Gegen Morgen meint sie draußen Motorengeräusche zu hören, ein Flugzeug, wie sie annimmt, ein feindliches Etwas, das auf der Suche nach ihr ist, aber sie zu ihrem Glück oder Unglück nicht findet.

Eine Weile denkt sie darüber nach. Niemand weiß, wann genau sie kommen, aber dass sie kommen, ist so gut wie gewiss. Sie werden immer neue Waffen erfinden und jeden Landstrich mit unlöschbaren Feuern überziehen, in denen alles und jeder zu Schutt und Asche wird, die Bäume, Pflanzen, schreiende Kinder, Vögel, die Häuser, ihre Bewohner, die es ausnahmslos treffen wird, ohne Ansehen von Geschlecht und Alter, wieder und wieder, bis das Land von einer riesigen Armee von Toten bevölkert ist und überall öde Leere herrscht, in einem auf Jahrzehnte unbewohnbaren Gebiet.

Unter Umständen gefällt ihr ja etwas daran.

Sie möchte ungern selbst in diesen Feuern sein, aber den Tabula-rasa-Zustand findet sie interessant; absolut entsetzlich, aber interessant. Denn irgendwelche Menschen werden alles neu aufbauen, und was ist das für ein Versprechen, dass man alles neu aufbauen kann, neu denken, neu entwerfen, nicht nur die Häuser, Straßen, Städte, auch den Menschen selbst, seine Seele, so es

Leonard würde sie auslachen für solche Überlegungen, wenn man sie Überlegungen nennen darf, da es ja eigentlich nur Bilder sind, innere Zustände, Möglichkeiten, weil doch immerzu alles möglich bleibt, wie unwahrscheinlich es derzeit auch scheint. Der Mensch selbst ist so eine unwahrscheinliche Möglichkeit, dass es Leben gibt, das All, die Sterne, hier, in ihrem Bett, diesen Moment, dass es diesen einen, einzigen Moment gibt, und das Ich, das in diesem Moment wohnt und jederzeit mühelos zum nächsten geht und von dort zum übernächsten.

Und jetzt, na endlich, findet sie in den Schlaf. Es ist früher Morgen, weit nach sechs, wir haben Gelegenheit, sie länger zu betrachten, ungefähr aus der Position, aus der Leonard sie später betrachten wird, auf halbem Weg zwischen Tür und Bett, die schlafende, müde Frau, die sie ist, das alternde Mädchen, das nicht schön anzusehen ist, so mit offenem Mund und eingefallenen Wangen.

Ihre Haare sind von gestern ziemlich verstrubbelt. Augenscheinlich hat sie sich, wenn überhaupt, nur flüchtig gekämmt, sie achtet nicht gut auf sich, lässt sich gehen,

Ihr Atem geht ganz ruhig. Fast möchte man bezweifeln, dass sie atmet, zumindest gibt es vorläufig keinen echten Beweis dafür, und so beugen wir uns ein wenig vor, damit wir besser hören, welche Geräusche sie macht, und wirklich hören wir jetzt recht gut ein vages Rascheln oder Schaben, dann eine Weile nichts, bevor wir endlich ihren Atem zu fassen kriegen, der nicht so flach ist, wie man hätte glauben können.

Er ist völlig normal, nicht wahr? Es gibt einen stabilen Rhythmus, das regelmäßige Ein und Aus, was ja bedeutet, dass man sich um das struppige Wesen derzeit keine Sorgen machen muss, es lebt, es ist nicht weggelaufen, es ist da und wartet auf den Ehemann, der heute nach London muss, aber nicht ganz gleich.

Er ist schon zum zweiten Mal in ihrem Zimmer. Das erste Mal hat sie es nur am Rand bemerkt, aber jetzt riecht es in unmittelbarer Nähe nach Tee und Orangenmarmelade: Der gute Leonard hat das Frühstück ans

Ja, danke, die Nacht war gut, sagt sie.

Die Nacht war so lala, sie macht sie entschieden besser, als sie gewesen ist, isst ein Stück von dem Brot mit Marmelade, nippt am Tee und spürt, wie sie wieder zappelig wird. Der Brief im Gartenhaus – oh weh – fällt ihr ein, und nein, sie hat ihn definitiv nicht mit in ihr Zimmer genommen; er liegt weiterhin auf dem Schreibtisch, weshalb sie jetzt vor dem Mann so tun muss, als wolle sie unbedingt arbeiten, es jedenfalls versuchen, die paar Stunden, die ihr laut Plan zur Verfügung stehen.

