Sie kamen gerade noch rechtzeitig. Yella und ihre Familie rutschten auf die leeren Stühle in der letzten Reihe. Neugierig sah sie sich um. Strandpavillon Zeezicht ruhte auf Holzstelzen, von beiden Seiten von Dünen umrahmt. Das Hellblau und Mattweiß des malerisch blätternden Anstrichs passte sich perfekt in die Kulisse aus Meer und Himmel ein. Das Gebäude sah so improvisiert aus, als hätte der Eigentümer Treibgut verarbeitet, war aber vermutlich das Ergebnis geschickter Verblendung. Oben konnte man, geschützt vor dem rauen Nordseewind, hinter großen Glasscheiben die Aussicht aufs Meer genießen, unterhalb im Sand erhob sich ein Podest mit einem Holzbogen voller Blüten, künstlicher Schmetterlinge und bunter Lampions, der das Brautpaar umschloss wie der Rahmen eines Gemäldes. Im intimen Halbrund, auf blauen und weißen Klappstühlen, hatte nicht nur die Familie Thalberg Platz genommen. Yella erkannte überrascht Fleurs Sohn, den Besitzer vom Pannenkoekenhuis, und ein paar verwegene Seebären, die aussahen, als hätten sie mit Thijs auf der Ölplattform gearbeitet. Selbst Thijs’ Exfrau, die sie aus dem Terrassenfilm kannte, war erschienen.

Im Hintergrund rollten die Wellen auf den Strand. Über der aufgepeitschten Nordsee zogen dunkle Wolken auf. Kündigte sich hier etwa Regen an? Yella zeigte versteckt nach oben, Doro zuckte gelassen die Achseln.

Yella lachte lauthals. Über ihre Bemerkung, vor allem aber darüber, dass es Doro gelungen war, mal wieder alle Schwestern zu überstrahlen. Ihr roter Anzug verblasste angesichts Doros Kleiderwahl. Sie trug einen schwarzen Frack mit knielangen Rockschößen, schmale Dreiviertelhosen, dazu Kummerbund, weißes Hemd und eine mit schwarz-weißem Graffito gestaltete Krawatte. Auf ihrem Kopf thronte ein altmodischer Zylinder, der sie fast so groß wirken ließ wie Ludwig. Doro hatte ihr Bestes gegeben, um sicherzugehen, dass sie herausstach. Neben dem auffälligen und unübersehbaren Paar saßen Paul und Helen in ungewohnter Nähe und gewohntem Outfit. Paul griff Helens Hand, und sie zuckte nicht zurück, was vielleicht ein erstes gutes Zeichen war.

Yellas Blick blieb hängen. Entgeistert starrte sie auf einen Platz zu ihrer Linken. Einen Moment glaubte Yella, zwischen den Hochzeitsgästen ihren Vater zu erspähen. Doch als sich die Gestalt nach vorne lehnte, erkannte sie, dass es ihre Schwester Amelie war. Sie hatte am Ende doch noch eine Entscheidung gefällt und war in eines ihrer Blumenkleidchen geschlüpft. Darüber trug sie den löchrigen Wollpullover ihres Vaters. Yella war offenbar nicht die Einzige, die heute einen Papatag hatte. Neben ihr saß eine über alle Ohren strahlende Philomena.

Yella spürte Leos kleine Hand, die sich in die ihre schob. Auf der anderen Seite kuschelte Nick sich an sie. Umgeben von ihren Lieben fühlte sich das Leben ganz leicht an.

Mit der nötigen Distanz, ohne über Gestern und Heute nachzudenken, bildeten Thijs und ihre Mutter ein schönes

»Ich habe ihn auf Video«, rief Lucy begeistert. »Das ist das Beste, was ich jemals für TikTok aufgenommen habe.«

»Was der Himmel zusammenführt, soll kein Dackel trennen«, nahm der Standesbeamte den Faden auf.

»Der ist gestern Abend im Surfladen aufgetreten«, sagte Ludwig voller Erstaunen. »Das ist ein Comedian.«

»Nicht nur. Er ist auch Standesbeamter«, raunte Philomena.

»Das ist ein Witz, oder?«, sagte Paul.

