Jenny
Sie war so müde, dass sie während der Zugfahrt einschlief und beinahe den Bahnhof Waren verpasst hätte. Hastig griff sie ihren Koffer im Gepäckregal, beförderte das gute Stück dicht am Kopf eines Fahrgastes vorbei auf den Boden und rannte damit zur Tür. Dort musste sie warten, weil die Fahrgäste aus Waren schon beim Einsteigen waren, erst dann konnte sie samt Koffer auf den Bahnsteig springen. Ein krachender Donner begleitete ihren Sprung, die Schleusen des Himmels öffneten sich, und ein fulminanter Platzregen ergoss sich über das Land.
»Da bist du ja!« Ulli stand auf dem Bahnsteig unter einem gewaltigen schwarzen Regenschirm und grinste sie fröhlich an. »Hab schon gedacht, du wärest gar nicht im Zug«, murmelte er, während er sie mit einem Arm an sich drückte. Mit dem anderen hielt er den Schirm über sie beide.
»Bin eingeschlafen …«
Wie schön es war, von ihm in die Arme genommen zu werden! Ach, er hatte ihr in Hamburg so schrecklich gefehlt. Überhaupt konnte sie sich ein Leben ohne Ulli gar nicht mehr vorstellen. Wie sie diese grauenhafte Zeit, als sie zerstritten waren, ausgehalten hatte, begriff sie inzwischen nicht mehr. Nie wieder durfte es zwischen ihnen so weit kommen. Das hatten sie einander fest versprochen. Doch nun schob er sie ein Stück weit von sich und musterte sie erwartungsvoll.
»Und? Wie ist es gelaufen? Meinst du, du hast dein Abi in der Tasche?«
Sie hatte ihn nach den schriftlichen Prüfungen aus der Telefonzelle vor dem Hotel in Hamburg angerufen, aber da hatte sie noch die mündliche vor sich gehabt. Mathe war zwar etwas holprig gewesen, doch sie hatte sich tapfer geschlagen, hatte sich immer wieder daran erinnert, was er ihr beigebracht hatte, und sich irgendwie durchgewurstelt. Als sie nach der Klausur ihre Lösungen mit denen der anderen verglich, hatte sie den Eindruck, gar nicht so schlecht davongekommen zu sein.
»Ich glaube, das war’s«, sagte sie und verzog gespielt enttäuscht das Gesicht.
Er sah sie entsetzt an.
»Ich muss nie wieder Hefte von der Fernschule ausfüllen«, fügte sie grinsend hinzu, und er versetzte ihr einen vermeintlich empörten Klaps.
Kichernd drückte sie sich an ihn, und sie gingen eng umschlungen unter dem schwarzen Schirm an dem alten Klinkergebäude des Bahnhofs vorbei zum Parkplatz, wo Ullis Passat wartete. Dort übernahm Jenny den Schirm, während er den Koffer im Wagen verstaute. Nass wurden sie trotzdem, denn der Regen spritzte von dem dampfenden Pflaster hoch und durchnässte ihre Hosen und Schuhe. Donnerschläge und zackige Linien am Himmel folgten rasch aufeinander, durch den grauen Wasserschleier hindurch sah man flüchtende Passanten, die sich beim Bahnhofshotel unterstellten. Nur ein junger Mann mit grün gefärbten Haaren ging langsam mit ausgebreiteten Armen über den Parkplatz, das Gesicht dem prasselnden Regen zugewandt.
»Wie war denn dein Hotel?«, fragte Ulli, als sie im Auto saßen und den Beschlag von den Scheiben wischten.
Sie hatte sich in einem winzigen, preiswerten Hotel in Bahnhofsnähe eingemietet und am Abend erschrocken festgestellt, dass es mitten im Rotlichtmilieu lag, aber dann hatte sie beschlossen, dass ihr das egal war. Hier ging es nur um ihre Prüfungen, sie würde nachts ohnehin nicht unterwegs sein, und prüde war sie auch nicht. Trotzdem hatte sie dort kaum Schlaf gefunden. Einmal wegen der nächtlichen Geräusche in den Nebenzimmern, dann aber auch, weil sie höllischen Bammel vor den Klausuren hatte. Erst als Mathe vorbei gewesen war, hatte die Panik nachgelassen.
»Ach, ganz okay …«
Sie zuckte die Schultern, lehnte den Kopf an seine Schulter, während er vom Parkplatz fuhr, und erzählte ihm kichernd von ihrer preiswerten Unterkunft. Als sie sein entsetztes Gesicht sah, prustete sie laut los.
