Yella hörte von fern bereits das Rauschen der Wellen. Nur noch wenige Hundert Meter trennten sie von ihrem Ziel. Der Trampelpfad vereinigte sich mit dem asphaltierten Fahrradweg, um nach ein paar Schritten an einer Steigung abrupt im goldgelben Sand abzureißen. An dieser letzten Düne war Endstation für die Radfahrer. Yella stutzte, als sie das blau-gelbe Fahrrad aus Amelies Instagram-Storys entdeckte. Ihr Herz machte einen glücklichen Hüpfer, bis sie realisierte, dass dieses auffällige Modell Dutzende Male vertreten war. Offenbar waren die Leihräder der niederländischen Bahn äußerst beliebt.

Enttäuscht wandte sie sich ab, als auf einmal wie aus dem Nichts neben ihr ein dunkler Schatten auftauchte.

»Wir sehen uns oben«, raunte ihr eine Stimme zu.

Sie fuhr herum und erkannte überrascht ihre kleine Schwester Helen, die sie angrinste.

»Wo kommst du denn her?«, rief sie erfreut.

»Erzähl ich dir oben«, rief Helen und zog in raschem Tempo an ihr vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen.

Auch sie hatte sich an das alte Familienritual erinnert, nach Ankunft erst einmal einen Blick auf das Meer zu werfen. Und das natürlich als erste der vier Sommerschwestern.

»Fang mich doch«, rief Helen gut gelaunt.

Yella mobilisierte ihre letzten Reserven und versuchte mit aller Macht, Helen einzuholen.

»Das ist unfair«, rief sie.

Energisch stemmte sie sich gegen den Wind, aber im weichen Sand war jeder Schritt mühsam und schweißtreibend. Sich auf dem beweglichen und unebenen Untergrund abzudrücken, war schier unmöglich. Der weiche Boden saugte alle Energie aus Yella und verschluckte ihre Füße, während Helen scheinbar mühelos den Hang nach oben strebte.

»Ich war nicht vorbereitet«, rief Yella ihr hinterher. »Und außerdem habe ich ein doppeltes Handicap. Ich habe zwei Kinder geboren.«

Helen lachte nur: »Das zählt als Vorteil. Du bist gewöhnt, jemandem hinterherzurennen.«

Yella hatte plötzlich der schwesterliche Ehrgeiz gepackt. Vielleicht erinnerten ihre Muskeln sich auch nur an frühere Wettrennen. Ein paar entgegenkommende Kinder sprangen entsetzt an die Seite und schauten ihr entgeistert hinterher.

Yella wagte einen Hechtsprung. Sie erwischte Helens Fuß. Ihre Schwester verlor die Balance und riss im Fallen Yella

»Spielverderber!«, empörte sich Helen.

»Das ist unfair«, japste Yella lachend. »Das gibt die Rote Karte.«

»Du spielst gemein«, sagte Helen.

Ihre Schwester kam als Erste auf die Beine. Doch der Sand zeigte sich mitleidlos. Helen kippte nach vorne, griff in den weichen Boden, rappelte sich wieder hoch. Ihr Fuß rutschte weg und bescherte Yella einen Schwall Sand mitten ins Gesicht. Sie hustete, sprotzte, keuchte und kramte nach dem Wasser. Helen ließ sich nieder, um zu warten, bis sie den Sand aus dem Mund gespült hatte.

»Das tut mir leid, Entschuldigung. Das wollte ich nicht.«

Aber da setzte Yella bereits wieder an. Sie war nun klar im Vorteil. Helen fuhr sofort auf, wollte hinterher, blieb jedoch mit dem Fuß im Sand stecken. Yella lachte. Eine Sekunde später flog ein eleganter Halbschuh an ihrem Kopf vorbei, dann ein zweiter. Helen hatte das Rennen aufgegeben.

Mit einer letzten Anstrengung erreichte Yella die Kuppe. Schwer atmend ließ sie den Blick schweifen. Die Aussicht überwältigte sie so sehr, dass ihr fast die Luft wegblieb. Die sich ins Unendliche erstreckende Nordsee, die tosenden Wellen, die sich schaumgekrönt auf dem goldgelben Strand brachen, rührten sie jedes Mal aufs Neue. Nur eine feine Linie trennte das tiefe Blau des Meeres vom Blau des Himmels, der zart mit

Die Welt lag ihr zu Füßen, und doch fühlte sie sich wie ein kleines Sandkorn im Universum. Eine wohlige Heimeligkeit stieg in ihr auf, als hätte ihr jemand eine Wärmflasche auf den Bauch gelegt. War es die besondere Farbe des Himmels, der in Holland weiter schien als an jedem anderen Ort der Erde, war es der eigentümliche Geruch des Meeres, das Rauschen der Wellen oder das Flüstern des Windes, der unaufhörlich durch das struppige Dünengras strich? Federleicht und widerborstig zugleich sorgte es dafür, dass die Scholle, auf der sie stand, nicht davonwehte.

