Jenny
»Was ist denn los?«
Ulli hob schlaftrunken den Kopf aus den Kissen und fuhr sich mit der Hand durch die verwuschelten Haare. Jenny schloss die Badezimmertür hinter sich und kroch zurück ins Bett.
»Hat mich wohl auch erwischt, diese verflixte Magenverstimmung. Die Kleine fängt sich im Kindergarten aber auch alles ein.«
»Ach herrje!«, seufzte er und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss ja schon bald los! Bleib liegen, Schatz. Ich mach dir noch schnell einen Kamillentee, bevor ich fahre.«
Bei dem Gedanken an den faden Teegeschmack wurde Jenny schon wieder übel.
»Keinen Tee«, bat sie. »Aber es wäre riesig, wenn du Julchen rüber zu Franziska und Walter bringen könntest.«
»Ich kann sie auch in den Kindergarten fahren.«
»Der hat zu«, sagte sie mühsam und setzte sich auf. »Es haben sich nämlich nicht nur Julchen und ich angesteckt. Überhaupt weiß Mücke gar nicht, ob sie nach dem Sommer weitermachen soll. Die schicken ihre Kinder jetzt alle in den neuen Kindergarten in Waren. Der bietet allerhand Schnickschnack, frühkindliche Förderung und so ’n Zeug. Ist ja schön und gut, aber müssen die alle schon mit spätestens drei mehrere Fremdsprachen sprechen und ein ganzes Orchester an Musikinstrumenten beherrschen? Einfach nur spielen und dabei eigene Fähigkeiten und Grenzen entdecken tut’s doch auch.« Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen und wartete darauf, dass der Brechreiz aufhörte. Widerlich. Bei den Erwachsenen dauerte es zwei Tage, hatte sie neulich im Wartezimmer der Kinderärztin gehört. Die Kleinen steckten so was schneller weg. Aus dem Kinderzimmer war Julchens verschlafene Stimme zu vernehmen.
»Mama!«
»Gleich, Julchen«, antwortete Ulli. »Heute Morgen helfe ich dir, Mama hat Magengrimmen, genau wie du vor Kurzem. So, erst ins Bad, Pipi machen und Zähne putzen. Und dann anziehen …«
Ulli hatte eine ruhige Art, mit der Kleinen umzugehen. Er konnte überhaupt gut mit Kindern. Wenn er in Ludorf mit den Booten beschäftigt war, standen die Zeltplatzkinder immer um ihn herum.
Langsam ließ die Übelkeit nach. War wohl doch nicht die ganz schlimme Form von Magen-Darm, nur die leichte. Hoffentlich. Sie setzte sich auf, wartete, bis das Badezimmer frei war, dann stand sie auf, um zu duschen. Als sie in Ullis gestreiftem Bademantel in die Küche trat, war Julchen schon zu Franziska und Walter gelaufen, und auf dem Küchentisch stand ein dampfender Becher Kamillentee.
»Hilft immer«, behauptete Ulli. »Hat mir Mine gekocht, wenn ich krank war.«
»Danke.«
Sie setzte sich vor das Gebräu, und eine verschüttete Erinnerung stieg in ihr auf. Ihre Mutter in Jeans und Schlabberpulli, ein blaues Baumwolltuch um den Hals gebunden. Stand vor ihr und hielt ihr eine Tasse mit Kamillentee vor die Nase.
»Trink das«, hatte Conny gesagt. »Na komm, Jenny, das wird schon wieder …«
Tatsächlich. Ihre Mutter hatte ihr Kamillentee gekocht. Sie hatte ihr auch liebevoll über den Kopf gestrichen, sie ins Bett gebracht und ihr eine Entschuldigung für die Schule geschrieben. Wie komisch, dass sie sich gerade jetzt daran erinnerte, nachdem sie es jahrelang vergessen hatte. Es musste an Ulli liegen. Seitdem sie wusste, dass Ulli der Richtige war und dass sie zusammenziehen würden, kam sie auch mit ihrer Mutter besser zurecht. Klar hatte Cornelia damals eine Menge falsch gemacht – aber wem nützte es, wenn sie ein Leben lang darüber jammerte? Jenny war froh, dass sie über ihren Schatten gesprungen und nach Binz gefahren war.
»Ich muss jetzt los, Schatz«, sagte Ulli und spülte seinen Kaffeebecher sauber. »Bei dem Wetter herrscht Hochbetrieb, da kann ich die Angestellten nicht allein lassen.«
Er beugte sich zu ihr herunter, um sie zu küssen, aber sie wich ihm aus.