»Das ist Holland«, sagte Philomena. »Hier geht so was: Buitengewoon Ambtenaar van de Burgerlijke Stand nennt man so was. Wenn er keine Auftritte hat, kann man ihn für Hochzeiten buchen.«

»Und dann bleibt mir eigentlich nur noch eine einzige Frage«, rief der unkonventionelle Standesbeamte gegen den tosenden Wind an.

Er legte eine viel bedeutende Pause ein und ließ seinen Blick über die kleine Gemeinschaft gleiten, die sich am Strand versammelt hatte. »Hat irgendjemand vielleicht ein Aspirin?«

Philomena sprang auf, als wäre die Nummer abgesprochen. Jemand überreichte ein Glas Wasser.

Der Standesbeamte schluckte die Pille herunter.

»Noch jemand?«, rief er und wedelte mit der Verpackung. »Ich weiß, ich bin nicht der Einzige, dem diese Verbindung Kopfzerbrechen bereitet. Wenn man mit Thijs befreundet ist, bekommt man früher oder später Kopfschmerzen. Es sei denn, man hat einen Dickschädel wie Henriette.«

Henriette Thalberg lachte fröhlich.

»Nicht jeder, der heute auf dem Klappstuhl Platz genommen hat, ist glücklich. Die Hälfte kommt nur für die Häppchen. Aber man darf die Liebe nicht mit Erwartungen überfrachten. Vor allem, wenn man es mit Thijs zu tun hat.«

Yella staunte. Der Standesbeamte schaffte es, mit viel Humor ein lebendiges, vor allem aber ehrliches Bild von Thijs und ihrer Mutter zu zeichnen.

»Für unsere deutschen Freunde ist das manchmal schwierig nachzuvollziehen«, fuhr er fort, »aber wir Holländer sind auf dem Deich geboren, das prägt fürs Leben. Man bewegt sich auf einem schmalen Grat, der Wind pfeift von allen Seiten auf dich ein, und sobald du auch nur ein Stück vom Weg abkommst, geht es abwärts, in beide Richtungen. Man fällt. Und dann klettert man wieder hoch, und das Spiel beginnt von vorne.«

David schenkte Yella einen verschwörerischen Blick, als ob er ihr zu verstehen geben wollte, dass die Worte auch für sie galten. War das typisch holländisch? Das Scheitern mitzudenken? Es musste nicht alles perfekt sein, solange man wieder aufstand. Thijs jedenfalls lachte sein eigenes Versagen weg.

»Viele Ehepaare können nicht erwarten, dass die Gäste weg sind und sie die Geschenke auspacken können. Vor allem

Yella prustete. Der Mann hielt allen Ernstes eine Säge hoch.

»Thijs, Henriette: Wann immer ihr in Schwierigkeiten kommt, kauft einen Block Holz und macht ihn gemeinsam klein. Das geht nur im Austausch, Geben und Nehmen.«

»Willst du das?«, fragte Thijs laut.

»Ja«, sagte ihre Mutter laut und vernehmlich. »Ja, ich will.«

»Ja, ik wil«, antwortete schließlich auch er auf die zeremonielle Frage.

Seine Augen füllten sich mit Tränen. Zum Glück trug er zwei Taschentücher bei sich, das eine stammte aus der rückwärtigen Tasche seiner Hose und war für ihn bestimmt, das in seiner Reverstasche für Henriette. Merkwürdigerweise war es diese winzige rührende Geste, die Yella für ihn einnahm. Mehr noch als der Hochzeitskuss. Sie hoffte, dass Thijs es auf seine Art und in den Grenzen seiner Möglichkeiten ehrlich mit ihrer Mutter meinte.

»Ja, ik wil«, schrie er ein zweites Mal in den Wind, auf dass es jeder mitbekam.

Jubel brandete auf. Vom Strand klatschten wildfremde Zuschauer, die die Zeremonie beobachtet hatten.

 

Dem offiziellen Teil folgte die allgemeine Verbrüderung. Die Tatsache, dass Thijs Wiederholungstäter war, hielt niemanden davon ab, die ganze Familie Thalberg nach dem Jawort herzlich in ihrer Mitte aufzunehmen. »Man heiratet nicht das Mädchen, man heiratet die Familie«, erklärte der chronisch fröhliche Standesbeamte.

