Yella erhob sich mit gemischten Gefühlen. Seit Wochen lag ihr der Streit mit ihrer Mutter im Magen. Es war an der Zeit, diesen Konflikt endlich aus dem Weg zu räumen.
Zögerlich folgte sie ihren Schwestern nach draußen. Doros berühmte silberne Rimowa-Koffer in verschiedenen Größen blockierten den Weg. Wenn Yella mit der Familie verreiste, griffen sie auf ein Arsenal von bunt gewürfelten Koffern und Taschen zurück. Bei Doro passte alles zusammen. Zahlreiche Aufkleber zeugten davon, wie weit gereist ihre große Schwester war. Und noch immer trug die Taxifahrerin, eine kleine drahtige Person mit eindrucksvoll schwarzem Lockenkopf und glänzender brauner Haut, ächzend Gepäckstücke heran, als ob Doro einen mehrmonatigen Aufenthalt plante und nicht nur fünf Tage.
Doro tauchte hinter dem Taxi auf. Yella ziepte automatisch an ihrem ausgeleierten Pullover herum, der schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Beim Anblick ihrer großen Schwester schrumpfte sie und wurde augenblicklich unsichtbar. Als kleines Mädchen hatte sie Doro maßlos bewundert, was wohl hieß, dass sie sich selber nicht ganz so großartig fand. Wie glücklich war sie gewesen, wenn Doro sich herabließ, mit ihr zu spielen oder sie gar zu ihren Verabredungen mitzunehmen.
Doro trug einen bodenlangen karierten Mantel in auffälligen Grüntönen, unter dem eine schmale strahlend weiße Hose hervorblitzte. Auf beeindruckend hochhackigen tiefblauen Schuhen balancierte sie über die unebenen Klinkerfliesen, zwischen denen sich herbeigewehter Sand sammelte. Die Reise hatte weder ihrem exakt geschnittenen und perfekt sitzenden weißblonden Pagenkopf noch ihrem Make-up etwas anhaben können. »Ich bin eine wandelnde Visitenkarte«, sagte sie immer. »Mein Job ist es, gesehen zu werden. Wenn ich niemandem im Gedächtnis bleibe, habe ich meinen Job verfehlt.«
Wie ein Magnet zog Doro alle Aufmerksamkeit auf sich und war sofort Mittelpunkt ihrer Runde. Sie verwandelten sich wieder in die Musikgruppe von einst: Doro und der Rest. Wie Elektronen tanzten sie um ihren Kern herum. Selbst die Taxifahrerin suchte Doros Aufmerksamkeit, aber das vor allem, um ihr die Rechnung zu präsentieren. Doro hatte kein Auge für sie. Sie umarmte Amelie, die Doros Outfit wortreich bewunderte.
»Bist du alleine?«, fragte sie.
»Lucy hatte heute noch was in der Schule«, sagte Doro. »Sie kommt mit Ludwig nach.«
»Und wo ist unsere Mutter?«, fragte Helen, weit weniger beeindruckt von Doros theaterreifem Auftritt.
»Henriette kommt auch erst morgen, das hatte ich doch durchgegeben«, sagte sie. »Ludwig nimmt sie mit.«
Sie konnten sich nicht mal einigen, wie sie ihre Mutter ansprachen. Während Doro längst zu Henriette übergegangen war, beharrte Amelie auf dem kindlichen Mama, Helen wählte ein kühles unsere Mutter, das den Abstand betonte, und Yella schwankte zwischen allen drei Bezeichnungen.
»Nichts hast du durchgegeben«, sagte Helen.
»Ich habe Yella angerufen, zwischen all meinen Terminen«, setzte Doro nach. »Hat sie es nicht ausgerichtet?«
»Vielleicht wolltest du etwas durchgeben«, empörte sich Yella. »Aber du warst mehr mit Federn und Fröschen beschäftigt.«
»Dann hast du es nicht richtig mitbekommen«, sagte Doro. »Ich habe extra deswegen angerufen.«
»Du hast nichts erzählt«, empörte sich Yella.
»Dann sage ich es jetzt. Henriette kommt erst morgen. Sie musste noch bei der Hausärztin vorbei. Irgendwas Routinemäßiges, das sie vergessen hatte.«
»Ein Arzttermin?«, fragte Amelie alarmiert.
»Können wir erst mal reingehen?«, rief Doro theatralisch. »Ich hatte einen Höllentag, ich bin tot.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um. »Kannst du das schnell mit dem Taxi erledigen?«, fragte Doro Amelie mit schwacher Stimme. »Mein Handy ist leer. Und Cash habe ich schon seit Corona nicht mehr.«
Amelie blieb alleine zurück. Verlegen trat sie von einem Fuß auf den anderen. Der Wind zauste an ihren langen blonden Locken.
»Coole Schuhe«, sagte sie, während sie versuchte, ihre Haare mit den Händen zu bändigen.
Die junge Taxifahrerin trug dieselben Blumen-Doc-Martens, nur dass sie dazu einen hippen Unisexanzug aus dicker Baumwolle kombinierte, der direkt aus Maos Reich zu kommen schien.
»Deine auch«, antwortete sie, mindestens genauso verlegen.
Die Tür fiel hinter den Schwestern ins Schloss. Eine himmlische Stille breitete sich aus. Selbst die Nachtigall traute sich wieder zu zwitschern.
Die Taxifahrerin blitzte Amelie frech an. »Sie ist großartig«, sagte sie. »Man sollte den nächsten Orkan nach ihr benennen.«
»Doro ist chronisch im Stress«, sagte Amelie entschuldigend.