Offensichtlich freut sich der Mann, dass sie ans Arbeiten denkt, denn er nickt und klopft sich wie zur Bestätigung auf die Schenkel, bevor er aufsteht und sich auf den Weg nach London zu seinem wöchentlichen Termin in der Zeitschrift macht.

Sie hat keine Ahnung, worin seine Arbeit dort genau besteht, sicher hat sie es mal gewusst, aber jetzt fällt es ihr kaum ein. Sie hält nicht viel von seiner Arbeit, wenn sie ehrlich ist, wahrscheinlich aus Neid, aus Eifersucht, wie sie es nennt, weil er mit allem unverdrossen weitermacht, während sie sich von diesen verdammten Deutschen beeindrucken lässt.

Der Brief, das ist eine Erleichterung, liegt tatsächlich auf dem Schreibtisch, genau so, wie sie ihn tags zuvor hinterlassen hat. Sie könnte noch einmal lesen, was sie da in einer Art Wahn geschrieben hat, und erwägt das auch kurz, aber dann steckt sie den Brief lieber ungelesen zwischen einen Stapel Papiere.

Tja, und nun weiß sie nicht, was tun. Abwechselnd sitzt und geht sie, wechselt vom Stuhl auf den Sessel und wieder zurück auf den Stuhl, starrt nach draußen, wo die Bäume vom Wind bewegt werden, starrt auf das viele Papier, das auf dem Schreibtisch liegt, die Kratzer und Flecken, die ihr alle nichts sagen.

Nirgendwo sonst hat sie sich so wohlgefühlt wie in diesen Wänden, aber seltsam, sie weiß kaum mehr, warum. Sie sieht nur irgendwelche Gegenstände, die ihre Bedeutung verloren haben, als wäre sie bereits vor Jahren ausgezogen und nur noch einmal vorbeigekommen, um zu entdecken, dass alles nur Einbildung gewesen ist.

Wie gerne wäre sie jetzt die Virginia, die sie gewesen ist, wenn sie die Bücher ihrer Konkurrenten in die Finger bekommen hat und gleich auf den ersten Seiten

Wahrscheinlich wäre sie heute gar nicht mehr in der Lage dazu. Es fehlt ihr, scheint es, die Wut, das Feuer des Neids, der sie einst nach oben getrieben hat, ohne genau zu wissen, was dort oben sein würde, ein nie verlöschendes Licht, funkelnd und weich, etwas, in dem man zugleich sichtbar und verborgen war.

In diesem wolkigen Zustand hat sie lange gelebt. Und sie hat es genossen, so zu leben. Wo immer sie aufgetaucht ist, hat es ein leises Raunen gegeben – seht nur, da ist sie, sie ist mitten unter uns, sie gibt sich die Ehre, beugt sich zu uns herab und schenkt uns – einen Satz, ein Lächeln. Ist sie es wirklich? Was sie wohl über uns denkt? Ihr kleiner Hunderoman soll ja zum Verlieben

Sie hat keine Ahnung, wie es je möglich gewesen ist. Vielleicht hat sie ja all die Jahre unter dem Schutz der Götter gestanden, und dann verloren sie die Lust und machten sie zu dem haltlosen Niemand, der sie, ja leider, von Anfang an gewesen ist.

Gegen Mittag merkt sie, dass es ein Fehler gewesen ist, ins Schreibhaus zu gehen. Der Besuch hat ihr nicht gutgetan, nicht mal Leonard glaubt, dass solche Besuche derzeit von Nutzen sind.

Louie hat in der Küche eine Kleinigkeit zu essen vorbereitet, aber natürlich nützt auch das Essen nichts, sie spürt, wie sich in ihr schon wieder alles bereit macht, sie zu quälen. Die Liste der Symptome ist lang, sie kennt sie auswendig: die lästigen Kopfschmerzen, den jagenden Puls, die Unruhe und Nervosität, dazu in den Nächten das ewige Wachliegen, das sie mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln und Spaziergängen zu bekämpfen versucht, nicht selten vergeblich.