»Lieber nicht, Schatz. Ich will dich nicht anstecken.«
»Ist mir egal!«
Er küsste sie auf die Wange und wandte sich zum Gehen, doch sie hielt ihn am T-Shirt fest.
»Um fünf haben wir einen Termin bei Bernd, vergiss es nicht.«
»Alles klar!«
Sie hatte ihm neulich den Kopf zurechtsetzen müssen. Hatte er doch tatsächlich befürchtet, bei dem Grundstückskauf sei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen. Dass der Max womöglich nicht mehr ganz zurechnungsfähig gewesen war. Dabei war das absoluter Unsinn! Sie hatten Mine und Karl-Erich zurate gezogen, und die beiden hatten ihm klipp und klar versichert, dass der Max zwar nach dem Tod seiner Frau erkrankt war, aber wirr im Kopf war er nie gewesen. Der hatte immer genau gewusst, was er tat. Dass Ulli das Grundstück bekommen sollte, hatte er schon mit Mine besprochen, als der Junge noch vorgehabt hatte, in Bremen Fuß zu fassen. Der Max hatte sich nicht beirren lassen: Ein richtig großer Betrieb sollte in Ludorf entstehen, mit Zeltplatz, Laden und Bootsverleih, und dafür war Ulli der richtige Partner. Weil er ein anständiger Kerl war und dazu noch etwas von Schiffen verstand. Außerdem liebte er seine Heimat – was wollte er da in Bremen? Und weil Max nicht wusste, wie lange er noch leben würde, wollte er alles von vornherein an Ulli verkaufen. Alles anständig regeln. Damit es später unter seinen Kindern keinen Streit gab.
Ulli war verblüfft gewesen. Dass Mine damals beim Grundstückskauf mit Max unter einer Decke gesteckt hatte, hatte er ja gewusst, dass die beiden auch schon den ganzen Betrieb mit Zeltplatz und Booten im Sinn gehabt hatten, war ihm dagegen neu. Das war ja ein richtiges Komplott gewesen.
»Eine ganz Ausgefuchste bist du, Großma«, meinte er und kratzte sich im Genick, weil er nicht recht wusste, was er davon halten sollte.
»Das ist sie«, pflichtete Karl-Erich seinem Enkel bei. »Die Mine, die darf man nicht unterschätzen. Hat mich damals auch eingefangen, damit ich nicht mehr weglaufen konnte.«
»Und?«, fragte Mine lächelnd. »Hast du es je bereut?«
»Na ja«, erwiderte Karl-Erich gedehnt und tat so, als müsse er nachdenken. Als Mine jedoch ein empörtes Gesicht machte, schmunzelte er und rieb ihr mit der krummen Rheumahand die Schulter. »Nee, nee … Hast das richtig gut hingekriegt, Mine. Das mit mir sowieso. Und auch das mit Ulli!«
»Worüber ich mir aber wirklich Sorgen mache«, gab der zu bedenken, »ist, dass die anderen denken, ich hätte ein Unrecht begangen und den Max damals über den Tisch gezogen. Stellt euch mal vor, wenn sich das rumspricht und mir die Gäste wegbleiben!«
»So weit kommt’s noch! Dann werden die mich aber kennenlernen, die alten Klatschmäuler!«, hatte Mine gerufen. »Ich bin zwar alt, aber hier in Dranitz wird mir oder meinem Enkel keiner krumm kommen, und in Ludorf auch nicht.«
Als sie sich von den beiden alten Leuten verabschiedet hatten, war Ulli schon ruhiger gewesen und hatte ein gutes Stück zuversichtlicher in die Zukunft geblickt.
Heute Nachmittag würden sie mit Bernd bereden, wie man mit dieser dämlichen Strafanzeige umgehen sollte. Hoffentlich war sie bis dahin einigermaßen fit, damit sie sich konzentrieren konnte. Jenny atmete tief und zwang sich, einen winzigen Schluck von dem heißen Tee zu nippen. Die Küche der alten Wohngemeinschaft stieg vor ihrem inneren Auge auf, der wackelige Küchentisch mit den eingekerbten Namen und Symbolen, der verklebte Gasherd, den nie einer sauber machte, die altmodischen Küchenschränke, die irgendwer grün und lila bemalt hatte. Auf dem Tisch lagen immer Bücher und Zeitschriften herum, angefangene Notizen, angebissene Brote, Becher mit kaltem Kaffee und jede Menge Krümel. Wie komisch, dass sie jetzt Heimweh nach der alten WG bekam. Es musste daran liegen, dass sie krank war.
