Ihr Übermut währte nicht lange. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, stellte sie fest, dass die Party ein überraschendes Ende gefunden hatte. Ihre Mutter, plötzlich aschgrau und schwankend, verabschiedete sich hastig in ihr Hotel.
»Es war ein bisschen viel«, entschuldigte sie ihre Entscheidung, so überstürzt aufzubrechen.
Yella stützte sie, während sie sich schwer atmend, am Rande ihrer Kräfte, nach draußen schleppte.
»Das Taxi muss jeden Moment da sein«, sagte sie und ließ sich erschöpft auf die Gartenbank sacken. »TikTok ist nichts für alte Knochen«, witzelte sie.
Yella rutschte neben sie. Wenn es eine Chance gab, mit ihrer Mutter zu sprechen, dann war der Moment jetzt gekommen.
»Ich muss dir was sagen«, fing Yella an. »Es ist wichtig.«
»Wir beide hatten es in der letzten Zeit nicht immer leicht miteinander«, sagte ihre Mutter schuldbewusst.
»Es geht nicht um mich«, sagte Yella.
»Doch, darum geht es«, widersprach Henriette. »Manchmal denke ich, unsere Probleme liegen daran, dass wir beide einen Fehlstart hatten. Schon bei deiner Geburt hättest du mich fast umgebracht. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, und du hast mich volle drei Monate angeschrien. Dein Vater ist beinahe verrückt geworden.«
»Ich war ein Baby«, sagte Yella. »Ich hatte vermutlich Koliken.«
Aber so einfache Erklärungen akzeptierte ihre Mutter nicht.
»Heute weiß man mehr über Depressionen, aber damals dachte ich, meine negativen Gefühle sind meine Schuld. Doro war so ein einfaches und sonniges Kind, und plötzlich drehte sich alles um dich. Ich konnte nicht mehr arbeiten, nicht mehr reisen, nicht mehr mit deinem Vater ausgehen, nichts. Ich dachte immer nur: Das erste Kind läuft mit, mit dem zweiten sitzt du in der Falle.«
Je weiter Henriette ausholte, um den schwierigen Start zu rekapitulieren, umso mehr begriff Yella, warum ihr Verhältnis zur Mutter sich manchmal so schwierig gestaltete. Henriette hatte das Gefühl, sich für Yella geopfert zu haben: Alles hatte sie für dieses Kind aufgegeben: ihren Beruf als Stewardess, ihre Gesundheit, ihre Zukunftspläne. Und Yella dankte es ihr nicht damit, das anhängliche, schöne, begabte und rundum perfekte Kind zu sein, mit dem sie glänzen konnte.
Ihre Mutter lachte glockenhell, als sie ihr betroffenes Gesicht bemerkte.
»Das ist doch nichts Persönliches, Dummerchen«, sagte sie. »Das geht nicht gegen dich. Aber wenn ich noch mal vor der Wahl stände …«
Sie ließ offen, welche ihrer Lebensentscheidungen sie damit meinte. Yella schluckte. Eben war sie noch drauf und dran gewesen, mit ihrer Mutter über deren zukünftigen Mann zu sprechen, jetzt musste sie erst mal verdauen, was ihr gerade klar geworden war. Machte ihre Mutter sie insgeheim dafür verantwortlich, dass ihr Leben nicht das große Abenteuer geworden war, das sie sich erträumt hatte?
»Ich habe viel zu spät begriffen, worum es im Leben wirklich geht, Yella«, sagte sie. »Mach nicht denselben Fehler wie ich und binde dich wegen der Kinder an den falschen Mann.«
»Den falschen Mann?«, wiederholte Yella empört.
»Die Ehe mit deinem Vater war kompliziert und meine zweite Hochzeit von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich dachte wirklich, dass er euch eine stabile Basis bieten kann.«
Ihre Mutter vermied es, den Namen auszusprechen, als könne sie ihren Exmann auf diese Weise aus dem kollektiven Gedächtnis der Familie Thalberg löschen.
»Er hieß Bernhard Seitz, und wir konnten ihn nicht ausstehen«, sagte Yella.
»Ihr habt es ihm schwer gemacht«, sagte Henriette. »Vielleicht hätten wir eine Chance gehabt, wenn ihr ihm gegenüber ein bisschen offener gewesen wärt.«
»Unser Vater war gerade gestorben«, sagte Yella.
Ihre Mutter sah sie an, als hätte sie ihr eine Ohrfeige verpasst.
»Ich war in Trauer«, sagte Henriette. »Ich war hilflos. Ich habe mir nicht zugetraut, alles alleine hinzubekommen.«
Das Taxi fuhr vor. Yella geriet in Panik.
Ihre Mutter erhob sich schwankend. Einen Moment dachte Yella, sie würde umfallen.
»Man sagt immer, dass eine Mutter keine Lieblingskinder haben darf. Aber das stimmt nicht. Du warst schon immer mein Sorgenkind, Yella. Und Sorgenkinder liebt man ganz besonders.«
Yella spürte, wie plötzlich Wut in ihr hochkochte. Sie empfand die Worte ihrer Mutter als Verrat an den Schwestern. Hatte sie nicht Helen auf ähnliche Weise eingelullt?
»Du hast was Besseres verdient, Yella«, sagte sie. »Du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein. Warte nicht, bis es zu spät ist.«
Yella war so erschlagen von den Vorwürfen, dass sie sich nicht mehr wehrte, als ihre Mutter das Taxi bestieg und davonrauschte.