»Da seid ihr ja endlich«, rief Amelie.
Sie rannte über den Gartenweg auf die Schwestern zu. Yella umarmte Amelie, die fast in ihren Armen verschwand. Der knielange Pullover, den sie über ihr Kleid gezogen hatte, verhüllte kaum, wie dünn sie war. Sie trug mehrere Lagen übereinander und wirkte immer noch grazil, während Yella sich in ihrer Nähe wie das leibhaftige Michelin-Männchen fühlte. Der Wind spielte mit Amelies langen blonden Locken. Ihr heller Winterteint, die großen Augen und die zierliche Gestalt ließen sie jünger und zerbrechlicher aussehen als in ihren Instagram-Filmen: eine wunderschöne Porzellanpuppe, die der Wind jeden Augenblick umreißen konnte. Selbst ihre Stimme klang so weich, als könne eine Böe sie mitnehmen. Kein Wunder, dass ihre kleine Schwester immer einen Pulk selbst ernannter Beschützer abwehren musste.
»So schade, dass Leo und Nick nicht da sind«, sagte Amelie mit Blick auf den Sandkasten und das Schaukelgerüst im Garten. »Ich hatte mich so gefreut, mit meinen Neffen Wasserkanäle zu buddeln.«
Es war merkwürdig, sobald man Kinder hatte, rutschte man automatisch in die zweite Reihe. Davids Eltern sahen in ihr vor allem den Fahrdienst, der die Enkel regelmäßig nach Potsdam kutschierte. Auch ihre eigene Mutter erkundigte sich bei ihren seltenen Telefongesprächen eher nach ihren Söhnen als nach Yellas Wohlergehen.
»Wir haben beschlossen, dass es nur Stress wäre für die beiden. Und für mich«, sagte Yella. »Ich wollte einfach mehr Zeit für euch haben.«
Sie klang, als hätten sie gemeinschaftlich entschieden, dass sie alleine nach Holland fuhr. Bislang war Yella vage geblieben, was David und die Jungs anging. Irgendwie hatte sie selber nicht glauben wollen, dass David seine Weigerung mitzukommen wirklich durchzog. Bis zuletzt hatte sie heimlich gehofft, wenn nicht sogar erwartet, dass er es sich anders überlegte und einlenkte. Vielleicht hätte sie eine plötzliche Krankheit erfinden sollen? Eine Erkältung hätte logischer geklungen und peinliche Nachfragen im Keim erstickt.
Zum Glück stellte Amelie keine weiteren Fragen, sondern wandte sich Helen zu, die ihre Zwillingsschwester mit einem ungelenken Handschlag begrüßte, als wäre sie eine entfernte Tante.
»Kommt erst mal rein«, sagte Amelie verwirrt.
Holland-typisch gestatteten die riesigen Fensterfronten einen Durchblick von der Straße bis in den hinteren Garten. Der Übergang zwischen drinnen und draußen war fließend.
»Hier fällt man mit der Tür ins Haus«, konstatierte Helen.
Sobald man den winzigen Windfang betreten hatte, stand man auch schon im offenen Wohnraum. Links lag eine offene Küche, deren Fensterfront auf den Garten und den Wald hinausging, rechts das Wohnzimmer Richtung Straße, in der Mitte ein offener Kamin. Ein endlos langer, schwerer Eichentisch, an dem sich ein stylish zusammengewürfeltes Sammelsurium Stühle versammelte, verband die beiden Wohnbereiche. Das Haus war in warmen Erdtönen eingerichtet, einfach, aber behaglich und, wie Yella feststellte, beneidenswert ordentlich. Keine flächendeckenden Lego-Kunstwerke, kein rumliegendes Spielzeug, keine Schulsachen, kein Leergut, keine Bügelwäsche, kein Frühstücksgeschirr, das noch weggeräumt werden musste. Selbst die imposante Seelandschaft in Öl, die die Wand im Wohnzimmer zierte, wirkte beruhigend. Auf dem Tisch leuchtete ein enormer Strauß Tulpen, es duftete nach Tee.
»Ich warte schon seit Stunden auf euch«, sagte Amelie.