Das Telefon riss sie aus den nostalgischen Betrachtungen. Leicht gereizt griff sie nach dem Hörer und meldete sich mit matter Stimme.
»Jenny?«, hörte sie ihre Mutter fragen. »Ich bin’s, Conny. Stell dir vor, mir ist was dazwischengekommen.«
Es klang ziemlich gehetzt, so als stünde sie mit zwei Koffern vor dem Auto und fände den Schlüssel nicht. Oder an der Hotelrezeption, denn in diesem Moment verstummte im Hintergrund ein klingelndes Telefon, und eine sonore Stimme fragte: »Seehotel Binz, Rezeption, Klüver mein Name, was kann ich für Sie tun?«
»Mama? Was meinst du mit ›dir ist etwas dazwischengekommen‹?«
»Mein Besuch bei euch«, sagte ihre Mutter. »Es klappt nicht. Ich muss schnell rüber nach Hannover, weil diese Schwachköpfe in der Firma Mist gebaut haben. Hätte ich mir ja denken können, dass diese Frischlinge das nicht auf die Reihe kriegen. Pass auf, ich regele das, und wenn ich damit durch bin, hole ich den Besuch nach.«
Tiefe Enttäuschung machte sich in Jenny breit. Na klar. Auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Gerade hatte sie noch eine gute Meinung von ihrer Mutter gehabt, hatte sogar Hoffnungen in sie gesetzt – jetzt kippte alles zusammen wie ein Kartenhaus. Mama war eben Mama. Dachte immer nur an sich selber.
»Na schön. Wenn du die Jungstars in deiner Firma zusammenstauchen musst – viel Glück!«
Es klang bissig, aber sie war heute nicht gut drauf und konnte sich nicht verstellen. Zum Glück schien ihre Mutter die Ironie nicht zu bemerken.
»Kann ich brauchen«, gab sie zurück. »Ach ja – bevor ich es vergesse: In den nächsten Tagen wird Bodo bei euch vorsprechen. Stell dir vor, der arbeitet hier in Binz im Seehotel und ist kreuzunglücklich. Wusste ich doch, dass mir der Name bekannt vorkam, als ich das Zimmer gebucht habe; der Bodo hatte das Hotel erwähnt, als ich an Walters Geburtstag mit ihm gesprochen habe. Allerdings hatte er sich den Job hier wohl anders vorgestellt. Stress ohne Ende, sagt er. Er kommt kaum zum Schlafen. Und außerdem darf er nur Gemüse kochen.«
Bodo? Doch nicht etwa Bodo Bieger, dieser eigensinnige Küchenzwerg, der sich geweigert hatte, die Eier vom Ökobauernhof zu verarbeiten, obgleich die frischer waren als die vom Markt? Na, egal – hatte sich eh erledigt. Es gab keinen Ökobauernhof mehr.
»Will der etwa wieder bei uns anfangen? Das kann er vergessen, Mama. Einen Angestellten, der alles hinschmeißt und uns im Stich lässt, den stellen wir nicht wieder ein.«
Sie hörte, wie Cornelia jemanden anwies, den Koffer vorsichtig zu tragen und die Tasche nicht zu kippen. Ob die Rechnung fertig sei?
»Mach langsam, Jenny«, sagte ihre Mutter in den Hörer. »Erstens ist er ein guter Koch, zweitens bereut er seine Kündigung, und drittens – das ist ein nicht unwesentlicher Punkt –, drittens wird er nur moderate Gehaltsforderungen stellen.«
Jenny spürte wieder eine Welle der Übelkeit in sich aufsteigen und atmete tief ein und aus. Es half.
»Ich weiß nicht. Soll er halt mit Oma reden. Ich kann den Kerl nun einmal nicht ausstehen.«
»Hm«, sagte Cornelia am anderen Ende der Leitung. »Ich bin der Meinung, dass er eine zweite Chance verdient. Überlegt es euch. Oder habt ihr schon einen anderen eingestellt?«
»Nein. Sind alle zu teuer, und tausend Ansprüche haben sie auch …«
»Na also! Ich muss jetzt los, Jenny. Ich melde mich. Grüß meine süße kleine Julia von mir! Auf bald!«
»Auf bald, Mama …«
Aufgelegt. Na immerhin schien Cornelia sich Gedanken um Dranitz zu machen. Und sie dachte liebevoll an ihre Enkelin – damit hatte sie wieder ein Stückchen von Jennys Herz gewonnen.