Ulli fand das gar nicht komisch. »Wenn ich das gewusst hätte!«, regte er sich auf. »Ich hätte dir doch das Geld für ein anständiges Hotel gegeben, Jenny. Mir wird ganz schlecht, wenn ich mir vorstelle, was dir da alles hätte passieren können!«
»Ich hab’s überlebt«, beschwichtigte sie ihn und blickte aus dem Fenster. Die Stadt war im Regen wie ausgestorben, die Müritz vollkommen im grauen Regendunst verschwunden.
Auf halbem Weg nach Dranitz hörte es urplötzlich auf zu schütten, und die Sonne kam durch. Die nasse Straße war mit Pfützen übersät, der sommerwarme Boden dampfte die Nässe aus, Bäume und Buschwerk am Straßenrand schienen wie mit durchsichtigem Lack überzogen.
»Ich muss noch bei deinem Vater vorbeischauen«, sagte Ulli. »Wegen der Sache mit den Krumme-Töchtern. Kommst du mit, oder soll ich dich erst nach Hause bringen? Du willst doch bestimmt Julchen und deiner Großmutter Hallo sagen!«
»Machen wir’s kurz bei Bernd, dann musst du nicht hin und her gurken.«
Sie nahmen den Weg durch den Wald, auf dem überall tiefe Pfützen standen. Als sie vor dem Wohngebäude und der kleinen Käserei anhielten, sahen sie Bernd mit Sonja bei der Kuhweide stehen.
»Die will doch wohl nicht schon die Kühe wegholen?«, fragte Jenny.
Ulli gab keine Antwort, aber sie sah ihm an, dass er dieselbe Befürchtung hatte. Bernd war kein Schwätzer, er machte Ernst mit seinem Entschluss, den Hof endgültig aufzugeben. Er hatte einen Teil seiner Gerätschaften verkauft, um seine Schulden zu bezahlen, damit Enno Budde nicht wieder versuchen würde, seine Kälber zu pfänden. Aber ohne seine Ackergeräte stand auch die Landwirtschaft still – der Kreislauf schloss sich. Was jetzt noch auf den Feldern stand, würde Bernd Kuhlmann nicht mehr ernten, aber er suchte dringend einen Pächter – auch wenn ihm klar war, dass es nicht leicht sein würde, jemanden zu finden. Die meisten Interessenten kamen aus dem Westen, viele aus Bayern, und die wollten riesige, zusammenhängende Nutzflächen, die sie mit schwerem Gerät bewirtschaften konnten. Da war Bernds Besitz weiß Gott nicht das Richtige.
»Die Hühner sind auch schon weg«, bemerkte Ulli, als sie den Wagen abgestellt hatten und zur Weide hinübergingen.
Jenny wollte gar nicht wissen, was mit dem munter herumlaufenden Federvieh passiert war, sie konzentrierte sich lieber darauf, über die Pfützen zu springen, um nicht im Morast zu versinken. Als sie näher kamen, konnten sie Sonjas energische Stimme hören.
»Nee, da brauche ich keinen Transporter, Bernd! Da nehme ich die Brunhilde beim Horn, und der Rest läuft hinterher. Ist ja nicht weit bis zum Tiergarten. Grad mal das Stück durch den Wald und dann bei der ehemaligen Ölmühle über die Brücke …«
»Und wenn Black Jack dir abhaut?«, gab Bernd zu bedenken. »In letzter Zeit hat der ganz schön seinen eigenen Kopf, der schwarze Minibulle.«
Sonja rubbelte Brunhildes Nase, die sie ihr durch das Gatter hindurch entgegenstreckte. Das Bullenkalb stand zwei Schritte hinter seiner Mutter und beobachtete genau, was vor sich ging. Seit dem bösen Erlebnis mit Enno Budde und seinen Helfern war Black Jack scheu, ließ sich höchstens von Bernd anfassen und misstraute ansonsten allen Menschen.
»Einstweilen läuft der noch mit seiner Mutter mit«, meinte Sonja. »In ein paar Wochen könnte das allerdings anders sein. Überhaupt werde ich mir mit diesem Burschen wohl eine Menge Ärger einhandeln.«
»Der ist doch ein Prachtkerl«, hielt Bernd schmunzelnd dagegen.
»Stimmt! Und ich glaube, er weiß es.«
Die beiden wandten sich jetzt Ulli und Jenny zu.