Leider taugt das Wetter derzeit nicht für Spaziergänge; bei der bloßen Vorstellung beginnt sie zu frösteln. Außerdem möchte sie sich da draußen nur ungern – wie soll man sagen – erklären, dem Fluss, den Göttern, die

Sie ist kein dankbarer Mensch; bei Leonard zum Beispiel bedankt sie sich so gut wie nie. Er hat müde ausgesehen, als er ging, alt und beinahe gebrechlich wie sie selbst, nur dass es sie bei ihm nicht stört. Im Gegenteil: Männer müssen ein gewisses Alter haben, sonst nimmt man sie nicht ernst, außerdem mag sie seine Furchen im Gesicht, das zerklüftete Gelände, das es ist und schon war, als sie ihn kennenlernte.

Sie haben seit Tagen nicht richtig miteinander gesprochen, fällt ihr auf; er fragt regelmäßig nach ihrem Zustand, ob sie etwas braucht, in welcher Sorge er ist, aber er bewegt sich nicht zu ihr hin, wahrscheinlich weil er spürt, dass sie das nicht will und im selben Moment nur das.

Leonard glaubt natürlich nicht an Götter. Er glaubt an Vernunft und Disziplin, er glaubt an harte Arbeit, an Botschaften, die man den Leuten einhämmern muss, während sie kaum erklären könnte, worüber sie all die Jahre geschrieben hat – über die Momente des Lebens vielleicht, ihr Kommen und Gehen, ihre Flüchtigkeit, ihre Präsenz.

Alles ist getupft bei ihr, auf eine flirrende Weise bunt, ohne erkennbare Linie, wohingegen bei Leonard

Dass er sich nicht weiter an Romanen versucht hat, ist wahrscheinlich der Grund, warum sie nie ernsthaft auseinandergegangen sind; hätte er es weiter mit Romanen versucht, wären sie längst auseinander. Denn es können zwei Menschen nicht unter einem Dach leben und Romane schreiben, davon ist sie überzeugt, dazu brauchen sie zu viel Platz, die Vielzahl der Stimmen, die Töne, Farben, die sich überallhin ausbreiten und nichts anderes neben sich dulden.

Wenn sie erst aus dem Weg ist, wird er es eventuell wieder versuchen, wobei sie ihm das im Ernst nicht raten möchte. Der Roman über seine Jahre als Kolonialbeamter in Ceylon war ja nicht schlecht, aber dann sein zweiter über die Zeit ihres Kennenlernens, in dem er sie als kaltes, egoistisches Monster porträtierte – er hat sie regelrecht schockiert, ja, aus der Fassung gebracht, was sie sich anfangs nicht eingestanden hat, aber dann doch, und kurz darauf brachte man sie in die Klinik, wo sie ihn lange nicht zu sich ließ und dann schlug und erst sehr viel später vergaß und das schreckliche Buch in sich begraben hat.

Sie weiß nicht, inwieweit er bis heute so über sie denkt, Wahrnehmungen verändern sich, ihre nicht weniger als seine. In den Anfangsjahren, als sie selbst ein Niemand war, hat sie ihn sehr bewundert und dann gut zehn Jahre genossen, dass sie beide auf je eigene Weise zu kleinen

Sie muss eine Weile in sich suchen, bis sie den Ärger von damals wiederfindet, aber siehe, er hat sich fast unversehrt erhalten, womöglich ist sie ja damals, als sie sich weigerte, die ehelichen Einkünfte wie bisher zu teilen, zu großzügig gewesen, denn geteilt werden sie bis heute, wenn auch erst ab einer gewissen Summe.

Leonard ist ein Schattenmann.

Er fährt einmal die Woche nach London, um sich über seine dumme Zeitschrift zu besprechen, er hält Reden für den Traum vom Sozialismus, er kümmert sich um sie, aber mit ihm tauschen möchte sie nicht, und wenn, dann nur in dem einen Punkt, dass er sein Leben akzeptiert, wie es ist, und dies, obwohl er von allem viel weniger hat als sie.

Als er gegen fünf zurückkommt, freut sie sich. Die Kopfschmerzen sind kein bisschen besser geworden, sie sind eher schlimmer, wenn sie nicht bald etwas unternimmt, werden sie unerträglich sein; sie muss an die frische Luft, am besten in Begleitung ihres Mannes, der auch gleich einwilligt und sie ermahnt, den Mantel bis oben zuzuknöpfen und Schal und Mütze zu nehmen, denn

Und so gehen sie. Anfangs ungefähr den Weg, den sie am Vortag gegangen ist, weiter links über die Moorwiesen, direkt am Fluss lieber nicht, weil sie ihm jetzt nicht begegnen möchte, obwohl ihre Blicke mehrfach hinüberwandern und sie ihn stumm und schüchtern begrüßt.