Begeistert führte sie die Neuankömmlinge durch das Haus. Neben dem Waschbecken ging es in ein Nebenzimmer, das große Flügeltüren hatte und auf eine versteckte Terrasse hinausging. Im Zwischengeschoss befand sich das Badezimmer. Unter den enormen Dachbalken lagen drei weitere Räume, einer davon ein in Pastelltönen eingerichtetes Kinderzimmer. Die Wandfarbe erinnerte Yella vage an den Vanillepudding von Dr. Oetker, den ihre Jungs so liebten.
»Mama schläft im Hotel«, erzählte Amelie. »Das Haus ist nur für uns Kinder. Es war ihr zu viel Rummel.«
Zurück im Erdgeschoss hielt Helen verdutzt am Tisch inne, wo Amelie ihre mitgebrachten Fotos ausgebreitet und vorsortiert hatte. Mit undurchdringlicher Miene starrte sie auf die wiederaufgetauchten Aufnahmen.
»Ich erinnere mich an so wenig«, erklärte Amelie. »Vielleicht kommt meine Erinnerung in Gang, wenn ich die Orte identifiziere, an denen wir früher waren.«
Helen schüttelte den Kopf. »Man kann nichts aufwärmen. Weder eine alte Liebe noch ein Familiengefühl.«
Yella und Amelie tauschten einen verschwörerischen Blick. Helen war noch unzugänglicher als sonst.
»Dieses ist auf jeden Fall auf dem Campingplatz aufgenommen«, sagte Yella und wies auf eine Aufnahme ihrer Mutter, die sie vor dem Mobilheim zeigte.
»Mama war ein ganz schön heißer Feger«, sagte Amelie. »Schade, dass ich davon so wenig mitbekommen habe.«
Yella konnte dem nur zustimmen. Henriette Thalberg hatte früher selbst auf dem Campingplatz einen Hauch von Glamour verbreitet. In ihrem knappen korallenfarbenen Bikini sah sie einfach umwerfend aus.
»Und das Bein links ist von mir«, rief Yella. »Und dahinten im Planschbecken, das müsst ihr sein.«
In der Unschärfe konnte man die Zwillinge allenfalls erahnen.
Auf einem nächsten Foto blickte Henriette Thalberg neckisch zwischen den sommerlichen Strandlaken mit den charakteristischen Silhouetten von Jip und Janneke hervor. Die Figuren stammten aus einem niederländischen Kinderbuchklassiker und prangten exklusiv auf Produkten der holländischen Warenhauskette HEMA. Noch rührender als die alten Handtücher, die sie jedes Jahr aufs Neue begleitet hatten, war der kokette Blick ihrer Mutter, mit dem sie in die Kameralinse zwinkerte. Es war der Blick einer selbstbewussten Frau, die sich in ihrem Körper wohlfühlte und um ihre Wirkung wusste.
»Sexy«, sagte Yella.
»Hat unser Vater sie so aufreizend fotografiert?«, fragte Amelie. »Aus dem Bild spricht so viel Bewunderung und Liebe.«
Yella erinnerte sich nicht an diese sinnliche junge Frau, die so unbeschwert schien, als ob nichts ihr Glück gefährden könnte. Nach dem Tod von Johannes Thalberg war alles Verspielte von ihr gewichen. Henriette Thalberg stieg wenige Wochen nach dem Unglück wieder in den Beruf ein, unterstützt durch einen kooperativen Chef, der ihr erst eine Stelle in seiner Immobilienfirma anbot, dann seine Schulter und schließlich seine Hand. Gemeinsam eroberte das Paar das Kölner Parkett und die Welt: Dinnerpartys, gesetzte Essen bei einflussreichen Investoren, Theaterabende, Wellnesswochenenden mit den Tennisdamen, Rotary Club, Karnevalsverein, Golfurlaub ohne Kinder. Sämtliche Aktivitäten liefen bei ihrer Mutter unter dem Begriff »Netzwerk aufbauen«. Statt sich im holländischen Schmuddelwetter auf dem Zeltplatz zu vergnügen, setzte sie als die eine Hälfte des neuen Kölner Power-Paars auf Status und neureiche Freunde. Henriette Thalberg genoss die gesellschaftliche Anerkennung in vollen Zügen, war gut in ihrem Beruf und schlecht darin, ihre Töchter zu trösten. Die Härte, die sie sich selber abverlangte, strahlte auf ihre Kinder ab. »Wir müssen weitermachen«, wurde ihr Leitspruch. Nur nicht an schwierige Themen rühren. Ihre Allzweckwaffe, mit dem Tod des Vaters umzugehen, war das Schweigen.