»Gefeliciteerd met je moeder en Thijs.«

Jeder beglückwünschte jeden, wie Yella es bereits von holländischen Geburtstagen kannte. Selbst ihre Mutter ergriff das Wort und bedankte sich bei ihren Töchtern. »Ihr habt mir das Leben gerettet. Ohne euch wäre ich nicht mehr da. Ohne euch hätte ich aufgegeben.«

Sie wischte eine Träne weg.

»Das ist das Problem am Älterwerden. Es fällt einem auf, was man alles falsch gemacht hat. Man mag sich immer weniger. Wenn ich euch vier ansehe, hoffe ich, dass ich nicht alles falsch gemacht habe.«

 

Thijs hatte die Fanfare van de Eeuwige Liefde, Fanfare der Ewigen Liebe, eingeladen, ein Amsterdamer Straßenorchester, das aus Blechbläsern und Perkussionisten bestand, die mit Feuer und Leidenschaft alle Hochzeitsgäste nach dem Essen an langen feierlich geschmückten Tafeln von den Stühlen rissen.

Sie spielten alles von osteuropäischen über kubanische Klänge bis Klezmer. Thijs hätte keine passendere Musik auswählen können. Aufbruch und Abschied zugleich schwangen in den Liedern mit.

Schließlich griff Thijs selbst zum Mikrofon und sang einen Text von Woody Guthrie, den er für den Anlass ein bisschen angepasst hatte.

I’m gonna walk in this world

The best I can if I can

I am gonna talk in this world

I’m gonna love you in this world

The best I can …

Die Musik schwang mitreißend, aber auch ein bisschen melancholisch über den Strand, mischte sich mit dem Wind und verlor sich in den brechenden Wellen. Gänsehaut kroch über Yellas Körper, als ihr klar wurde, dass Thijs in dieser Sekunde jedes Wort meinte. In der Luft vibrierte das aufrechte Versprechen von jemandem, der um sein Scheitern wusste und dennoch am Morgen wieder aufstand. Seine Absichten klangen so ehrlich, und Yella wollte so gerne an seine Botschaft glauben. Und daran, dass die Ärzte eine Karte auf der Hinterhand hatten. Tränen liefen über ihre Wangen, als sie auf einmal Doros Hand auf ihrer Schulter spürte.

»Es ist alles geregelt«, sagte sie. »Selbst wenn sie ihn morgen loswerden will, hat sie finanziell nichts zu befürchten.«

»Mama hat Krebs«, sagte Yella. Sie war nicht bereit, sich zum Hüter der Geheimnisse ihrer Mutter aufzuschwingen. Ihre Schwestern verdienten die Wahrheit.

Doro nickte einfach nur: »Ich habe mir so was zusammengereimt. Das Krankenhaus, die vielen Untersuchungen, die widersprüchlichen Versionen, die Mail unserer Hausärztin …«

Sie hatte die Mutter in den letzten Tagen hautnah miterlebt, sie hatte ihre Atemnot gesehen und die Schmerztabletten in ihrer Handtasche entdeckt.

»Lass uns feiern«, sagte Doro. »Wer weiß, was morgen auf uns zukommt.«

»Es ist an uns, ihre Wünsche zu respektieren«, sagte Helen.

Yella nickte nur.

»Sie geben so ein schönes Paar ab«, seufzte Amelie.

Yella hoffte aufrichtig, dass ihre Mutter in ihrem neuen Ehemann fand, was sie gesucht hatte. Und dass die hastig geschlossene Ehe lange genug hielt. Sie spürte, dass sie bereits dabei war, Abschied zu nehmen. Vielleicht schon seit Jahren. Merkwürdigerweise hatte die Irrationalität ihrer Mutter auch etwas Befreiendes. All die mütterlichen Ratschläge, mit denen Yella überhäuft worden war, sagten wohl mehr über Henriettes Ängste aus als über Yella.

Was hatte Helen gesagt: »Ich will niemanden für mein eigenes Glück verantwortlich machen.«

Vielleicht hatte ihre Schwester recht. Es ging nicht darum, wie ihre Mutter ihr Leben bewertete. Es ging nicht um David und darum, ob sein Roman je fertig werden würde. Sie selbst war für ihr eigenes Glück verantwortlich.

Yella suchte seinen Blick. Er zwinkerte ihr zu und streckte ihr verlegen die Hände entgegen, um sie zum Tanz aufzufordern. Yella zog ihre Schuhe aus und schwebte auf bloßen Füßen mit David über den kühlen Sand, während die Sonne mit einem bombastischen Schauspiel aus Blau- und Rottönen hinter dem kilometerweit entfernten Windpark im Meer unterging.