Ja, hier, ich bin da, ich gehe mit meinem Mann.

Jetzt, im späten Nachmittagslicht, schimmert das Ufer in einem zarten Violett. Die ersten Narzissen sind zu sehen, die unvermeidlichen Kühe, vereinzelt Krähen, von denen sie annimmt, dass sie Zeugen der gestrigen Szenen gewesen sind und sich eine unangenehme Meinung über sie gebildet haben.

Sie hat keine große Erfahrung mit Heimlichkeiten, von der Geschichte mit Vita abgesehen, wobei Leonard ja zu jedem Zeitpunkt alles gewusst hat, in groben Zügen jedenfalls.

Macht es die Sache besser, wenn der andere Bescheid weiß?

Sie kann von diesem anderen zu ihrem Mann nicht sprechen, obwohl er sicher auch darin seit Ewigkeiten Bescheid weiß, ahnt, dass es da jemanden gibt, und, wie es seine Art ist, kein Wort darüber verliert.

Tatsächlich ist es noch einmal fast schön, so mit ihm zu gehen. Leonard berichtet von seinem Termin, dem seltsam stillen Eindruck, den London auf ihn gemacht hat; zwischendurch nimmt sie länger seine Hand, damit er glaubt, dass sie in leidlich guter Verfassung und auch

Wenn sie ehrlich ist, ginge sie am liebsten allein. Man kann besser denken, wenn man allein ist, außerdem hat sie die Landschaft immer als die ihrige betrachtet, drüben den sanften Schwung der Hügel, die sie im Lauf der Jahrzehnte alle erklommen hat, die Wiesen, Weiden, Himmel, die Geräusche und Gerüche, die nur da sind, weil sie empfänglich für sie ist, und genau darin besteht ja wahrscheinlich ihr Unglück.

Wie wird es also enden, fragt sie irgendwann. Mit mir, mit uns beiden, diesem verdammten Krieg. Wird es jemals enden?

Ja, sagt er, obwohl sie offengelassen hat, was genau enden soll.

Trotzdem sagt er Ja. In ein paar Jahren, ich weiß nicht, sagt er. Er bittet sie um Geduld, mit sich, mit ihm. Es sind schwere Zeiten für alle, für das ganze Land.

Das ist ohne Zweifel wahr, sagt sie, die sich eine andere Antwort gewünscht hat; sie weiß nicht, wie sie weiterleben soll, während die Leute zwar um ihr Leben fürchten, aber jederzeit wissen, dass es weitergehen soll.

Plötzlich fühlt sie sich völlig schutzlos neben ihm. Er ist an ihrer Seite, ein gehender Mensch, der Mann, mit dem sie ein gemeinsames Haus bewohnt, aber er bietet ihr nicht den geringsten Schutz. Sie ist komplett auf sich allein gestellt, wie sie zu begreifen meint, die lange Ehe hat nicht das Geringste daran geändert.

Sie kann nicht erkennen, was sie jetzt noch retten soll,

Lass uns umkehren, sagt sie, also kehren sie um.

Auf dem Rückweg bläst ihnen der Wind direkt ins Gesicht, sie muss die Mütze festhalten, damit sie nicht davonfliegt, und so ist noch einmal eine Art Spaß, etwas, über das man lächeln kann, und tatsächlich lächelt sie, später, als sie in der Diele vor dem Spiegel mit dem geblümten Stoffrand steht und sich wundert, wie unbeschädigt sie aussieht, wie normal, wobei es ja bestimmt nicht wahr ist; das glatte Gegenteil ist wahr.

Ja?, sagt Leonard, der Richtung Treppe gegangen ist, worauf sie sich aus welchen Gründen auch immer bedankt, für das gemeinsame Gehen, das Leben, das sie völlig umsonst gelebt haben, oder warum gibt es ihr nicht den geringsten Halt.

Offenbar steht es doch schlimmer um sie, als sie gedacht hat. Sie ist ernsthaft krank, in ihrem Kopf ist jede Menge kaputt, ihrer Seele, oder wo auch immer ein Mensch kaputtgeht und nicht ohne Weiteres repariert werden kann.