»Mensch, Mädchen!«, rief Bernd. »Wie ist es denn gelaufen?«
Jenny grinste und knuffte ihren Vater freundschaftlich in die Rippen. Sie schaffte es immer noch nicht, ihm so einfach um den Hals zu fallen, wie sie es bei anderen Familienmitgliedern – auch bei Sonja – längst tat. Seit drei Jahren wussten die beiden, dass sie Vater und Tochter waren, gingen freundlich, manchmal sogar herzlich miteinander um – trotzdem war eine Distanz geblieben. Der große, liebevolle, beschützende Papa, den sich Jenny so oft erträumt hatte, war Bernd nicht. Damit musste sie sich abfinden.
»Jetzt heißt es abwarten«, erwiderte sie. »Die Prüfungsergebnisse werden mir in etwa zwei Wochen schriftlich mitgeteilt. Aber ich hab ein gutes Gefühl«, fügte sie eilig hinzu, als sie seinen besorgten Blick bemerkte.
»Und dann feiern wir«, versprach Sonja. »Das hast du dir wirklich verdient, Jenny. Ich finde es toll, was du in den letzten Jahren so alles auf die Beine gestellt hast. Chapeau!« Sie zog einen imaginären Hut, und Ulli drückte seine Freundin stolz an sich.
»Ich wollte dich eigentlich kurz sprechen, Bernd«, sagte er, doch der winkte ab und fragte, ob man das nicht auf die nächsten Tage verschieben könne. Wenn die Tiere erst mal weg seien, habe er eine kleine Verschnaufpause.
Noch bevor Ulli einen Einwand erheben konnte, meldete sich schon wieder Sonja zu Wort. »Morgen früh will Kalle die Gatter fertig haben«, sagte sie zu Bernd. »Die Zäune stehen bereits. Um die Mittagszeit kommen wir dann und holen deine Mädels mit ihren Kälbern. Falls noch jemand Lust hat, die Prozession zu begleiten: Ihr seid herzlich eingeladen!«
»Darf ich Julchen mitbringen?«, fragte Jenny.
Sonja dachte kurz nach, dann entschied sie: »Julchen – ja. Meinetwegen auch Jörg Junkers, wenn die Schule schon aus ist. Aber sonst kann ich keine Kinder gebrauchen.«
Ulli erklärte, er werde sich drüben in Ludorf freinehmen und ebenfalls kommen. Ob er noch jemanden mitbringen solle?
»Sachte«, grinste Sonja. »Sonst haben wir mehr Treiber als Kühe!«
Sie gab Brunhilde einen freundlichen Klaps auf den Hals und wandte sich zum Gehen. »Alles klar, Bernd? Oder gibt’s noch Fragen? Bedenken?«
Er schüttelte den Kopf.
»Okay. Bis morgen dann!«
Sie hob grüßend die Hand und sprang über die Pfützen hinweg zu ihrem hellblauen Renault. Jenny hatte das sichere Gefühl, dass die zwei sich wohl auf andere Art voneinander verabschiedet hätten, wenn sie miteinander allein gewesen wären. Es waren zwiespältige Gefühle, die sie bei der Erkenntnis überkamen, dass ihr Vater offensichtlich Gefallen an ihrer Tante Sonja gefunden hatte. Nun ja, er war erwachsen und konnte tun und lassen, was er wollte. Und mit Mama würde das wohl im Leben nichts mehr werden. Überhaupt, Cornelia! Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Mutter neulich so kurz angebunden abgefertigt hatte. Es war immer das Gleiche: Mamas impulsive Art regte sie auf, und sie reagierte trotzig. Dabei war sie doch keine sechzehn mehr und sollte eigentlich gelassener sein. Wieso hatte sie es nicht geschafft, wenigstens ein paar freundliche Worte zu sagen? Im Grunde war sie von Cornelias Begeisterung für Dranitz richtig gerührt gewesen. Vielleicht war es gar nicht so dumm, was sie als Konzept für eine sichere finanzielle Basis ausgearbeitet hatte. Womöglich war das sogar eine Chance für Dranitz?
Nachdem Sonja davongefahren war, gingen sie zum Wohnhaus und setzen sich an den Küchentisch. Bernd war anzusehen, wie schwer es ihm fiel, die Tiere, die er alle mit Namen nannte, nun doch wegzugeben.
