Das Fest war eindeutig vorbei und Amelie hellwach. Yella verschwand türenknallend in ihr Zimmer, ohne irgendwem zu verraten, was draußen zwischen ihr und ihrer Mutter vorgefallen war, Helen verzog sich ins Bett, und Doro musste noch arbeiten. Amelie starrte auf das Display ihres Telefons und wunderte sich über die Vielzahl von Nachrichten. Normalerweise freute sie sich, wenn ihr Postfach überquoll, jetzt hinterließ die Fülle neuer Follower einen schalen Beigeschmack. Was nutzte es ihr, in der virtuellen Welt Erfolg zu haben, wenn ihr wirkliches Leben sich so leer anfühlte? Es war wie immer. Sie hatte dem Aufenthalt in Bergen mit so viel Enthusiasmus entgegengefiebert. Sie hatte Pläne gemacht, was sie mit den Schwestern unternehmen und besprechen wollte, doch mit dem Moment, in dem die anderen auftauchten, wurde sie quasi unsichtbar. Keine ihrer Schwestern schien sich sonderlich für sie zu interessieren. Und ihre Mutter sowieso nicht. Da konnte sie tausendmal behaupten, dass sie eine ganz besondere Verbindung mit ihr verspürte. Amelie hatte sich noch nie wie ein Lieblingskind gefühlt, sondern immer nur wie das fünfte Rad am Wagen. Sie unterstützte ihre Schwestern, wo sie nur konnte, und wurde trotzdem nie wirklich ernst genommen. Fiel überhaupt irgendjemanden auf, dass sie auch noch da war? Doro stellte ihr nie auch nur eine einzige Frage, und Yella und Helen

Die geheime Veranstaltung fand im Hinterzimmer eines Surfladens statt. Der plötzliche Lichtschein lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden Richtung Tür. Der halbe Raum winkte ihr begeistert zu. Anscheinend hatte sie am Vortag beim Kartenverkauf ganze Arbeit geleistet. Amelie trat in ein Universum mit lauter bekannten Gesichtern. Es tat Amelie so gut, endlich wahrgenommen zu werden. Ohne ihre Schwestern fiel es ihr wesentlich leichter, jemand oder einfach nur sie selbst zu sein.

Die zumeist jungen Besucher drückten sich auf improvisierten Bierbänken herum und nippten an ihren mitgebrachten Getränken. Es war nicht schwer, Ludwigs kräftige Gestalt im Publikum auszumachen. Er überragte sämtliche Besucher um einen Kopf und hatte am Rand Platz genommen, wo er niemanden den Blick blockierte. Paul öffnete gerade ein neues Bier und prostete allen Nachbarn zu. Ganz offensichtlich hatte er sich längst mit den anderen Gästen der Veranstaltung angefreundet.

Mit einem wohligen Gefühl im Magen nahm Amelie auf einem Karton T-Shirts Platz.

»Hallo, mein Name ist Patrick, ich komme aus Holland, und wir müssen miteinander reden«, begann er sein Progamm, das sich der Steigung des Meeresspiegels und der »Enthollandisierung der Erde«, wie er es nannte, widmete.

»55 Prozent der Niederlande liegen unter dem Meeresspiegel«, warnte er. »Wenn alle Klimaprognosen wahr sind, geht es nicht mehr darum, ob, sondern wann die Niederlande im Wasser verschwinden. Unsere Regierung hat eine Website ins Leben gerufen, wo wir nachschauen können, wie tief im Wasser wir enden: Overstroomik.nl. Überfluteich.nl. Wenn man da unseren Standort eingibt, kann man sofort sehen, was einen erwartet.«

Er legte eine dramatische Pause ein, bevor er das Ergebnis verkündete: »Hier im Laden müssen wir mit einem halben Meter Hochwasser rechnen.«

Die Besucher blickten suchend um sich, als wollten sie einschätzen, was diese Menge Wasser bedeutete.

»Da steht auch, dass es noch lange dauern kann, bis es so weit ist. Aber es kann auch schon morgen passieren. Liebe Leute, was macht ihr hier noch?«

Ludwigs dröhnendes Lachen übertönte alle und alles. Natürlich machte niemand Anstalten zu gehen. Stattdessen kreisten Bier und Pizza gesellig weiter. Selbst Paul, der äußerlich so gar nicht in den Surfladen passen wollte, amüsierte sich königlich.

»Man fragt sich oft, warum die Holländer so riesig sind.

Er zog einen Zettel aus der Hosentasche und sagte die Sätze auf.

»Haben Sie das T-Shirt auch in Orange?«

»Nein, das ist nur für den Eigenbedarf.«

»Können wir vierunddreißig Zimmer nebeneinander bekommen?«

»Eine Niederlage gegen Togo ist wirklich schade.«

»Kann ich Sie mit meinem oranje Schlumpfoutfit ein wenig aufheitern?«

Er legte eine Pause ein.

»Aber was macht ihr, wenn siebzehn Millionen orange Klimaflüchtlinge in Wohnwagen auf der linken Fahrbahn nach Deutschland kommen? Da fragt doch jeder Deutsche: Schaffen wir das?«

 

Nach Patrick übernahm Philomena das Mikrofon. In ihrem Anzug sah sie aus wie ein Klempner, der sich auf die Bühne verirrt hatte.