»Die müssten doch längst da sein«, durchbrach Amelie plötzlich die Stille.
Es hing eine merkwürdige Stimmung im Raum. Yella fühlte sich wie beim Zahnarzt, während man angstvoll darauf wartete, aufgerufen zu werden. Sie suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Gesprächsthema.
»Wann habt ihr Mama zuletzt gesehen?«, fragte Helen.
»Vor zwei Monaten«, sagte Amelie.
Sie scrollte durch ihre Handyfotos, bis sie bei einem aktuellen Porträt ihrer Mutter hängen blieb, das im Wohnzimmer aufgenommen worden war.
»Sie trägt die Haare anders«, stellte Helen fest, die einen untrüglichen Sinn für Details hatte. »Und sie hat umgeräumt.«
»Sie räumt schon seit Monaten auf. Erst den Dachboden, jetzt unten. Sie hat alle Klamotten aus ihrer Immobilienzeit weggegeben.« Mit der zweiten Ehe hatte auch ihre Karriere in der Firma ihres Mannes geendet.
»Sie sieht nicht krank aus«, meinte Yella.
»Sie war geradezu aufgekratzt«, erzählte Amelie.
Yella wischte weiter und erschrak bei einer Aufnahme vom Grab ihres Vaters, der im Thalberg’schen Familiengrab auf dem Kölner Melaten-Friedhof ruhte. Vor dem monströsen Gedenkstein erstreckte sich ein bunter Tulpenteppich.
»Ich habe ihm ein Minifeld gepflanzt«, erklärte Amelie. »Dann hat er ein Stückchen Holland bei sich.«
Yella schluckte schwer.
»Seine Eltern würden sich im Grab umdrehen, wenn sie das Durcheinander sehen könnten«, versuchte sie einen Scherz.
Der Gedanke, dass Amelie ihren strengen Großeltern, deren Garten wie am Reißbrett entworfen schien, ein anarchistisches Tulpenfeld aufs Grab gezaubert hatte, amüsierte sie.
»Ich erinnere mich kaum an seine Eltern«, sagte Amelie traurig.
»Du hast nichts verpasst. Sie hielten weder viel von ihrem Sohn noch von uns«, mischte Helen sich plötzlich ein.
»Und warum hat er trotzdem im Familienunternehmen gearbeitet?«, fragte Amelie.
»Weil er sich nie getraut hat, das zu machen, was er wirklich wollte: nur malen«, sagte Yella.
Seit sich, fasziniert durch die eigentümliche Landschaft und das besondere Licht, am Beginn des vorigen Jahrhunderts eine Künstlergruppe in dem noch jungen Dorf niedergelassen hatte, übte Bergen einen besonderen Reiz auf Maler, Schriftsteller und Architekten aus. Und auf ihren Vater, der bis zu seinem Lebensende davon träumte, seinen Lebensunterhalt als Maler zu verdienen. Jahr für Jahr kam er an die holländische Küste, um sich vom Brüten über den endlosen Zahlenkolonnen zu erholen, die seinen Alltag in der familieneigenen Firma für medizinisches Zubehör unerträglich machten. Den ganzen Sommer zog er mit Papier und Farben los, um seine Fertigkeiten zu schulen.
Auf Amelies Telefon leuchtete eine neue Meldung auf. Wo bist du? Ich habe den ganzen Abend auf deinen verdammten Anruf gewartet.
Ohne es wirklich zu wollen, las Yella einen Absender, der ihr nicht bekannt vorkam. Max? Wer war Max? Und warum war er so wütend auf Amelie? War das derselbe Mann, der das letzte Mal, als sie mit Amelie sprach, im Hintergrund Sturm an ihrer Tür geläutet hatte? Amelies Verehrer neigten dazu, besonders hartnäckig zu sein.
»Du wirst vermisst«, sagte Yella ertappt und gab das Telefon zurück an Amelie.
»Meine Männer sind immer ein bisschen zu viel. Zu besitzergreifend, zu unzuverlässig, zu egoistisch, zu verheiratet. Max stellt einen neuen Rekord auf. Der ist alles zusammen.«
Helen zog ihre Augenbrauen hoch. Die Thalberg-Schwestern begleiteten die Liebesprobleme von Amelie seit Jahren. »Mein Problem ist das Timing«, sagte Amelie. »Ich habe alle Varianten durch: die richtige Person, aber der falsche Moment, der richtige Moment mit dem falschen Partner, eine alte Liebe mit neuen Problemen oder eine neue Liebe und alte Probleme.«
»Hast du es mal als Single versucht?«, fragte Helen.