Neben ihr sank Helen in den Sand.

»Du hast gewonnen«, sagte sie. »Glückwunsch.«

Ihre Sprache war genauso kühl und reduziert wie ihre Kleidung. Eine halbe Ewigkeit verharrten sie still und nahmen schweigend die Umgebung in sich auf, die mit so vielen Erinnerungen verbunden war. Der Westwind spülte unermüdlich weit gereiste Wellen, die von England herüberschwappten, an den Strand.

Zwanzig Jahre lang hatte Yella diesen Ort der Kindheit gemieden wie die Pest, die ganze Fahrt über hatte sie sich gefühlt wie ein Kaninchen, das sich freiwillig der Schlange ergab, jetzt durchströmte sie ein melancholisches Wohlbehagen. Warum konnte sie diesen flüchtigen Moment nicht einfangen wie ein Buddelschiff? Ab und an, wenn wieder mal alles schiefging, würde sie die Flasche entkorken und daran riechen. Yella konnte sich nicht sattsehen an den Wellen, die sich, angestachelt vom Wind, weit draußen auftürmten, anwuchsen, sich mit immer größeren zusammentaten und schließlich

»Warum haben wir nur so lange gewartet, bis wir uns hierhergetraut haben?«, fragte Yella bewegt.

Nirgendwo schmeckte die Luft so sehr nach Salz und Kindheit. Oder waren es die Tränen, die unaufhaltsam über Yellas Wangen rannen? Sie hatte Ferien an der Adria verbracht, war als Backpacker am Golf von Thailand unterwegs gewesen, hatte im Schwarzen Meer gebadet und Ostseestrände erkundet. Nichts ließ sich mit der herben Schönheit der Nordsee vergleichen. Der Anblick schmerzte, weil sie sofort an David und die Kinder dachte. Wie gerne hätte sie ihr Glück mit den drei Menschen, die ihrem Herzen am nächsten waren, geteilt.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du dich tatsächlich alleine auf den Weg machst«, sagte Helen.

»David wäre gern mitgekommen«, sagte Yella, als wäre sie zu einer Entschuldigung verpflichtet. »Aber es ging nicht wegen der Kinder.«

Das war eine gnadenlose Beschönigung. Die Auseinandersetzung um die Einladung und ihre Mutter hatte sich zu einer tagelangen Verstimmung ausgewachsen. Wie beim Boxen bereiteten sie sich in ihren jeweiligen Ecken auf die nächste Runde im Beziehungsstreit vor. Noch war die Luft nicht geklärt, aber Yella hatte beschlossen, ihre Beziehungsprobleme nicht vor der Familie auszubreiten. Sie starrte in die Wellen, als erforderten sie ihre gesamte Aufmerksamkeit.

»Ich habe Paul gar nicht erst gefragt«, sagte Helen. »Es reicht, wenn einer alle Pläne umwerfen muss.«

Helen starrte sie unverhohlen an, als wolle sie aus ihrem Gesicht herauslesen, was sie wirklich dachte. Yella fürchtete den sezierenden Blick und die scharfen Fragen ihrer jüngsten Schwester. Dabei wich die introvertierte und chronisch schweigsame Helen selbst allen Nachfragen über ihr Leben aus.