»Bei Sonja haben sie es gut«, tröstete ihn Jenny. »Und Kalle hängt auch an seinen Kühen, schließlich hat er sie damals aus den LPG-Ställen gerettet.«
Er nickte ihr lächelnd zu und meinte, er sei heute ein wenig gefühlsduselig, aber das gehe vorbei.
»Ich koche euch mal einen anständigen Kaffee. Wir müssen doch Jennys Hamburger Heldentaten feiern. Ich brenne darauf, dass du mir alles erzählst, so viel Zeit muss sein! Ich hab noch Torte im Kühlschrank, die hat Sonja vorhin gebracht. Von ihrer Sprechstundenhilfe Tine, die schenkt ihr immer die Kuchenreste, die bei ihren Familienfeiern übrig bleiben.«
Er stand auf, um den Wasserkessel aufzusetzen, während Jenny sich um den Kuchen kümmerte. Als sie gemütlich am Tisch saßen und Jennys Bericht gelauscht hatten, rutschte Ulli unruhig auf seinem Stuhl hin und her, dann sagte er, an Bernd gewandt: »Kann ich dich nicht doch schnell etwas fragen? Das brennt mir echt unter den Nägeln …«
Jenny sah ihn besorgt an, ganz blass war er geworden bei der Frage, der Ulli.
Bernd stellte die Kaffeetasse ab und musterte ihn ebenfalls. Auch er schien nun leicht besorgt, sodass Ulli nun knallrot anlief.
»Na, so schlimm ist’s nun auch wieder nicht«, beruhigte er die beiden, aber er zog bereits das Schreiben der Krumme-Töchter aus einem Umschlag, den er aus dem Auto mitgenommen hatte, außerdem einen Brief ihres Anwalts und eine Kopie des Amtsgerichts bezüglich der Testamentseröffnung.
»›… Strafanzeige wegen Vertragsabschluss mit einem nicht geschäftsfähigen Partner zur persönlichen Vorteilsnahme‹«, zitierte er aus dem Schreiben des Anwalts. »Die haben tatsächlich Anzeige erstattet. Wenn der arme Max das wüsste, der würde sich im Grabe umdrehen.«
Bernd überflog die Papiere und meinte dann kopfschüttelnd, dass Ulli sich da keine Sorgen machen müsse, Max Krummes Töchter hätten kaum Erfolgsaussichten. »Das kommt mir eher wie eine Wut- und Verzweiflungsreaktion vor. Weil sie offensichtlich mit dem Erbe unzufrieden sind, wollen sie dir wenigstens Ärger bereiten. Gib mir mal die Kopie von der Testamentseröffnung.«
Ulli reichte Bernd das Gewünschte und berichtete, dass Max’ Kinder keineswegs leer ausgegangen seien. Zwar habe Max ihm sämtliche Geschäftsanteile vermacht, doch sein Bankkonto ginge nun auf die Erben über, da sei noch ein hübsches Sümmchen drauf: über vierzigtausend Mark. »Außerdem haben die zwei, als Jenny in Hamburg war, einen Transportdienst mit einem Lieferwagen bei mir vorbeigeschickt, der die privaten Gegenstände ihres Vaters abholen sollte.«
Bernd wollte wissen, ob Ulli die Abholung beaufsichtigt und eine Liste der entsprechenden Gegenstände angefertigt habe.
»Wie sollte ich das denn machen? Ich hatte mit der vermaledeiten Motorjacht zu tun, die wieder mal gestreikt hat!«
»Im Büro konnte aber nichts entnommen werden, oder?«, vergewisserte sich Bernd. »Geschäftsunterlagen, Ein- und Ausgabenlisten und so weiter. Dafür braucht man einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss, und der liegt offenbar nicht vor.«
»Nein.« Ulli schüttelte den Kopf. »Die waren ja nur im Haus, nicht beim Bootsverleih. Und im Haus war die Bürotür abgeschlossen. Aber sie haben alle Sachen aus seiner Wohnung abholen lassen – sein Bett und die Matratzen, seine Kleider, die Sitzgruppe, den Fernseher, sogar das Geschirr in der Küche, auch wenn ein Großteil davon mir gehört hat. Aber das ist mir egal. Zum Glück haben die beiden Jungs von dem Transportdienst Hannelore und Waldemar dagelassen. Tiere interessieren die Elly und die Gabi anscheinend nicht.«
»Die haben wohl gedacht, er hätte sein Geld in die Matratze gesteckt«, knurrte Jenny, die erschrocken und erbost war über das, was Ulli da berichtete.