Vielleicht wäre es einfacher gewesen, zu zweit mit Amelie zu sein. Helen war so gradlinig und lösungsorientiert, dass es wenig Spaß machte, allzu sehr im alltäglichen Chaos und in Anekdoten zu schwelgen.
Amelie ignorierte Helens Spitze. »Ich träume davon, jemanden zu treffen, der mich nicht an jemanden erinnert, mit dem ich schon mal gescheitert bin«, sagte sie erschöpft.
Helen sprang vom Sofa auf. »Ich fange schon mal mit dem Abendessen an«, sagte sie.
Sie konnte es nicht leiden, dass die Zeit einfach nur mit Warten und Plaudereien verstrich.
»Ich habe Ravioli gekauft. Wie immer am ersten Abend«, sagte sie. »Aber diesmal echte.«
Yella wurde warm beim Gedanken an die klassische Willkommensmahlzeit, mit der früher der Sommerurlaub auf dem Campingplatz eingeläutet wurde. Für sie hätten die üblichen Dosennudeln gereicht, aber Helen achtete auf gute Ernährung. Yella half ihr bei den Vorbereitungen und war froh, etwas zu tun zu haben: Salat putzen, Tomaten für die Soße klein schneiden, Zwiebeln, Knoblauch und Kräuter hacken. Die meiste Zeit jedoch suchten sie in der fremden Küche irgendetwas: das scharfe Messer, die Salatschüssel, Salz, die Knoblauchpresse, den Lichtschalter, die Betriebsanleitung für den Gasherd, Streichhölzer, ein unverfängliches Gesprächsthema.
»War Max der, mit dem Doro dich verkuppeln wollte?«, fragte Yella.
»Ja und nein.«
Yella lachte. Amelies Liebesleben war ähnlich verschlungen wie die Äste der Krüppeleichen und kannte nur zwei Jahreszeiten: frisch verliebt oder frisch getrennt. Das traf für Männer genauso zu wie für Jobs.
»Du arbeitest bei einem Start-up, ich bin eins«, sagte sie fröhlich. »Ich besitze weder ein Sofa noch einen Tisch noch eine feste Arbeit, dafür bin ich Weltklasse in wunderbaren Anfängen.«
»Ist das dein Tinder-Date von neulich?«, fragte Yella.
»Der ist schon lange passé«, sagte Amelie. »Das ist das Blind Date, von dem ich dir erzählt habe.«
»Ich mache Feuer«, sagte Helen.
Ihre Mundwinkel zuckten, als wolle sie noch etwas sagen, doch dann verkniff sie sich jeden Kommentar. Yella wusste, dass Helen das flatterhafte Leben ihrer Zwillingsschwester nur schwer nachvollziehen konnte. Auch Yella gelang es kaum, den Überblick zu bewahren. Wer auch immer ihr aktueller Begleiter war, keine ihrer Beziehungen war unproblematisch.
»Doro hat den Termin ausgemacht«, erzählte sie kichernd, »und ich habe es tatsächlich fertiggebracht, den Falschen mit nach Hause zu nehmen.«
Helen sah fragend von ihren Holzscheiten auf, die sie im Kamin platzierte.
»Oh mein Gott«, sagte Yella lachend.
»Sein T-Shirt hat mich geblendet. World Champion of Nothing stand drauf. Ich dachte, das muss meine Verabredung sein.«
»Wenn er nett war.«
»War er nicht. Aber wenigstens wusste er nichts von Doros Lügen. Die hatte meinem Blind Date weisgemacht, dass ich Yogalehrerin bin.«
»Was soll daran so schlimm sein?«, fragte Helen.
»Ich hatte Angst, dass wir beim ersten Date Sex haben und es auffällt, wie ungelenkig ich bin. Ich war tödlich erleichtert, dass er mich nicht darauf ansprach. Erst am nächsten Morgen bei Starbucks habe ich festgestellt, dass es nicht Doros Kandidat war. Den Namen auf dem Kaffeebecher hatte ich noch nie gehört. Ramses. Wusstest du, dass man Ramses heißen kann? Ich dachte, es wäre ein Künstlername, aber der hieß wirklich Ramses. Ramses Bauer. Das Beste an ihm war, dass er sich so schnell verabschiedet hat: Ich geh eine Zeitung kaufen. Warte nicht auf mich, es könnte länger dauern. Das ist zumindest ehrlich.«
Yella verstand nur zu gut, dass Amelie ihre Dating-Desaster nur deswegen so ausführlich ausbreitete, um nicht über andere Dinge sprechen zu müssen. Über ihre Mutter, die Last der Erinnerungen und die Probleme, die sie von zu Hause mitgebracht hatten.