Auf einmal verspürte sie Appetit auf ein anständiges Frühstück. Sie stand auf, kippte den Tee in den Ausguss und kochte sich einen ordentlichen Kaffee. Nahm Marmelade, Butter, Schinken und drei Eier aus dem Kühlschrank, steckte zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster und machte sich Rührei. Ihrem Magen ging es blendend, vielleicht war ihr einfach nur vor Hunger schlecht gewesen. Satt und gut gelaunt zog sie sich an, kämmte das feuchte Haar und ließ es offen, damit es in der Sonne trocknete, dann lief sie hinüber zu Franziska und Walter, um Julchen abzuholen.
Sie traf nur Walter an, der noch im Morgenmantel war und eine Menge Fotokopien auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet hatte.
»Julchen? Die ist mit Franziska und Falko runter zum See. Jörg ist auch mitgelaufen, er hat einen Dampfer mit Fernsteuerung, den wollen sie ausprobieren.«
Das passte Jenny eigentlich nicht, weil sie Julchen mit nach Ludorf nehmen wollte. Auf der anderen Seite wollte sie dem achtjährigen Jörg, Julchens bestem Freund, nicht die Freude verderben, sein Boot vorzuführen – immerhin hatte er große Ferien und seinen Spaß redlich verdient. »Und was liest du da Schönes, Walter? Wieder mal alte Chroniken?«
»Einen Schatz habe ich gehoben, Jenny«, antwortete er schmunzelnd. »Stell dir vor, es gibt eine Heiligengeschichte, die möglicherweise mit diesem Kloster zu tun hat. Ich bin gerade dabei, meine verschütteten Lateinkenntnisse aufzufrischen, um den Text lesen zu können. Er ist hochspannend!«
Jenny musste über seine Begeisterung lächeln. Was konnte an einer Heiligengeschichte »hochspannend« sein? Aber es war schön, dass er sich in seinem Alter noch geistig fit hielt und sogar wieder Latein lernte.
»Außerdem könnte es sein, dass eine der Äbtissinnen des Klosters mit der Familie von Dranitz weitläufig verwandt war.«
»Na, so was … Ich fahr dann mal, Walter. Sag Oma liebe Grüße. Mama hat angerufen, es kann sein, dass dieser Bodo Bieger hier auftaucht und seinen alten Job zurückhaben will. Ich halte mich da raus.«
»Also mir hat’s bei ihm hervorragend geschmeckt! Wenn er tatsächlich wieder herkommt, sollten wir ihm unbedingt eine zweite Chance geben.«
Also stand Cornelia gar nicht so allein auf weiter Flur mit ihrer Meinung. Vielleicht sollte sie selbst auch noch mal darüber nachdenken?
Jenny beeilte sich, zu ihrem Auto zu kommen. Vielleicht gönnte sie sich in Ludorf eine Portion Pommes mit Mayo. Und dazu einen leckeren Cappuccino, den machte die Angestellte am Imbiss ganz grandios mit Milchschaum und aufgestreutem Kakao. Das Wetter schien allerdings umzuschlagen. Während sie Richtung Ludorf fuhr, eilten immer größere Wolkenschatten über die Äcker, und die Gerste wogte wie ein sturmgepeitschtes Meer. Ach wie schade. Das würde den Urlaubern bestimmt die Freude an einer Bootsfahrt verderben. Heute schien trotz des eher wechselhaften Wetters eine Menge los zu sein. Als Jenny auf den Parkplatz fuhr, sah sie die Zeltplatzleute am Ufer und auf den Bootsstegen stehen, sie winkten und gestikulierten, einige waren auch dabei, in die Ruderboote zu steigen. War heute etwa ein Wettrudern angesagt? Das hatte der Ulli vor einigen Wochen schon einmal veranstaltet, und es hatte mehr Teilnehmer als Boote gegeben, sodass man mehrere Durchgänge organisieren musste.
Sie stieg aus und wollte zum Ufer hinüberschlendern, als sie Elke aus dem Kiosk herausrennen sah, Max’ alten Feldstecher, den er unter der Kasse aufbewahrt hatte, in der Hand.