Bernd grinste und schaute hinüber zum Katzenkorb, wo zwei der bunten Kätzchen eng aneinandergekuschelt schliefen. Das dritte war drüben in der Käserei, da naschte es gern von der Milch. Jenny dachte traurig daran, dass Rosemarie Lau dort morgen zum letzten Mal ihren Käse zubereiten würde. Wie jammerschade das doch war!
»Es wäre gut, wenn du einige Leute zusammenbringen könntest, die bezeugen können, dass Max Krumme bei klarem Verstand war, als er dir sein Grundstück verkauft hat«, sagte Bernd zu Ulli. »Nur für alle Fälle.«
»Meine Großeltern. Die werden das auf jeden Fall bezeugen.«
»Verwandte könnten bei Gericht als weniger glaubwürdig eingestuft werden – überleg mal, wer noch in Frage käme …«
»Mensch, ich hab noch nie etwas mit dem Gericht zu tun gehabt«, seufzte Ulli und fing an, eine Liste möglicher Zeugen zusammenzustellen. »Liegt mir ordentlich auf der Seele, diese ganze Sache!«
Jenny streichelte seinen Arm und versicherte ihm, sie würden die Geschichte gemeinsam durchstehen. Und dass er sich auf Bernd verlassen könne.
Als sie sich verabschiedeten, trafen sie Rosi, die gerade mit zwei Plastikeimern aus der Käserei kam und die Molke in den Abfluss kippte.
»Eigentlich zu schade«, sagte sie. »Da kann man noch eine ganze Menge draus machen. Aber jetzt ist hier der Zug halt abgefahren. Ein Jammer!«
Bernd machte ein bekümmertes Gesicht, denn er würde Rosi in die Arbeitslosigkeit entlassen.
»Mit einer elektrischen Hebeeinrichtung, da wäre es besser gegangen«, meinte sie verdrossen. »Überhaupt kann das nicht funktionieren, wenn einer einen Hof so führen will wie vor hundert Jahren. Habt ihr gesehen, wie die Typen aus Bayern das machen, die das Land der LPG gepachtet haben?«
Richtig. Die rückten mit riesigen Geräten an, die mehrere Funktionen gleichzeitig bedienten: eggen, säen, düngen – einmal über den Acker fahren und fertig. Für die gleichen Arbeiten benötigte Bernd mit seinen Pferden mehrere Tage.
»Ach, lasst mich doch in Ruhe!«, brach es aus Bernd heraus. »Ich bin ein naiver Träumer, und jetzt hat mich die Realität einholt. Aus und fertig!«
Er drehte sich um, verschwand in seinem Wohnhaus und knallte die Tür hinter sich zu. Die drei anderen schauten sich betreten an.
»Das geht ihm doch viel näher, als er zugibt«, meinte Ulli beklommen. »Ist schon verdammt gemein, wenn einer den Mut hat, etwas Ungewöhnliches zu wagen, und dann so kläglich scheitert!«
In bedrückter Stimmung fuhren sie nach Dranitz, und Jenny versuchte Ulli davon zu überzeugen, heute nicht nach Ludorf zurückzukehren, sondern gleich bei ihr und Julchen zu bleiben.
»Ich muss doch die Katzen füttern«, hielt Ulli dagegen.
»Ach, die kriegen auf dem Zeltplatz genug zu fressen, und ich meine, ich hätte mal irgendwo gelesen, dass die eine oder andere Maus auch nicht schadet …«
Schließlich gab er nach. »Ich hole Julchen drüben bei der Oma ab und gebe Bescheid, dass in Hamburg alles gut gelaufen ist«, bot er Jenny an und stellte ihr Gepäck vor dem linken Kavaliershäuschen ab. »Währenddessen kannst du schon mal deinen Koffer auspacken.«
Wenig später erschien er mit der blassen und sehr stillen Jule und einer Wärmekanne. Darin war Kamillentee. Simon hatte seine Tochter zu einem Ausflug mitgenommen und sie wie üblich mit allerlei Zeug vollgestopft.