»Ich hatte Dates, da habe ich mich besser mit dem Ober unterhalten. Dabei habe ich keine Lust mehr, die Einzige zu sein, die kocht, aufräumt, wäscht, Geld verdient und den Urlaub plant. Ich möchte mich auch mal zurücklehnen.«
Amelie sprang von Satz zu Satz, von Thema zu Thema. Und checkte so ganz nebenbei ihren Instagram-Account, auf dem sich merkwürdige Aktivitäten entwickelten. Der Film, den sie auf der Terrasse des Cafés aufgenommen hatte, kam überraschend gut an. Vor allem bei Niederländern. Wie seltsam.
Amelie plapperte weiter, als hätte sie sich vorgenommen, den Abstand zwischen ihnen mit Worten zu füllen.
»Ich bin es leid, so viele Möglichkeiten im Leben zu haben. Manchmal komme ich nach Hause, staubsauge und frage mich, was der Sinn meines Lebens ist.«
»Ich habe kein Vorbild. Ich weiß nicht, wie ein Mann sein muss, mit dem man eine Familie gründen kann.«
»Vielleicht fehlt mir einfach die Vaterfigur.«
»Ich glaube, alles wird anders, wenn ich eine eigene Familie habe. Dann kann ich endlich mit früher abschließen.«
Auf einmal wandte sie sich direkt an Yella.
»Wie hast du das gemacht? Wie hast du gewusst, dass David der Richtige ist?«
Yella zuckte zusammen. Sie hatte keine Lust, über David zu sprechen.
»Seid ihr glücklich?«, fragte Amelie so unvermittelt und direkt, dass Yella erschrak.
Sie wusste nicht genau, was sie darauf antworten sollte. Im Alltag drehten sich ihre Lebensfragen vor allem um Details wie »Was essen wir heute Abend?«, »Holst du die Kinder?«, »Hast du daran gedacht, die Versicherung zu bezahlen?« oder »Wer bringt das Auto zum TÜV?«.
Seit die beiden Jungs auf der Welt waren, hatte sich ihre stürmische Beziehung in einen permanenten Krisengipfel verwandelt, bei dem ununterbrochen über Kinderbetreuung, Einkäufe, Haushalt und die Wäsche verhandelt wurde. Und seit Neuestem auch über den Umgang mit ihrer Mutter.
»Ja, natürlich sind wir glücklich«, sagte Yella. »Sonst wäre ich ja nicht mehr mit ihm zusammen.«
Das Gespräch erstarb. Amelie war endgültig die Puste ausgegangen. Der Salat war fertig, das Dressing stand bereit, und die Nudelsoße köchelte auf dem Gasherd. Während sich draußen der Himmel dunkel färbte, loderte drinnen ein anheimelndes Feuer im Kamin, Amelie entzündete alle Kerzen. Es hätte gemütlich sein können, wenn sich nicht ein Elefant im Raum breitgemacht hätte. Die Frage, welcher Anlass sie hierhergeführt hatte, lastete schwer auf ihnen.
»Wir waren Ende letzten Monats verabredet, aber unsere Mutter hat abgesagt wegen eines Arzttermins«, sagte Helen in die Stille hinein.
»Sie war doch erst neulich zu Untersuchungen«, sagte Amelie verblüfft. »Wegen der Magengeschichte.«
»Davon weiß ich wieder nichts«, antwortete Helen, mindestens genauso erstaunt.
»Ich dachte, es war die Bronchitis, die nicht wegging«, log Yella verlegen.
Sie schwiegen betroffen, als sie realisierten, dass ihre Mutter unterschiedliche Versionen verbreitet hatte. In Yella rumorte es. Vielleicht hatte ihre Mutter sich nicht bei ihr gemeldet, weil sie mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte? Warum war sie kleinlich und beleidigt gewesen, anstatt zum Telefonhörer zu greifen? Yellas schlechtes Gewissen meldete sich mit einer ganzen Batterie Vorwürfe zur Stelle.