»Da ist was passiert! Da hinten, fast am anderen Ufer!«, rief sie aufgebracht, hielt sich den Feldstecher vor die Augen und zeigte mit dem Arm auf den See. »Ein Hausboot ist am Absaufen!«
»Waaas?«
Tatsächlich war auf der anderen Seite der Binnenmüritz nicht weit vom Ufer entfernt eines von Ullis Hausbooten zu sehen. Zwei Personen standen vorn beim Steuer und gestikulierten wild, eine junge Frau hielt ein Kind im Arm. Um Gottes willen – was war da los?
»Gib mal her!«, drängte Jenny und nahm Elke den Feldstecher aus der Hand. »Aber das liegt doch ganz normal im Wasser!«, fand sie.
Elke stand jetzt neben ihr. Sie zitterte vor Aufregung.
»Aber die Leute haben gesagt, das Boot würde sinken. Da wäre was passiert. Im Stauraum unten, wo der Motor und das Steuerruder sind.«
Jenny konnte sehen, dass das erste der Ruderboote inzwischen das Hausboot erreicht hatte. Klar – das war Ulli. Jetzt warf er den Personen auf dem Boot die Leine zu, damit sie sie an der Reling festbanden. Dann enterte er das Hausboot, und sie redeten miteinander. Puh, waren die aber wütend. Sie sah, wie Ulli beschwichtigende Gesten machte, dann wollte er die Bodenklappe öffnen, aber sie hinderten ihn daran.
»Siehst du?«, flüsterte Elke. »Da unten ist was nicht in Ordnung. Mensch, hoffentlich gehen die jetzt nicht alle miteinander unter. Mein Vater hat immer gesagt, dass die Müritz ein ganz tückischer See ist. Voller Untiefen. Und an manchen Stellen, da käme plötzlich Wind auf und die Wellen gingen meterhoch …«
»So ein Quatsch!«, schimpfte Jenny. »Du kannst doch sehen, dass das Boot ganz ruhig im Wasser liegt. Nur die Leute darauf, die scheinen komplett durchzudrehen. Komm, wir gehen mal zu den Bootsstegen!«
»Aber der Kiosk …«, wandte Elke ein.
»Schließ einfach zu. Jetzt kommt sowieso keiner«, riet ihr Jenny. »Die sind alle drüben am Ufer.«
»Aber an der Bushaltestelle sind welche …«
»Und wenn schon …«
Sie wartete, bis Elke den Kiosk verschlossen hatte, und verfolgte währenddessen die weiteren Vorgänge auf dem See. Jetzt hatten auch andere Ruderer das Hausboot erreicht, und die Frau mit dem Kind kletterte in eines der Ruderboote. Ihre beiden Begleiter verließen nach einiger Zeit ebenfalls das Hausboot, nur Ulli blieb darauf zurück. Jenny konnte sehen, dass er die hintere Bodenklappe geöffnet hatte und in den Motorraum schaute. Irgendwie war ihr jetzt doch mulmig – hoffentlich war da unten nur ein kaputter Motor und nichts, was ihm gefährlich werden konnte.
»Schau mal«, sagte Elke und gab ihr einen Briefumschlag. »Das hat an der Scheibe vom Kiosk geklebt. Hab ich gerade erst gesehen.«
Jenny nahm den weißen Umschlag mit spitzen Fingern. Oben war noch der Rest von dem Klebestreifen, mit dem ihn jemand an der Glasscheibe des Kiosks befestigt hatte.
»Mensch!«, sagte sie zu Elke. »Und du hast keinen Schimmer, wer das Teil an die Scheibe geklebt hat?«
Elke zuckte die Schultern.
»War doch an der Seite, da stehen die Kartons mit dem Kaugummi davor«, sagte sie entschuldigend.
Der Umschlag war zugeklebt. Jenny riss ihn auf. Mehrere Blatt Klopapier, das ganz sicher aus den Toiletten des Zeltplatzes stammte, kamen zum Vorschein.
»Wohl ein Scherzkeks, wie?«, meinte Elke.
»Weiß nicht«, sagte Jenny.
Auf eines der Blätter waren drei Schnipsel Zeitungspapier geklebt. Mit viel Mühe konnte man die beiden Worte lesen.