»Ich hab gespuckt«, erzählte sie, nachdem sie ihre Mama etwas weniger stürmisch als sonst umarmt hatte. »Die gebrannten Mandeln und das Eis und die Gummibärchen, das Stück Kuchen und die Limo. Und dann noch das Würstchen mit Ketchup und die Pommes …«
»Großer Gott!«, stöhnte Jenny. »Geht’s jetzt besser?«
»Mein Bauch ist immer noch etwas grummelig.«
»Dann legst du dich jetzt schön in dein Bett zu deinem Plüschhund«, schlug Ulli vor. »Und ich lese dir Geschichten vor. Ja?«
Der kleine Plüschhund, den ihr Kacpar geschenkt hatte, war immer noch ihr liebstes Kuscheltier und durfte nicht fehlen, wenn sie zu Bett ging. Ullis Vorschlag gefiel Jule, sie nickte brav und verlangte: »Aber Mama bleibt bei mir im Haus, und ich darf die Geschichte aussuchen!«
»Einverstanden.«
»Und du musst an meinem Bett sitzen, bis ich eingeschlafen bin.«
»Mach ich.«
Jenny war wieder einmal der Ansicht, dass ihre Tochter den gutmütigen Ulli ganz schön um den Finger wickelte, dennoch fand sie es bezaubernd, wie die Kleine im Bett saß und brav ihren Kamillentee trank, während sich Ulli große Mühe gab, die Geschichten mit viel Stimm- und Körpereinsatz vorzutragen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Julchen müde wurde und sich mit ihrem Hund im Arm in die richtige Schlafposition legte.
»Noch eine Geschichte, Ulli«, nuschelte sie.
Ach je – sie hatte schon wieder den Daumen im Mund! Jenny beschloss, heute ausnahmsweise über diese Tatsache hinwegzusehen, und ging in die Küche, um den Sekt aus dem Kühlschrank zu nehmen. Ihre Rückkehr aus Hamburg musste gefeiert werden. Sie suchte zwei Sektgläser und stellte alles im Wohnzimmer bereit. Kurz darauf kam Ulli auf Zehenspitzen aus dem Kinderzimmer geschlichen und hielt den Zeigefinger vor die Lippen.
»Leise«, flüsterte er. »Sie ist gerade eingeschlafen. Ich habe ewig gebraucht, um meinen rechten Daumen aus ihrem Klammergriff zu befreien.«
Jenny lachte und öffnete den Sekt. Mit einem kräftigen »Plopp« flog der Korken an die Decke. Ulli fuhr erschrocken zusammen, aber im Kinderzimmer blieb alles ruhig.
»Wenn sie mal schläft, dann kann ein Flugzeug neben ihr starten – sie wacht nicht auf!«
Sie goss ein und reichte Ulli eines der Gläser, dann hob sie ihren Sektkelch und stieß mit ihm an.
»Willst du etwa schon deine Klausuren feiern?«, fragte er ein wenig erstaunt.
»Um Himmels willen! Nein, ich will uns beide feiern. Dich und mich!«
Das ließ er sich gefallen. Sie tranken einander zu, dann nahm er ihr das Glas weg und wollte sie küssen.
»Stopp!«, sagte sie und hielt ihn fest. »Erst habe ich dir etwas zu sagen, Ulli Schwadke.«
Er sah sie neugierig an, und ein glückliches Lächeln zog über sein Gesicht.
»Sag bloß, Mädel. Mensch, wie ich mich freue!«
Ach je. Das hatte er völlig in den falschen Hals bekommen. Sie war doch nicht schwanger! Wozu nahm sie die Pille?
»Sei doch mal still und hör mir zu!«, forderte sie ungeduldig. »Ich möchte dir nämlich eine Frage stellen.«
»Was denn für eine Frage?«
Gott, waren Männer unromantisch. Da ergriff sie schon die Initiative, und er redete ständig dazwischen.
»Ob du mich heiraten willst, du Dummkopf. Das will ich dich fragen.«
Er schien komplett überrumpelt und wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich nahm er sie in die Arme und drückte sie ungestüm an sich.
»Ach, Jenny!«, flüsterte er ergriffen und küsste sie. »Das ist so wunderbar, dass du mich das fragst. Ich wollte dich ja schon die ganze Zeit über zum Altar zerren, aber du hast immer gemeint, es wäre nicht der richtige Moment …«
»Aber jetzt ist der Moment gekommen, Ulli«, sagte sie und erwiderte seinen Kuss. »Ich bin mir ganz sicher, dass wir beide es schaffen können.«
Er schwieg ein Weilchen, als müsse er all das erst einmal verdauen, dann räusperte er sich umständlich. »Weißt du, Jenny«, murmelte er. »Ich glaube, wir sollten noch warten. Ich will auf keinen Fall, dass du in diese dumme Gerichtsangelegenheit verwickelt wirst. Lass uns noch einmal darüber reden, wenn das alles vorbei ist. Ja?«