»Ich wollte euch eigentlich etwas erzählen über mein Liebesleben«, sagte sie. »Aber jetzt bin ich doch beunruhigt.«

Sie setzte sich auf den Stuhl auf der Bühne, zog ihr Handy heraus und fing an, darauf herumzutippen.

»Die Website gibt es wirklich«, sagte sie verblüfft. »Ich habe meine Postleitzahl eingegeben, und da steht es: Dein Standort wird 1,5 Meter überflutet.«

Sie sah erschrocken ins Publikum.

Sie stand auf, ließ das Licht anmachen und sah fragend ins Publikum.

»Haben wir heute Abend deutsche Gäste unter uns?«, fragte sie.

Etwa die Hälfte der Hände ging nach oben.

»Ich glaube, ich muss das mit dem Dating ein bisschen anders anpacken«, sagte sie. »Wer von Ihnen würde mich bei sich aufnehmen?«

Amelie meldete sich spontan. Alle lachten. »Du kannst zu mir kommen. Ich nehme gerne eine Holländerin auf.«

 

»Das war ein schöner Abend«, seufzte Ludwig glücklich, als der letzte Comedian die Bühne verlassen hatte.

»Wir sollten alle mehr lachen!«

»Oder öfter heiraten«, sagte Amelie.

Paul schien die Bemerkung nicht zu gefallen, denn er stand wie von der Tarantel gestochen auf.

»Ich wollte den Kabarettisten noch was fragen«, sagte er und verabschiedete sich in Richtung Patrick.

»Wir sollten uns an den Holländern ein Vorbild nehmen. Wir sollten drohende Katastrophen ernst nehmen. Und gleichzeitig auch mal lachen«, sagte Ludwig, der für seine Begriffe geradezu redselig war. Auch er hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Sein Blick flog zu dem Tisch mit den Fanartikeln.

»Ich brauche noch ein T-Shirt für morgen«, sagte er. »Ich bin aus allen Hemden rausgewachsen.«

Amelie, plötzlich alleine, blickte zu Philomena, die dabei war, die Klappstühle wegzuräumen, und immer näher kam.

Amelie nickte.

»Woher weißt du, ob wir zusammenpassen?«, fragte Philomena.

»Wenn ich wissen will, wie sehr ich jemanden mag, stelle ich mir immer vor, wie es ist, mit ihm im Lift stecken zu bleiben.«

»Ich probiere Dinge lieber aus«, wandte Philomena ein. »Dann merke ich automatisch, was ich denke.«

»Und was denkst du jetzt gerade?«, fragte Amelie.

»Dass wir einen Lift suchen könnten«, sagte Philomena.

»Nein.«

»Nein?«

»Ja.«

»Wieso?«

»Die Erfahrung zeigt, dass ich mit Leuten, mit denen ich mir vorstellen kann, im Lift stecken zu bleiben, am allerwenigsten zusammenwohnen kann. Bis jetzt ist es immer schiefgegangen.«

»Es klingt kompliziert, du zu sein«, sagte Philomena.

Amelie winkte ihren beiden Schwagern zu, die gerade den Surfladen verließen.

»Es ist spät«, sagte sie.

»Ich habe noch was für dich«, sagte die Taxifahrerin und hielt ihr eine Tüte hin.

»Schon wieder Kekse?«, fragte Amelie kichernd.

»Schau rein«, sagte Philomena.

Ihre Hände berührten einander, als sie nach dem rätselhaften Paket griff. War das Zufall? Absicht? Wichtig? Sie fühlte sich, als hätte sie Prosecco auf nüchternen Magen getrunken.

»Ich habe extra Bargeld für dich geholt«, sagte Philomena.

»Du? Bezahlst? Mich?«, fragte Amelie überrascht.

»Deine Provision«, sagte sie.

»Ich habe nur ein paar Kekse verteilt.«

»Wir hatten noch nie so viel Publikum«, erklärte Philomena. »Männliches Publikum. Junges männliches Publikum.«

Amelie lachte: »Muss an der Mannenliefde liegen.«

»Wir haben den ganzen Sommer Vorstellungen geplant«, sagte Philomena. »Wir könnten einen Promoter gebrauchen, der sich mit Cookies auskennt. Im Leben und im Internet.«

»Ist das ein Angebot?«, fragte Amelie.

»Eine Zwischenlösung«, sagte Philomena. »Bis das Wasser kommt.«

Amelie lachte. »Erst mal meine Mutter verheiraten«, sagte sie. »Dann sehen wir weiter.«

 

Als Amelie vor die Tür trat und die kühle Nordseeluft einatmete, schickte sie ein Stoßgebet gen Himmel. Vielleicht war Doro am Ende doch eine gute Kupplerin. Hätte ihre Schwester das Taxi bezahlt, hätte Amelie Philomena nie kennengelernt. Und das war viel mehr wert als die 80 Euro, die sie verloren hatte. Auf einmal schien ihr das Morgen sehr viel wichtiger als das Gestern.