Sie hat mit Leonard gegessen und sitzt im oberen Wohnzimmer vor dem Kamin. Der Mann, der ihr völlig fremd ist, hat Feuer gemacht und liest, während sie sich von diversen Toten bedrängt sieht und Mühe hat, sie in ihre Schranken zu weisen.

Auch Katherine ist ganz vorne dabei. Die Konkurrentin, die eine Art Freundin war, ist an die zwanzig Jahre tot, aber plötzlich glaubt sie sie zu vermissen, ihre Härte, ihre Ruppigkeit, hinter der sich wer weiß was verbarg.

Ist sie je hier gewesen?

Leonard, den sie danach fragt, meint Nein, aber jetzt auf jeden Fall ist sie hier, mit ihrer albernen Pagenfrisur, ja richtig, ihrem seltsam mädchenhaften Blick, dem man den glühenden Ehrgeiz nicht sofort ansieht.

Sie möchte wissen, was Katherine als Tote von ihr will.

Glaubst du immer noch, dass du die Begabtere bist?

Sie hat sich fast gefreut, als sie erfuhr, dass Katherine gestorben war, und recht viel mehr Erinnerungen hat sie nicht. Was hat sie bloß an ihr gemocht? Den verwandten Geist? Ihren Mund? Ihr ungenaues Lächeln?

Mit niemandem sonst hat sie so offen über ihre Arbeit

Ein paar Jahre hat sie diese andere, die Schwester, in großen Abständen besucht. Irgendwann wurde sie Autorin des Verlages, aber wirklich brillant war sie eben nicht; ihre Texte waren interessant, sie verkauften sich, die Zeitungen waren voll von KM, was ja geradezu ein Beweis war, wie schlecht sie war.

Und dennoch, sie hat dieses luftige Wesen auf ihre Art geliebt. Wäre sie jetzt hier, würde sie Katherine das sagen, denn die Toten sind nicht empfindlich, man kann ihnen ziemlich viel an den Kopf werfen, sogar nachgetragene Lieben.

In einem der Regale müsste ein Exemplar der Wie-hieß-sie-noch-gleich-Erzählung stehen, die sie damals gedruckt haben, aber sie hat nicht die geringste Lust, sie zu suchen, zu welchem Zweck sollte sie das tun, zumal sie seit Wochen kaum mehr liest.

Sie sitzen weiterhin vor dem Kamin, Leonard hat das Radio angemacht, wo sie zum Glück Musik bringen und keine Nachrichten, ein Stück von Bach, die Toccata in C-Dur.

Die Musik von Bach – sie weiß nicht – hat sie immer beruhigt; man meint, jeden einzelnen Ton vor sich

Dabei fürchtet sie sich gar nicht, im Gegenteil.

Diese verdammten Deutschen, hört sie Leonard sagen, der liest und zugleich lauscht und wie üblich an Politik denkt, und dass auch Bach ein Deutscher gewesen ist, man glaubt es nicht. Sie fragt sich, ob man diese Musik hören und gleichzeitig einer dieser Barbaren sein kann, und die Antwort ist, dass man das mit ziemlicher Sicherheit kann.

Die Toccata ist noch nicht zu Ende, aber jetzt meint sie Männerstimmen zu hören, die den Befehl erteilen, schnell weiterzugehen, junge, dumme Stimmen, die brüllen, ja, da drüben, da drüben an die Wand. Das alles kann sie hören, wie jemand leise zu weinen beginnt, ein Kind, wie sie verwundert feststellt, und dieses Kind – kann das sein – weint über sie. Leonard ist keine drei Meter weg, trotzdem gibt es keinen Zweifel, dass es weint, und es ist tröstlich, dass es das tut, es ist seltsam, wie kann es nur sein, dass da wie aus dem Nichts dieses Kind ist.

Sie ist nicht sicher, ob das in ihrem Zustand hilfreich ist, auch Leonard scheint Zweifel zu haben, schaltet aber das Radio aus und begibt sich mit einem aufmunternden Nicken nach nebenan, wo sie ihn lange hantieren hört, im Bad, wie es leise rauscht, seine Schritte auf dem Dielenboden.

Sie geht nach unten in die Küche und holt ein Glas Wasser für die Tabletten, trinkt es unterwegs aus und spült das Zeug herunter, obwohl sie zuletzt ein wenig den Glauben daran verloren hat, aber was soll’s, es macht die Sache immerhin nicht schlimmer.