»Was hat sie dir genau erzählt?«, fragte Helen. Ihre strengen unerbittlichen Augen trafen sie unvorbereitet.
Yella griff nach ihrer Teetasse, um einen Moment Zeit zu gewinnen, und verbrannte sich postwendend den Mund.
»Wir haben uns eine Zeit lang nicht gesprochen«, sagte sie ehrlich. »Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit.«
Die Wahrheit war, dass sie seit zwei Monaten nicht mehr miteinander geredet hatten. Die Erinnerung an das letzte Zusammentreffen mit ihrer Mutter lag ihr wie ein Stein im Magen. Das Treffen war mit einem Eklat geendet.
»Hat das etwas mit eurem Besuch in Köln zu tun?«, fragte Helen.
Yella nickte: »Das war eine ganz blöde Idee, David zu seinem Seminar zu begleiten. Arbeit und Familie hält man am besten auseinander.«
Während David an der Kunsthochschule sein Schreibseminar hielt, hatte sie mit den Jungs ihre Mutter besucht. Trotz der Warnungen, dass die Länge des Workshops nicht genau zu terminieren war und er vermutlich mit den Studenten zu Abend aß, hatte ihre Mutter es sich nicht nehmen lassen, groß aufzutischen. Henriette Thalberg hatte das gute Geschirr aus den Tiefen des Wohnzimmerschranks herausgezogen, eine blütenweiße Tischdecke aufgelegt und Stoffservietten gefaltet.
»Wenn ihr schon mal da seid, machen wir es uns so richtig gemütlich«, sagte sie.
Leider war es kein bisschen gemütlich. Das komplizierte Essen stresste ihre Mutter mehr, als sie zugeben wollte. Anstatt die Zeit mit Yella und ihren Enkelkindern zu verbringen, hing sie am Telefon mit Doro, um sich noch einmal Tipps und Hinweise für die Zubereitung der spanischen Paella geben zu lassen.
»Es soll etwas ganz Besonderes werden«, erklärte sie mit hochrotem Kopf.
Währenddessen gab Yella ihr Bestes, ihre quengelnden und hungrigen Jungs bei strömendem Regen im Wohnzimmer zu beschäftigen. Während sie in ihrer Tasche nach einem Schnuller für den brüllenden Nick fahndete, kletterte Leo auf den Kissenberg auf seinem Stuhl (ihre Mutter hatte Bedenken, dass der mitgebrachte Kinderhängestuhl das edle Holz verkratzte) und fischte schwankend nach dem Weißbrot.
»Das ist für später«, mahnte Henriette und tickte ihm auf die Finger. »Schön warten!«
»Wir können doch schon mal ohne David anfangen«, schlug Yella vor.
»Ich kann nicht alles dreimal aufwärmen«, sagte ihre Mutter, nur um postwendend zu einem Seitenhieb überzugehen.
»Hat Nick immer noch einen Schnuller?«, fragte sie überflüssigerweise. »In dem Alter solltest du ihn längst entwöhnt haben.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie wieder in die Küche.
»Das Rezept habe ich neulich schon für Helen gekocht«, schrie sie. »Paul hat dreimal nachgenommen. Hast du schon von seinem Wettbewerb gehört?«
Hatte sie, gefühlt ein halbes Dutzend Mal. Ihre Mutter ließ keine Gelegenheit aus, ihren Lieblingsschwiegersohn über den grünen Klee zu loben.
»Erkundige dich doch mal bei Paul, vielleicht kann er dir eine Arbeit in seinem Büro vermitteln.«
»Ich habe einen Job«, rief Yella.
Seit ihre Mutter ein Foto ihres Chefs gesehen hatte, eines dreiundzwanzigjährigen Computernerds mit verwaschenem grauen Hoodie, stufte sie Yellas Berufstätigkeit als äußerst dubios ein. Dabei arbeitete ihre Firma überaus erfolgreich an mobilen Bezahlsystemen für kleine Unternehmen und saß gleichberechtigt am Verhandlungstisch mit allen großen Geldhäusern.
»Vier Tage die Woche«, sagte ihre Mutter abschätzig. »Damit kannst du keine Sprünge machen.«
Dass es ihr wichtiger war, Zeit mit den Kindern zu verbringen, kam im Wertesystem der Mutter nicht vor. Einmal ganz abgesehen davon, dass Yella um keinen Preis der Welt in die Frankfurter Bankenwelt ziehen würde.