Erste War nung
»Sag ich doch. Bestimmt eines der Kinder, die machen manchmal so Suchspiele. Oder sie spielen Mörder und Kommissar …«
»Und die kleben dir das an den Kiosk?«
»Warum nicht?«, fragte Elke. »Denen fällt doch immer was Neues ein. Aber jetzt komm, wir gehen runter zu den Bootsstegen.«
Dort herrschte immer noch große Aufregung. Einige Gäste, die Jenny kannten, liefen ihr entgegen, und sie bekam ein wildes Durcheinander von Beobachtungen, Tatsachen und Gerüchten zu hören.
»Das ist was explodiert. Der Knall war bis hierher zu hören!«, rief eine mollige Frau in einem blauen Jogginganzug.
»Und Rauch ist aufgestiegen«, fügte ein dunkelhaariger Teenager, vermutlich ihr Sohn, hinzu. »Wahrscheinlich hat es unter Deck ein Feuer gegeben.«
»Ich hab sie gesehen …«, ließ sich ein älterer Herr aufgeregt vernehmen.
»Und dann ist einer von denen ins Wasser gesprungen …«
»Ja, der ist aber gleich wieder aufs Boot geklettert, weil die Frau ihn gerufen hat …«
»Ich hab sie doch gesehen. Alle beide …«
»Der Ulli, der ist gleich ins nächste Ruderboot gesprungen …«
»Der ist gerudert wie der Teufel …«
»Ich hab sie gesehen! Warum hört mir denn keiner zu? Die beiden Drecksäcke hab ich gesehen …«
Jenny war zunächst vollkommen durcheinander, weil alle gleichzeitig auf sie einredeten. Dann fiel ihr der ältere Herr auf, der sich verzweifelt Gehör zu verschaffen suchte, aber immer wieder von den anderen abgedrängt wurde. Sie kannte ihn gut, weil er jeden Morgen drei Brötchen und drei Mohrenköpfe kaufte. Zwei Mohrenkopfbrötchen für sich und eins für seine Frau.
»Was haben Sie da gesagt?«
Da sie ihn jetzt direkt ansprach, stand er auf einmal im Mittelpunkt.
»Ich hab gesagt, dass ich die Kerle gesehen habe!«, rief er überlaut. »Zwei waren es. Einer hat an dem Hausboot herumgemacht, das hab ich beobachtet. Der andere hat da vorn auf dem Steg gesessen und aufgepasst. Hab ich alles gesehen …«
Die Umstehenden machten ungläubige Gesichter, einige lachten.
»Was du da gesehen haben willst, Johann! Da sind doch immer Leute auf dem Bootssteg.«
»Aber nicht am frühen Morgen, wenn’s noch dämmrig ist«, wehrte sich der ältere Herr. »Da bin ich nämlich raus aus dem Zelt und runter zum Ufer. Weil ich mal musste …«
»Du pinkelst doch nicht etwa in den See, Johann?«
»Nee, wo werd ich denn!«, wehrte er ab. »Ich war bei den Toiletten und dann bin ich runter zum See. Frische Luft atmen …«
»Und da haben Sie zwei Männer gesehen?«, fragte Jenny ungeduldig. »Wie sahen die aus?«
»Die sahen aus wie die beiden, die der Ulli neulich wieder mal rausschmeißen musste. Die immer Bier schnorren und dann Ärger machen. So sahen die aus.«
»Der Berti und der Henning? Waren die nicht vorhin noch drüben an der Bushaltestelle?«
»Ach Quatsch! Das sind Alkis, aber völlig harmlos!«
Jenny wirbelte herum und schaute hinüber zur Bushaltestelle. Die Haltestelle war leer.
Jetzt kam auf einmal Bewegung auf, weil das erste Ruderboot am Landungssteg anlegte. Rocky hatte die Frau mit dem Kind im Boot, ein zweijähriger blonder Junge, der vollkommen verängstigt aussah. Seine Mutter schleppte ihn über den Bootssteg zum Ufer, Tränen liefen ihr über die Wangen, während der Kleine ein völlig verwirrtes Gesicht machte und nicht zu wissen schien, ob er lachen oder weinen sollte.
»Wir müssen die Polizei rufen«, stammelte sie leichenblass. »Wir müssen sofort die Polizei rufen! Eine Bombe, das war ja ein regelrechter Mordanschlag! Dabei wollten wir doch nur Vatis Geburtstag feiern …«
»Bombe, bumm!«, wiederholte der Kleine und hielt sich bei der Erinnerung daran die Ohren zu.