Und jetzt ist endlich Stille.

Sie geht ins untere Wohnzimmer, das nicht geheizt ist, es ist ziemlich kühl dort, aber still, und sie mag diese Art Stille, wobei die Stille ja bestimmt kein Nichts ist, sondern voller Leben, ein pulsierendes Etwas, das sich ausdehnt und wieder zusammenzieht und seine Quelle in den Dingen hat.

Sind die Dinge nicht das Zuverlässigste überhaupt?

Der Tisch, die Stühle, die über all die Jahre bevölkert gewesen sind, an denen man gegessen und geredet hat, der Sekretär, die Teppiche, Vasen, Bücher, die Lampen, Fenster, die Licht gegeben haben, all die hölzernen, gläsernen, metallenen, papierenen Dinge.

[DONNERSTAG, 20. MÄRZ]

Kaum liegt sie im Bett, quält sie sich neuerlich mit dem Roman. Seit Tagen versucht sie sich einzureden, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt, aber es bleibt ein hartnäckiges Gefühl des Misslingens, der Verdacht, dass er dringend überarbeitet werden muss, dabei ist der Erscheinungstermin im Herbst, wie soll sie das in ihrem Zustand schaffen.

Leonard ist voll des Lobes gewesen, aber leider vertraut sie ihm nicht im Geringsten, weiß auch gar nicht mehr, was genau sie gewollt hat, eine Art Bilanz, dass etwas unwiderruflich vorbei ist und nicht wiederkommt, was sie praktisch in jedem ihrer Romane gesagt hat.

Sie weiß überhaupt nichts mehr.

Ihre Romane sind Museen, wo hinter Milchglas das Verlorene zu besichtigen ist: die Kindheit, das letzte Jahrhundert, im Grunde sämtliche Jahrhunderte seit Shakespeare, die Sache mit Bloomsbury nicht zu vergessen, das Intermezzo des Friedens.

Es fliegen dauernd Flugzeuge durch ihren Roman – ist das wirklich alles, was ihr zur gegenwärtigen Katastrophe eingefallen ist?

Ihre Sehnsucht nach dem Wasser kommt vor; dass alles ein Ende haben soll. Na gut, und was dann? Eines Tages hat es ein Ende, und was dann?

Sie weiß, dass sie maßlos übertreibt, aber es ist ein masochistisches Vergnügen, so maßlos zu übertreiben und rein gar nichts mehr von sich zu halten, zumal auch in ihren anderen Romanen wenig steht. Zumindest kann sie sich kaum an etwas Genaues erinnern, gibt sich allerdings auch nicht viel Mühe, nur ab und zu eine Wendung fällt ihr ein, der ungefähre Klang, eine Figur wie Mrs. Dalloway, na gut, aber der Rest nur Nebel, was hat sie bloß geglaubt, wer sie ist und was sie kann?

Sie wird den Roman auf jeden Fall überarbeiten. Auch

Sie tut sich keinen Gefallen mit solchen Erörterungen, die ja allesamt nicht neu sind und sie ebendeshalb zermürben. Sie sollte sich lieber um ein bisschen Schlaf bemühen und die nächtlichen Fragen und Zweifel zum Teufel jagen. Aber das ist leicht gesagt, die Besucher sind hartnäckig, sie denken nicht daran, sich zum Teufel jagen zu lassen, man scheucht sie kurz weg, und im nächsten Moment nehmen sie erneut Platz, rundherum ums Bett, auf ihrem Kopfkissen, na toll, sie machen wirklich, was sie wollen.

Natürlich könnte sie sich damit beruhigen, dass sie diesen Zustand kennt: Man gibt etwas weg, mit dem man sich jede erdenkliche Mühe gegeben hat, man hat monatelang geschuftet, und plötzlich hält man es für stümperhaftes Zeug.

Aus Erfahrung müsste sie wissen, dass das bei allen ihren Büchern so gewesen ist, aber komisch, sie vergisst es jedes Mal. Oder sie vergisst es gar nicht, ist aber der felsenfesten Überzeugung, dass es diesmal völlig anders ist: Leonard hat sie belogen, auch der Verleger wird sie belügen und ihr aus Rücksicht auf ihre Gefallsucht nicht

Diese Gefallsucht ist natürlich ganz schrecklich, es ist der Fehler ihres Lebens, wie sie genau weiß, was nichts daran ändert, dass sie immer nur geschrieben hat, um zu gefallen, und anschließend mit leeren Händen dastand, weil man von seinen Bewunderern ja nicht wirklich etwas bekommt, jedenfalls nichts, was bleibt.

