Yella brauchte die paar Hundert Meter zum Strand, um die Neuigkeiten zu verarbeiten, bevor sie sich traute, ihrer Familie gegenüberzutreten. Ein halbes Leben war sie ihrer Mutter hinterhergelaufen, in der Hoffnung, ihr näherzukommen. Die Frage war, ob sich das je ändern würde.
Zu allem Überfluss hatte Henriette ihr ein fragwürdiges Geschenk hinterlassen, indem sie sich Yella anvertraut hatte. Waren es nicht genau diese Heimlichtuereien, die die Familie vergifteten? Gab es noch mehr Geheimnisse, die sie wie Bomben bei ihren Schwestern deponiert hatte? So wie sie Doro in ihre Hochzeitspläne eingeweiht hatte?
Mama ist krank, hämmerte es in ihrem Kopf. Und sie war fest entschlossen, die wahre Geschichte darüber, was sie wirklich mit Thijs verband, mit ins Grab zu nehmen.
»Jeder Mensch hat ein Recht auf Geheimnisse«, sagte Dr. Deniz immer.
Autos rasten an ihr vorbei, fröhliche Fahrradfahrer holten sie ein. In der Ferne entdeckte sie bereits den Strandaufgang, als sie einen verschwommenen bunten Fleck neben dem grauen Asphalt wahrnahm. Jemand hatte an einem der verkrüppelten Bäume, die an dieser Stelle die Straße säumten, frische Blumen im Straßengraben niedergelegt. An dem Strauß schaukelte ein kleines Grußkärtchen im Wind. Ich vermisse dich, Papa. Yella erkannte die Handschrift ihrer Schwester Amelie. Mit einem gewaltigen Stich im Herzen erfasste sie die Bedeutung. Hier, in der letzten Kurve auf dem Weg zum Strandpavillon, war ihr Vater bei regennasser Straße und Windstößen um hundert Kilometer vom Weg abgekommen und mit dem Auto gegen einen Baum geknallt.
Eine Familie radelte an ihr vorbei. Der Wind wehte das fröhliche Geschnatter der Mädchen an ihr Ohr. Sie traten im Gegenwind in die Pedale. Ihre Helme ließen darauf schließen, dass es sich um Touristen handelte. Das Mädchen erinnerte sie an ihr früheres Ich.
Und dann strömten die Tränen. Sie war nie die Yella geworden, die sie ohne den verdammten Unfall hätte werden können. Von Schmerz überwältigt, kauerte Yella am Straßenrand nieder und weinte bitterlich. Um die Mutter, die nicht mehr lange an ihrer Seite sein würde, und um den Vater, den das Schicksal viel zu jung aus ihrem Leben gerissen hatte. Ihm war nicht vergönnt gewesen, seine vier Mädchen als erwachsene Frauen zu erleben, er hatte nie ihre Partner kennengelernt und alle Enkelkinder verpasst. Es war ihm auch vieles erspart geblieben: Altwerden, graue Haare, Knieprobleme, ein Bauch, der wie Soufflé über den Hosenbund hängt, Situationen, in denen einen bereits die Art, wie der Partner morgens den heißen Kaffee schlürft oder das Ei köpft, zur Weißglut bringt, das Auffliegen von Affären, die Scheidung. Yella weinte um ihre allzu schön gefärbten Erinnerungen an eine intakte Familie. Sie hatte noch immer keine wirkliche Vorstellung davon, was sich damals zwischen ihrer Mutter und Thijs und möglicherweise auch ihrem Vater abgespielt hatte. Nur eins wusste sie garantiert. Es war gravierend genug, auch zwanzig Jahre später noch darüber zu lügen. Zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie, dass die Katastrophe auch dann eingetreten wäre, wenn der Unfall nie passiert wäre. Ihre Mutter war schwierig und egozentrisch. In ihrem Leben waren die Männer wichtiger gewesen als ihre Kinder. Immer schon. Vermutlich hatte der Unfall nur beschleunigt, was im Kern bereits angelegt war: das Scheitern der Ehe ihrer Eltern und das Auseinanderfallen der Familie. Es war an der Zeit, sich zu verabschieden. Von alten Vorstellungen, von der heilen Welt der Sommerschwestern, die nur in ihrer Erinnerung existierte, von der alten Yella.