Die Taxifahrerin nickte. »Das wäre ich auch, wenn meine dreizehnjährige Tochter in der Schule mit einer Bierflasche ertappt worden wäre, die Heizkostenabrechnung fürs Atelier fehlt und deswegen die Steuer nicht gemacht werden kann, der Ehemann nicht zu erreichen ist und man gleichzeitig versucht, einen Frosch zum Singen zu bringen.«
Amelie sah sie verblüfft an.
»Ich weiß auch nicht, wie sie das mit dem Frosch hinbekommt«, fuhr die Taxifahrerin fort. »Hier in Holland quaken sie eher. Aber wenn ich sie noch mal fahre, bekomme ich auch das noch raus.«
»Das hat sie dir alles erzählt?«, fragte Amelie.
»Mir doch nicht«, sagte die junge Taxifahrerin. »Sie hat von Schiphol bis hier an einem Stück durchtelefoniert. Ich weiß alles. Auch die Sache mit den Zyklusbeschwerden und Ludwigs klemmendem Halswirbel nach dem wilden Sex auf dem Zuschneidetisch.«
»Nicht wahr«, sagte Amelie.
»Das Möbel ist einfach zusammengekracht«, kicherte die Taxifahrerin amüsiert. »Wie viel wiegt der Mann denn?«
»Es kann auch an meiner Schwester liegen«, verteidigte Amelie ihren Schwager. »Die hat einfach ein bisschen mehr Energie als andere. Aber sie ist wirklich nett. Sie kommt nur so selten dazu, das zu zeigen.«
»Ich weiß«, sagte die Taxifahrerin. »Sie ist mir richtig ans Herz gewachsen.«
Durch die große Fensterscheibe blickten sie ins hell erleuchtete Wohnzimmer, wo Doro sich auf das Sofa sacken ließ. Helen überreichte ihr einen Drink.
»Ist sie berühmt?«
»Ein bisschen.«
»Wow«, sagte die junge Frau beeindruckt. »Was macht sie? Comedy?«
Amelie lachte.
»Ihr könnt gerne zu unserem Open Mike kommen«, sagte sie. »Wir suchen immer Leute, die einfach drauflosreden und komisch sind.«
Amelie starrte die junge Frau entgeistert an. So jemanden wie diese Taxifahrerin hatte sie noch nie getroffen.
»Ich werde es ausrichten«, stammelte sie amüsiert.
»80 Euro«, antwortete die junge Frau.
»Eintritt? Oder Honorar?«, fragte Amelie.
»Das Taxi.«
Amelie holte betroffen ihr Portemonnaie von drinnen. »22 Euro 37«, zählte sie.
Die Taxifahrerin lachte laut auf. »Gib mir deine Nummer.«
»Meine Telefonnummer?«
»Ich schick dir ein Tikkie«, sagte die Frau.
»Ein Tikkie?«, fragte Amelie.
Die Taxifahrerin sah von ihrem Telefon auf: »Wo kommst du denn her?«, fragte sie.
»Heute – oder überhaupt so?«
Die junge Frau schüttete sich wieder aus vor Lachen. »Ihr Komiker seid verwandt, oder?«
»Schwestern.«
»Alle?«
»Alle.«
»Alle vier?«
»Ja.«
»In einem Haus?«
»Ja.«
»Omg.«
Sie schien sich köstlich über alles zu amüsieren, was Amelie sagte. Vielleicht hatte sie ein bisschen zu viel gekifft. Oder war die immer so? Mit ihr zu sprechen glich einer Partie auf dem Tennisplatz. In hohem Tempo flogen die Worte hin und her.
»Hat Tikkie was mit Kitzeln zu tun?«, fragte Amelie. Das schien ihr angesichts der Fröhlichkeit der jungen Frau die naheliegendste Version zu sein.
»Holländer haben es nicht so mit Bargeld«, sagte sie kichernd. »Die bezahlen lieber über App. Wenn du mir deine Nummer gibst, kannst du das Geld bequem überweisen …«
Amelie tippte ihre Telefonnummer direkt in das Handy der jungen Frau. Eigentlich wäre jetzt alles gesagt und erledigt.
»Wenn du mal rauswillst …«, begann die Taxifahrerin. Sie sah wieder nach drinnen. »Ich weiß, wie schwierig solche Treffen sind. Ich komme ja selber aus einer Familie.«
Amelie lachte. Irgendwie nahm ihr die unverkrampfte und ironische Weise der Taxifahrerin den Druck.
»Ich habe drei Brüder«, sagte die junge Frau. »Da gibt’s was auf die Nase, und dann ist der Streit vorbei. Und ich habe eine Schwester, die ist dauerbeleidigt.«
Sie zog einen Zettel aus der Tasche ihres Anzugs. »Frag nach Philomena, dann bekommst du für jede Schwester einen kostenlosen Drink von mir.«
»Secret comedy«, las Amelie vom Reklamezettel ab. »Ist das ein Theater? Da steht keine Adresse.«
»Wir sind ein geheimer Comedyclub ohne feste Bühne und ohne vorab angekündigtes Programm. Du kaufst online eine Karte, und eine Stunde vor dem Termin bekommst du eine Adresse gemailt.«
Ihr Blick ging wieder nach drinnen zu Doro.
»Eins kann ich dir versprechen«, ergänzte sie. »Es ist garantiert windstill bei uns.«
»Klingt gut«, sagte sie.
Amelie steckte den Zettel ein. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie die Adresse irgendwann noch einmal gebrauchen könnte.