Das ist in einem Wort ihr Gefühl, und es ist zum Verzweifeln. Sie möchte schlafen, sie möchte schreiben, aber sie ist völlig kaputt, und so, in ihrer Kaputtheit, fängt sie zu beten an. Seit sie ein Kind gewesen ist, hat sie nicht mehr versucht zu beten, und es ist ja auch schwer, man weiß nicht recht, an wen man sich wenden soll. Außerdem gibt es Götter wie Sand am Meer, man bräuchte Tage, um sie komplett aufzuzählen, obwohl doch vielleicht jemand für sie zuständig ist und sich darum kümmert, dass sie wieder schlafen und schreiben kann.

Darum bittet sie. Sie fleht mehr, als dass sie bittet, wobei sie sich fragt, mit welchem Recht eigentlich; wer sich an die Götter wendet, ist am Ende, aber das ist kein Recht, wenngleich sie immerhin ein gewisses Recht zu haben meint: Sie hat den modernen Roman reformiert und unter Aufbietung all ihrer Kräfte ein Dutzend Bücher publiziert; sie hat sich geschunden und gequält, also bitte lasst mich nicht verkommen, und mit diesen flehentlichen Bitten – die Götter haben Erbarmen – schläft sie ein.

Morgen – das weiß sie noch nicht – wird ihre Schwester Vanessa sie besuchen, und vielleicht ist das ja etwas, das sie freut und erquickt.

Vanessa ist die Vertraute ihres Lebens und ein lebendiges Beispiel für ihre Erfahrung, dass man sich nur auf Frauen verlassen kann.

Man müsste sie wahrscheinlich nur kurz wecken, und sie könnte sofort sagen, was Männer für sie sind. Männer sind Egoisten, würde sie sagen, im Grunde leblose Kreaturen, und dass sie deren einige gründlich kennengelernt hat, mit ihrem tyrannisch um Aufmerksamkeit bettelnden Vater angefangen, ihren monströsen Halbbrüdern, später den ganzen Sodomiten aus der Bloomsbury-Zeit und was ihr sonst an männlichen Wesen über den Weg gelaufen ist, Verehrer, Kollegen, Angestellte, der untreue Clive, mit dem sie ihre Schwester und Leonard eine hübsche Weile – na ja, nicht wirklich – betrogen hat, dazu Leute aus der Verlagsbranche, die großen langweiligen Herren, die sich auf Gesellschaften tummeln.

Trotzdem würde sie zugeben müssen, dass sie von Männern, streng genommen, wenig weiß. Sie hat über sie geschrieben, gewiss, über ihre Macht, wie sie sich seit Jahrhunderten alles unter den Nagel reißen, ihre

Sie hat so gut wie keine physische Erfahrung mit Männern, von dem blutigen Missverständnis der Hochzeitsreise abgesehen. Sie weiß nicht, wie Männer Lust empfinden, wie schwer oder leicht ein Schwanz ist, wie man ihn wäscht, mein Gott – sie weiß nur, wie versklavt und verbohrt Männer sind und wie empörend unbekümmert und frei.

Lügner und Vergewaltiger sind Männer.

Man muss ja nur die Zeitung aufschlagen, so wie Isa im Roman die Times, wo sie bei Gelegenheit liest, wie ein Gardesoldat ein Mädchen missbraucht, sie im Mannschaftszimmer aufs Bett wirft und ihr die Kleider vom Leib zerrt, wobei sie schreit und ihm sogar ins Gesicht schlägt, was ihren Untergang nicht aufhält.

Und das also sind für mich die Männer, würde sie sagen, und zwar wirklich alle, auch Leonard, obwohl die Dinge bei Leonard doch anders liegen, aber sonst alle ohne Ausnahme, die homosexuellen Freunde eingeschlossen, nur dass die in der Vergangenheit wenigstens die Güte hatten, sich gegenseitig in das jeweils passende Unglück zu stürzen, aber was geht sie in ihrem Zustand das Unglück anderer Leute an.

Rein gar nichts geht es sie an. Ihre Arbeit ist, dass sie nicht verrückt wird, dass sie ihre Verrücktheit, sagen wir, wegschläft, und tatsächlich hat sie ja die ganze Zeit