Rocky redete beruhigend auf sie ein und führte sie zum Imbissstand, wo Helga, eine der Angestellten, ihr einen Köm und dem kleinen Jungen ein Eis brachte. Mit angstgeweiteten Augen kippte die Frau ihren Schnaps und wartete auf ihren Mann und den Schwiegervater, die sich kurz darauf an Land gebracht wurden.
»Eine Bombe?«, fragte jemand ungläubig.
»Wohl eher ein Feuerwerkskörper«, stellte der Ehemann klar. »Es hat geknallt, und dann ging gar nichts mehr. Steuerruder kaputt, Motor aus.«
Jenny spähte durch den Feldstecher hinüber zu dem beschädigten Hausboot. Ulli hantierte an Deck herum, dann kletterte er wieder ins Unterdeck. Sie machte sich Sorgen um ihn. Wer konnte schon wissen, ob nicht irgendwo ein weiterer Sprengkörper versteckt war?
Tom trat zu ihr. »Ich hab die Polizei angerufen«, sagte er zu ihr. »Die kommen gleich rüber.«
Sie hatte jetzt keine Ruhe mehr, stand auf dem Bootssteg und winkte Ulli ungeduldig zu. Es dauerte eine Weile, bis er sie bemerkte, dann kletterte er endlich ins Ruderboot und machte die Leine los. Gott sei Dank! Sie wich nicht von der Stelle, während er auf den Bootssteg zuhielt. Er hatte kräftig mit den Wellen zu kämpfen, und sie erinnerte sich an jenen verrückten Tag vor ein paar Jahren, als er bei Blitz und Donner über den Dranitzer See gerudert war. Auch damals hatte sie Angst um ihn gehabt, aber heute war es anders. Sie starb fast vor Sorge, wäre ihm am liebsten entgegengeschwommen, und als er endlich den Bootssteg erreichte, war sie in Tränen aufgelöst.
»Was ist denn los mit dir, Schatz?«, murmelte er, als sie sich schluchzend in seine Arme stürzte. »Hattest du etwa Angst um mich?«
Weil sie keine Antwort gab, küsste er sie tröstend und wollte wissen, ob ihr Magen wieder in Ordnung sei.
»Alles bestens«, schniefte sie. »Ich brauche jetzt einen Köm. Für Magen und Nerven.«
»Ich auch!«
Um Ufer applaudierte die wartende Menge, als Ulli vom Bootssteg trat.
»Mensch, Junge«, sagte einer der Zeltplatzgäste und klopfte ihm auf die Schulter. »Hatten schon Angst, du würdest uns in die Luft gesprengt werden.«
»Haben Sie einen Sprengkörper gefunden? Eine Bombe?«, fragte eine rüstige ältere Frau mit Badekappe und hektischen Flecken im Gesicht.
»Na ja, wohl eher mehrere zweckentfremdete Silvesterböller«, präzisierte Ulli und zog Jenny an der Hand hinter sich her zum Imbissstand. »Silvesterböller mit einem ganz simplen Zeitzünder. Da liegen Teile von einem elektrischen Wecker«, berichtete er. »Der Böller hat die Kabel von der Ruderanlage erwischt. Der Motor ist in Ordnung. Aber wenn es den Tank zerfetzt hätte … prost Mahlzeit!«
Es herrschte große Anteilnahme. Alle wollten die Details wissen, und als Ulli berichtete, wie er die zerfetzten Böller entdeckt hatte, wurde Jenny schon wieder schlecht. Sie warf einen Blick auf die Pommes, die Helga vor sie hingestellt hatte, sprang auf und rannte eilig zu den Waschräumen.
Als sie wiederkam, setzte sich Elke Stock neben sie. »Mensch, Jenny, du siehst aus wie ausgespuckt. Ist alles in Ordnung mit dir?«
Jenny nickte und sah zu Ulli hinüber, der eifrig mit dem älteren Herrn – Johann – über dessen Beobachtungen sprach.
»Geht schon, danke«, beruhigte sie Elke. »Mir wird seit Neuestem öfter übel. Aber ist ja auch kein Wunder – die Aufregung, die Hitze, dann geht auch noch Magen-Darm um, Julchen hatte sich gerade erst was eingefangen.«
Elke Stock musterte sie durchdringend, dann verzog sie die Lippen zu einem Grinsen und flüsterte so leise, dass kein anderer es hörte: »Bist du dir sicher, dass du nicht schwanger bist?«