade. Ihr fiel der Anruf der Hausärztin ein. Sie wollte gerade nachhaken, als Helen begeistert aufschrie.

»Die Zukunftsküche, Letzter Rettungsanker zur Verhütung völliger Entartung der Menschheit«, las sie amüsiert den Titel des antiquarischen Buchs vor.

»Das ist eins der ersten vegetarischen Kochbücher«, erklärte Yella ihr Geschenk für Helen.

»Es stammt aus dem Jahr 1900«, sagte Helen begeistert. »Ich bin neugierig, was man daraus heute noch lernen kann.«

Für Doro hatte Yella zwei riesige Gläser eingemachten Gemüses aus dem Bioladen um die Ecke mitgebracht, das Doro bei ihrem letzten Besuch so gut geschmeckt hatte. Lucy bekam einen Eimer grüne und rosa Aseli-Schaumkrokodile.

Dazu hatte sie für alle Honig von den Schwiegereltern mitgebracht. Amelie erhielt zusätzlich ein gerahmtes Porträt, das Leo von ihr gezeichnet hatte.

»Das ist wie Weihnachten«, seufzte Amelie.

»Ein gutes Weihnachten«, ergänzte Yella.

»Jetzt bin ich dran«, sagte Doro und wies mit dem Finger auf Yella. »Ich habe was für dich.«

Yella wusste noch nicht so recht, was sie davon halten sollte, doch Doro beharrte darauf, dass sie mitkam. Normalerweise wartete ihre große Schwester darauf, dass man ankroch. Wer teilhaben wollte an Doros Leben, musste sich schon in ihre Richtung bewegen. Selbst bei Premieren nahm Doro an irgendeinem Tisch in der allerletzten dunklen Ecke Platz und empfing dort Kollegen, Freunde, Fans und Presse. Nie im Leben würde sie sich unter das Partyvolk mischen oder gar in die Schlange am Buffet einreihen. Stattdessen fand sich immer ein Bewunderer, der ihr einen gefüllten Teller vorbeibrachte.

Yella hatte keine Lust, Doros Fangirl zu spielen. Seit ihrem Streit war sie jedem Gespräch aus dem Weg gegangen. Sie war mehr auf der Hut denn je und hatte nicht vor, ihrer großen Schwester so einfach zu vergeben.

»Komm einfach mit«, sagte Doro. »Danach kannst du wieder sauer auf mich sein.«

Skeptisch folgte Yella ihrer Schwester in das Balkonzimmer. Zu ihrer Überraschung ging es nicht um Henriette oder ihren Streit.

»Das habe ich in einem Londoner Schaufenster gesehen und gedacht, der ist etwas für dich«, sagte sie.

War das wieder einmal eine von Doros berühmten Entschuldigungen? Yella fand einfach kein Rezept, mit Doros unberechenbaren Launen umzugehen. In ihrer Familie hatte es immer eine Schwester gegeben, die schneller lesen konnte, besser in der Schule war, erfolgreicher beim Sport und beliebter bei den Jungs oder ein besseres Verhältnis zu Vater und Mutter hatte. Wie war das möglich? Sie entstammten demselben Genpool und waren doch so unterschiedlich. Hatte Thijs nicht darüber gesprochen, was man vom Meer und den Wellen lernen konnte? Der einzige Fixpunkt im Leben war, dass alles ständig in einer Übergangsphase begriffen war. Auch das Verhältnis zu Doro.

»Weißt du, dass ich mir früher oft gewünscht habe, mehr wie du zu sein«, sagte Doro versöhnungsgesinnt. »Geduldiger, aufmerksamer, liebevoller.«

Yella rang mit sich. Vielleicht war es nicht alleine Doros Schuld, dass es so schwierig zwischen ihnen war. Als Kind hatte sie Doro in allem nachgeeifert und sich sehnsüchtig gewünscht, so selbstbewusst zu sein wie die große Schwester. Später wollte sie sich krampfhaft absetzen, einfach nur anders sein, um sie selber zu werden, und blieb auf der Suche nach ihrer eigenen Nische gefangen in Doros Netz. Die Gefühle, die sie ihrer großen Schwester entgegenbrachte, schlugen ebenso schnell um wie das Wetter in Holland. Es war schwer, neben Doro zu bestehen. Irgendwie hatte sie sich immer in Konkurrenz zu Doro gesehen, als ob die Aufmerksamkeit der Eltern ein

»In einem bist du mir sehr ähnlich. Du bist mindestens genauso anstrengend wie ich«, sagte Yella ehrlich. »So viel Applaus, wie du brauchst, gibt es nicht im Leben.«

Doro beharrte darauf, dass sie den Anzug anprobierte: »Es wird Zeit, dass du aus deiner Ecke rauskommst und gesehen wirst.«

Yella gab nach und schlüpfte in den außergewöhnlichen Zweiteiler. Mit ein paar geschickten Handgriffen drapierte Doro Yellas Haare zu einer Knotenfrisur, schminkte ihr die Lippen und hielt ihr ihre blauen Heels hin.

Vorsichtig trat Yella vor den Spiegel. Sie erkannte sich kaum wieder. Der schmal geschnittene Anzug passte perfekt, als wäre er ihr auf den Leib geschneidert. Gewöhnt an Mom-Jeans, pflegeleichte T-Shirts (oftmals ungebügelt), bequeme Schuhe und eilig zusammengebundene Haare erkannte sie die sexy Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, kaum wieder.

»Wird Zeit, dass du mal wieder an was anderes denkst als an deine drei Kinder«, sagte Doro, die sich selbst jetzt einen Seitenhieb nicht verkneifen konnte.

Yella schluckte schwer. Bei Doro wusste man nie, woran man war. Sie konnte nett und aufmerksam sein und im nächsten Moment ein Scheusal.

Aber diesmal war Yella schneller. »Drei Kinder?«, rief sie und schlug die Hände schützend über ihrem Bauch zusammen. »Sieht man schon was? Ich dachte, wir könnten die Schwangerschaft noch ein bisschen geheim halten.«

»Es sind Vierlinge, alles Mädchen«, setzte Yella noch einen obendrauf, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrach.

Das Sticheln gehörte zu Doro wie das Amen in der Kirche. Vielleicht half es, nicht bei jeder verbalen Attacke sofort an die Decke zu gehen.

»Erwischt«, sagte sie und verließ grinsend das Zimmer. Endlich einmal ein Punkt für sie, gekrönt von einem großartigen neuen Outfit.