»Ich bin zufrieden«, sagte sie. »Wir kommen gut zurecht.«
»Vielleicht kann Paul dir Tipps geben, ob du mit deinem halben Architekturstudium nicht doch noch was Sinnvolles anfangen kannst«, rief ihre Mutter aus der Küche. »Dieses sogenannte Büro, in dem du arbeitest, das kann doch nicht gut gehen.«
Der Dampfkochtopf in ihrem Inneren steuerte auf die unvermeidliche Explosion zu. Leo sprang vergnügt herum. Bei jedem Schritt klirrte das teure chinesische Porzellan in der Glasvitrine. Auf einmal schien ihr alles im Haus ihrer Mutter zerbrechlich und höchst gefährdet. Yella wedelte einladend mit dem Handy. Normalerweise vermied sie es, Leo mit Computerbildschirmen ruhigzustellen. Aber das hier fiel unter die Kategorie Notwehr. Leo lief begeistert in ihre Richtung, strauchelte über die gewölbte Kante eines persischen Läufers und flog hochkant gegen einen filigranen Blumenständer. Die Orchidee schwankte einen Moment unschlüssig, bevor sie wie in Zeitlupe kippte und die Porzellanfigur vom Beistelltisch mit sich riss. Leo, ehrlich erschrocken, probierte seinen Fehler wiedergutzumachen und kratzte Erde und Scherben auf dem hellen Teppichboden zusammen, bevor ihn seine Großmutter unsanft am Oberarm zurückzog.
»Bist du verrückt geworden?«, herrschte sie ihn an. »Der Pierrot war noch von meinen Großeltern.«
Leo erschrak so sehr über die Scherben, dass er anfing zu weinen, was wiederum Nick aufweckte, der lauthals schrie.
»Du solltest deinen Sohn mal auf ADHS testen lassen«, wetterte ihre Mutter. »Normalerweise wissen Kinder in dem Alter sich zu benehmen.«
»Normalerweise gehen sie um diese Zeit ins Bett«, konterte Yella schwach.
»Was kann ich dafür, dass David sich verspätet?«, keifte Henriette.
»Wir müssen nicht auf ihn warten«, sagte Yella pampig. »Das habe ich doch schon gesagt.«
Die Diskussion wurde durch den Brandalarm übertönt. Aus der Küche zog eine schwarze Rauchwolke.
Es war die Ouvertüre für den finalen Showdown.
»Danke, ich will nichts«, sagte David. »Wir haben schon mit den Studenten gegessen«, erklärte er, als sie eine Stunde später endlich komplett waren und ihre Mutter in einer Mischung aus Vorwurf und stillem Leiden das angekohlte Fleisch servierte, das in einem Bett von trockenem Reis, verkochtem Gemüse und zerfallenem Fisch ruhte.
»Ach was, ein bisschen was geht immer«, sagte ihre Mutter pikiert und füllte großzügig seinen Teller.
»Ich esse nie um diese Uhrzeit«, sagte David. »Wenn ich jetzt noch was Warmes esse, schießt mein Blutzucker in die Höhe.«
»Tut mir leid, wenn ich deinen Geschmack nicht treffe«, sagte ihre Mutter.
»Ich will auch nichts«, rief Leo und starrte panisch die verschrumpelte Riesengarnele an.
»Kein Wunder bei den Mengen Brot, die er verputzt hat«, sagte ihre Mutter. »Jeder so, wie er will.«
Sie lachte, aber ihre Augen blitzten verräterisch. Ihre Unterlippe zitterte leicht.
»Schmeckt großartig«, sagte Yella halbherzig. »Doro muss mir unbedingt das Rezept geben.«
Der Rest des Essens verlief in tödlichem Schweigen. Yella suchte vergeblich in ihrem Kopf nach einer heiteren Anekdote, mit der sie das Gespräch auf neutrales Terrain lavieren konnte, während Nick übermüdet und überdreht auf seinem Stuhl herumzappelte.
»Jetzt sitz doch mal still«, herrschte Yella ihren Sohn an.
Nick brach in erschrockenes Weinen aus.
»Und wie geht es mit deinem Roman voran?«, wagte sich ihre Mutter ins ultimative Krisengebiet vor.
»Prima«, sagte David.