»Warum haben wir nicht am Strand geheiratet?«, flüsterte David ihr zu.

Yella sah ihn überrascht an. »Soll das ein Antrag sein?«

Er grinste über das ganze Gesicht. »Nein«, sagte er.

»Gott sei Dank«, sagte Yella. »Ich glaube, für den Moment sind wir verheiratet genug. Der Stress fängt schon bei der Einladung an.«

Statt einer Antwort schmiegte Yella sich an ihn. Für einen Moment wünschte sie sich, ihn noch einmal wie vor Jahren zum ersten Mal zu sehen. Als sie sich herrlich fremd waren und noch nicht miteinander auskämpfen mussten, wer den Abwasch macht und den Müll runterträgt. Doch dann, zwischen den Umdrehungen, blickte sie stolz auf ihre beiden Jungs, die mit Lucy Marshmallows an den Feuerkörben rösteten. Diese beiden machten mehr wett, als sie vielleicht verloren hatte. Um keinen Preis der Welt würde sie die Zeit zurückdrehen.

Daneben stand Amelie, wie verknotet mit Philomena. Ihre kleine Schwester, die immer so schutzbedürftig wirkte, lehnte über ihr und versenkte ihre Hände in den Anzugtaschen der fröhlichen Taxifahrerin. Was die plötzliche Nähe bedeutete, wusste sie wohl selber noch nicht. Erst jetzt fiel Yella auf, wie wenig Zeit sie bislang für Amelie gehabt hatte. Sie nahm sich fest vor, sich in Zukunft mehr um ihre kleine Schwester, die so gerne in ihrer lauten Familie unterging, zu kümmern. Für heute hatte Philomena diese Rolle übernommen. Der Widerschein der zuckenden Flammen huschte über ihre glücklichen Gesichter. Yella träumte vor sich hin, bis ein energischer Stoß in die Seite sie aus dem Nachdenken riss. Doro! Natürlich! Ihre große Schwester verschaffte sich gemeinsam mit Ludwig Raum auf der sandigen Tanzfläche. Yella lachte einfach. Der gefährlichste Platz lag wie immer zwischen Doro und dem Licht der Scheinwerfer. Innerhalb kürzester Zeit bildete sich ein Kreis um das exzentrische Paar. Es war verblüffend zu sehen, wie unfassbar gelenkig Ludwig war. Er demonstrierte eindrucksvoll, dass es beim Tanzen kein bisschen

Liebe überströmte Yella. So war sie eben, ihre große Schwester: unmöglich und großartig zugleich. In diesem Moment begriff sie, was sie dieses einzigartige Meer lehren konnte. Die Nordsee lebte von Gegensätzen: von Ebbe und Flut, von Sonnenstunden und Sturmtief, von rauer Natur und lieblichem Licht, von Überlebenskampf und Strandfreuden.

Für einen winzigen Augenblick hielt die Zeit den Atem an und verwandelte sie wieder in die Sommerschwestern von einst. Jede gefangen im eigenen Leben, aber trotz aller Verschiedenheit auf ewig miteinander verbunden.

In diesem Moment ging eine Bildnachricht von Helen auf ihrem Telefon ein. Yella erkannte das Haus auf dem Foto sofort. Paul hatte die Villa mit dem großen Garten und dem unverwechselbaren Erker gefunden, die ihr Vater im letzten Jahr für die Familie gemietet hatte. Yella zoomte ein. Te huur. Vakantiewoning. Das Haus, genannt Villa Vlinder, wurde offensichtlich immer noch als Ferienhaus vermietet.