»Sie ist ein Vampir«, warf Doro ihr gerne vor. »Sie saugt alle aus und gibt nichts von sich preis.«

Ganz unrecht hatte sie nicht. Helen hatte Paul erst der Familie vorgestellt, als die beiden schon zwei Jahre ein Paar waren. Yella wäre beinahe vom Stuhl gefallen, als sie ihren ehemaligen Kommilitonen unter dem Weihnachtsbaum ihrer Mutter wiedertraf. Dabei hatte sie miterlebt, wie Paul, mit dem Yella zusammen Architektur studiert hatte, Helen bei einer Party in ihrer Berliner Studenten-WG kennengelernt hatte. Er hatte auf der Tanzfläche herumgestanden wie ein edles, aber falsch platziertes Möbelstück. Während sich eine ausgelassene Polonaise durch alle Zimmer schlängelte, war er auf den winzigen

»Unsere Mutter wird enttäuscht sein, dass er nicht mitgekommen ist«, sagte Yella. »Manchmal denke ich, sie steht mehr auf Paul als auf uns.«

Tatsächlich war Henriette Thalberg ein erklärter Fan von Helens Freund. Wie oft hatte Studienabbrecherin Yella sich das Lied schon anhören müssen? »Mein Schwiegersohn ist so begabt, so erfolgreich, er hat sich durchgebissen, er gibt nie auf.«

Helen war ebenso wenig verheiratet wie Yella, aber David hatte sich die Bezeichnung Schwiegersohn in den Augen ihrer Mutter ganz offensichtlich noch nicht verdient. Yella nahm die Lobeshymnen persönlich und wertete sie reflexartig als Kritik an ihrer eigenen Person. Paul hatte alles erreicht, was ihre Mutter sich für die Tochter wünschte. Und agierte außerdem als Helens Außenminister. Während Helen sich nicht in die Karten schauen ließ, war Paul der erklärte Liebling der gesamten Familie. Der Architekt, der sich für nachhaltiges Bauen engagierte, war im Gegensatz zu Helen äußerst kommunikativ und aufrichtig an allen Details der Familie Thalberg und der schwesterlichen Leben interessiert. Ein begnadeter Tänzer war er vielleicht nicht, dafür wirklich nett. Schade, dass er nicht dabei war.

»Was glaubst du, was es ist? Ist es etwas Gutes oder etwas Schlechtes?«, nahm Yella den Faden der Diskussion in der WhatsApp-Gruppe auf.

»Keine Ahnung«, sagte Helen.

»Du kennst unsere Mutter«, meinte Helen kryptisch.

Gespräche mit ihrer kleinen Schwester konnten sich ausgesprochen sperrig gestalten, denn Helen beteiligte sich grundsätzlich nicht an Small Talk, Klatsch, Tratsch und wilden Spekulationen.

»Ich hasse es, wenn sie uns herumkommandiert«, platzte sie auf einmal heraus. »Wir dürfen nicht mitreden. Weder beim Termin noch beim Ort. Und wenn wir Pech haben, müssen wir am Ende auch noch auf ewig dankbar sein.«

Yella staunte über die Wut, die so unvermittelt aus ihrer kleinen Schwester herausbrach. Verblüfft musterte sie Helen.

»Unsere Mutter führt ihr Leben, ich meines. Wir sprechen einander nicht so oft«, ergänzte diese.

»Amelie meint, das ist genau der Grund, warum sie uns alle wieder zusammenbringen will«, insistierte Yella.

Helen schwieg.

»Sie wird einen guten Grund haben, warum wir hierherkommen«, setzte Yella nach.

»Unsere Mutter hat selten gute Gründe für etwas«, sagte Helen.

Sie wagte auszusprechen, was Yella oft versuchte zu verdrängen. Helen machte keinen Hehl daraus, wie schwierig ihr Verhältnis zu ihrer Mutter war.

»Warum bist du überhaupt gekommen?«, platzte Yella irritiert heraus.

»Sie ist unsere Mutter«, sagte Helen.

Ihre Aussparungen waren beredter als jedes Wort, das sie hätte sagen können. Yella war oft genervt von ihrer Mutter,

»Ich weiß schon, warum ich kein Interesse habe, in der Vergangenheit herumzuwühlen«, sagte sie. »Ich habe keine Lust, mein Leben damit zu verschwenden, wütend zu sein.«

»Lass uns das Beste draus machen«, sagte Yella.

»Der Unfall war das Schrecklichste, was mir im Leben je passiert ist. Ich habe Jahre gebraucht, mich davon zu erholen. Ich habe keine Lust, in Erinnerungen an diesen Tag zu schwelgen. Was soll das bringen, im Gestern hängen zu bleiben?«

Yella seufzte auf. Das Gespräch lieferte einen Vorgeschmack darauf, was sie in den nächsten Tagen erwartete. Wie kompliziert würde es erst werden, wenn alle da waren? Vielleicht wäre sie besser in Berlin bei ihren drei Jungs geblieben.

»Lass uns zum Ferienhaus gehen«, sagte sie erschöpft.