»Immer noch die Geschichte von diesem hypochondrischen Arzt?«, fragte ihre Mutter.
»Du darfst es als Erste lesen, sobald es erscheint«, antwortete er.
Henriette Thalberg starrte ihn an. Aber David verweigerte jede nähere Erläuterung.
»In meinem Buchclub wollen sie nicht glauben, wie lange so ein zweiter Roman dauern kann.«
In diesem Moment kippte der weinende Nick vom Kissenberg in die Tiefe. Yella schrie erschrocken auf. David lachte. Ihre Mutter sah ihn entgeistert an. Findest du das komisch? stand in ihrem Gesicht geschrieben.
»Lass uns ins Hotel fahren«, sagte Yella erschöpft, bevor die nächste Runde eingeläutet wurde.
Und diesmal war ihre Mutter mit ihr einer Meinung. Sie war schon fast aus der Tür, als Henriette sie noch einmal beiseitenahm, um ihr vier Tupperdosen mit Paella zu überreichen.
»Darf ich dir einen kleinen Tipp geben?«, begann sie zögernd.
»Nein«, sagte Yella ungehalten. Sie hasste diese Eröffnung. Sie konnte in dieser Situation alles gebrauchen, nur keine mütterlichen Ratschläge oder Erziehungstipps.
»Du weißt, ich mische mich nie ein«, sagte ihre Mutter. »Aber ich mache mir Sorgen um dich, Yella. Du bist so dünnhäutig. Kein Wunder, dass deine Kinder so gestresst sind.«
Yella fühlte sich komplett erschlagen, ausgelaugt, verzweifelt. Sie ahnte, dass jedes Wort, das sie entgegnen konnte, neue Ermahnungen nach sich zog.
»Hast du schon mal daran gedacht, deine Probleme mit Dr. Deniz zu besprechen?«
Die Art ihrer Mutter, sie wie eine Patientin zu behandeln, machte sie rasend. Sie kam seit Jahren wunderbar ohne die Hilfe des Psychologen aus, den Doro ihr einmal in einer schwierigen Lebenssituation empfohlen hatte. Überhaupt war sie nur ein paarmal hingegangen. Und dann beging Yella den nächsten Fehler. Statt ihrem Ärger sofort Luft zu machen, presste sie ein schwaches »Danke« heraus.
»Gern geschehen«, sagte ihre Mutter freundlich. »Du weißt, du kannst immer zu mir kommen, wenn du einen Rat brauchst. Ich helfe gerne.«
Danach herrschte Funkstille.
Henriette Thalberg, an der eine Studienrätin verloren gegangen war, benotete selbst im Rentenalter alles, was Yella tat. Das Gefühl, ständig mit ungenügend bestempelt zu werden, nagte an Yella. Am meisten ärgerte sie jedoch, dass sie sich ärgerte. Warum war sie mit dreiunddreißig Jahren immer noch nicht immun gegen die harschen Meinungen ihrer Mutter? Henriette war dominant, David kompromisslos. Kein Wunder, dass jede Begegnung der beiden früher oder später damit endete, dass bei Yella der Hausfrieden schiefhing. An den Megakrach mit David im Hotel, eingeläutet von seinem schönen Satz »Du musst endlich mal lernen, dich gegen deine Mutter durchzusetzen«, wollte sie gar nicht erst denken.
Yella machte ihrem Ärger keine Luft, und sie vergaß nicht. Mit jedem Tag, den sie sich nicht meldete, wuchsen, da war sie sich sicher, die Vorwürfe. Ihre Mutter erwartete vermutlich, dass sie sich entschuldigte. Ebenso wie David. Die Einladung nach Holland hatte neue Munition für den schwelenden Konflikt geliefert.
Yella seufzte tief auf. »Wo soll ich anfangen?«
Sie hatte sich so in Erinnerungen an das fatale Essen verloren, dass sie für einen Moment vergessen hatte, wo sie sich befand. Helen und Amelie starrten sie fassungslos an.
»War die Paella so furchtbar?«, fragte Helen.
Zwei Lichtkegel trafen sie voll ins Gesicht. Yella fühlte sich, als wäre sie in einem Kreuzverhör gelandet, bis sie realisierte, dass das Licht von draußen kam. Sie hörte einen Wagen bremsen, dann eine Autotür.
Amelie sprang sofort von ihrem Stuhl auf: »Endlich.«