 

Yella sah sich suchend um. Wo um alles in der Welt war Helen abgeblieben? Von ihrer kleinen Schwester war nirgendwo eine Spur zu erkennen. Ebenso wenig wie von Paul. Ganz offensichtlich hatten sie einen sicheren Platz gefunden, wo niemand sie zum Tanzen auffordern konnte. Yella wertete die Tatsache, dass die beiden gemeinsam geflüchtet waren, als

Auf einmal wusste sie, was zu tun war. Das verlängerte Wochenende in Bergen schmeckte nach mehr. Sie wollte Leo und Nick die Kanäle mit den Schiffen zeigen, sie wollte mit ihnen im Wald Verirren spielen, morgens im Spülsaum nach Muscheln suchen, krentenbollen am Strand essen, im Meer schwimmen, fette Pommes in Mayo tunken und im Gegenwind durch die Felder radeln. Sie wollte ihre Söhne an ihren Kindheitserinnerungen teilhaben lassen. Sie wollte ihnen von ihrem Großvater erzählen und mit ihnen im Sand liegen und die Wolken beobachten. Was muss man tun, wenn man sich verirrt hat? Auf die Frage gab es tausend unterschiedliche Antworten. Eine davon war, an den letzten bekannten Ort zurückzukehren. Und David war herzlich eingeladen, sie zu begleiten, wenn es denn in seinen Arbeitsplan passte.

Es hatte keinen Sinn, darauf zu warten, dass er seinen Roman zu Ende brachte und das wirkliche Leben begann. Ebenso wenig sinnvoll war es, darauf zu warten, dass ihre Mutter die Familie vereinte.

Hast du schon Pläne für die großen Ferien?, schrieb sie zurück an Helen. Sollen wir das Haus mieten? Es sieht aus, als wäre es groß genug für ein paar Sommerschwestern.

Ja, ich will, schrieb ihre Schwester unerwartet schnell zurück. Helen hatte ihre eigene, quasiwissenschaftliche Erklärung dafür, wie die Familie Thalberg funktionierte: »Wir streiten, und wo Reibung ist, entsteht Wärme. Und die hält uns zusammen.«

Yellas Blick ging dankbar zurück auf die unendliche Weite des Meeres, das Freiheit und die Hoffnung auf etwas Neues versprach. Denn hinter dem Horizont lockten neue Ufer, neue Ziele, eine große weite Welt, die es für Yella noch zu entdecken gab. Ihre Mutter umschlang Thijs, enthusiastisch begrüßt von seinen Weggefährten, bis sie von den Hochzeitsgästen verdeckt wurde. Sie verschwand förmlich in ihrem neuen Freundeskreis und Leben. Aber wenn sie als Tochter nicht gefragt war, konnte sie alles dafür tun, eine gute Mutter, eine geduldigere Partnerin und bessere Schwester zu sein. »The best I can if I can.«

 

Als sie am Ende des Festes ihre erschöpften Jungs über die sandige Treppe die Düne hochtrugen und auf der Rückbank des Wagens zum Schlafen ablegten, war sie einfach nur glücklich. Wenige Minuten später tauchte die beleuchtete Ruinenkirche vor ihnen auf. Vier Tage war es her, dass sie dort in ihre eigene Vergangenheit eingetaucht war. Ihr Blick hatte sich verändert. Das Bauwerk spiegelte perfekt ihr eigenes Leben: die eine Hälfte Ruine, die andere Hälfte wiederaufgebaut und intakt. Das Nebeneinander von Ruine und Kirche wirkte, obwohl sie nie mehr zu ihrer eigentlichen Größe zurückfinden würde, wie ein harmonisches Ganzes. Wer die Kirche betrat, musste zwangsläufig durch die Trümmer hindurch. Aber genau das verlieh dem Gebäude seine Einzigartigkeit. Ohne den Ruinenteil wäre es eine Kirche wie viele andere auch, erst das Zusammenspiel von Zerstörung und Wiederaufbau erhob diese Kirche zu überregionaler Bedeutung.

»Du hattest Talent«, sagte er. »Du solltest damit weitermachen.«

Verblüfft packte sie ein ledergebundenes Buch aus. Yella erkannte ihr Notizbuch, das sie im Schreibkurs angefangen hatte, das Buch mit den Erinnerungen an ihren Vater. Es gab noch so viel, was sie nicht wusste. So viel, was sie herausfinden konnte. Wie hatte Thijs gesagt? »Die Wahrheit ist ein Haus mit vielen Räumen.« Sie und ihre Mutter bewohnten unterschiedliche Flügel. Ihre Wahrheiten über die Familiengeschichte würden sich vielleicht nie decken. Es war an der Zeit, sich von ihrer Mutter zu verabschieden und ihre eigene Geschichte zu erzählen. Sie wollte sich endlich erinnern, was in jener Augustnacht vorgefallen war. Im nächsten Sommer.