August

Holger hat Geburtstag. Wir feiern seit vielen Jahren nur die unrunden Geburtstage. Es macht viel mehr Spaß, eine »47« oder eine »59« auf die Torte zu malen, denn diese vielen Geburtstage zwischen den sogenannten Highlights erfordern nichts, nur Freude. Es gibt weder vorgefertigte Glückwunschkarten noch Girlanden, bedruckte Luftballons oder gar Verkehrszeichen, die das Lebensjahrzehnt beinhalten. Selbst die Erwartungen der Verwandtschaften sind maßvoller. Wer unrunden Geburtstag hat, darf alles machen oder lassen, niemand wird enttäuscht.

Holger wohnt in einem typischen Berliner Altbau. Die Zimmer sind knapp fünf Meter hoch, die Fenster klappern, im Hinterhof wächst ein dicker alter Baum.

»Das ist eine Stieleiche«, sagt Holger uns immer wieder.

»Niemals! Das ist eindeutig eine Traubeneiche!«, protestiert Maxi.

»Du wieder mit deinem Allgemeinwissen, ich bin mir sicher, es ist eine Ungarische Eiche!«, ruft Sabrina empört.

»Nee, nee, es ist und bleibt eine Hinterhofeiche, und das müsst ihr euch jetzt wirklich hinter die Ohren schreiben«, beteilige ich

In den Nächten flattern Fledermäuse durch den Hof. Wir sitzen oft auf dem Dach und fachsimpeln bei Kerzenschein und Rotwein, welche Arten es sein mögen.

»Das da ist eine große Fledermaus«, fachsimpelt Holger dann und zeigt mit wedelndem Zeigefinger auf ein Flattertier.

»Und ganz klar ist das dort eine kleine Fledermaus, ein Flederchen«, freut sich Sabrina, und Maxi und ich nicken zustimmend.

Wir haben hier also vor allem zwei Arten im Hinterhof: die große und die kleine Fledermaus.

Wir klettern nach Luft schnappend hoch aufs Häuserdach und erschrecken: Alle Vogelnester, die seit vielen Jahren in den Mauerlücken rege zur Familiengründung gebraucht werden, sind leer.

Die extremen Temperaturen und lange Trockenheit hat Mauern und Nester so stark aufgewärmt, dass in ganz Berlin Vogelkinder vor Hitze sterben, Nester nach dem Eierlegen aufgegeben werden, weil das Brüten in solchen Temperaturen den sicheren Tod auch für starke Vogeleltern bedeutet.

Uns tut die Hitze auch nicht gut, aber wir haben Alternativen. Wir klettern die Treppen wieder runter und packen Snacks und Getränke in die Kühltasche. Diesen Geburtstag werden wir auf der Brücke im Kiez feiern. Dort weht nach Sonnenuntergang ein ganz kleines Lüftchen.

Die Brücke ist nicht weit entfernt, wir schlendern durch die Straßen und jammern viel.

»Mir ist so warm«, beginnt Maxi das alte Sommerlied der Großstadt. Wir nicken nur im Takt der lahmen Schritte. Selbst die Tauben flattern nicht mehr, mit hängenden Flügeln schauen sie uns vorwurfsvoll an. Ihre kleinen schwarzen Augen sind unergründlich.

»Die Taube da guckt mich so wütend an, ich glaub, die will mir an den Kragen. Lass uns mal schneller gehen«, flüstere ich. Mein Respekt vor den Stadttauben ist unermesslich, ich mache lieber große Bögen um sie und verehre sie aus sicherer Entfernung. »Die können jeden Moment ihre Geduld verlieren«, erkläre ich. »Denen ist genauso heiß wie uns, aber sie haben keine eisgekühlten Getränke und können ihre Füße auch nicht im See baumeln lassen. Was meint ihr, wie sauer die auf uns sind.«

Holger tippt sich an die Stirn, Maxi und Sabrina zucken mit den Schultern.

Ich quetsche mich auf Zehenspitzen an den Vögeln vorbei und atme auf. »Wieder Glück gehabt! Schaut sie doch nur mal richtig an, wie vorwurfsvoll die Tauben gucken, die planen doch längst eine Revolution, und dann geht es uns an den Kragen.«

»Du trinkst besser nur noch Gänsewein«, sagt Holger streng. »Das Wetter schlägt dir aufs Gehirn.«

Zur allgemeinen Erleichterung gebe ich nach und wechsele das Thema, nur weg von den unheimlichen Taubenblicken.

»Oh, da ist eine Bank frei, schnell, wer als Erste da ist!«

Rufend renne ich los und stolpere fast in einen abgestellten Karton auf dem Gehweg, »zu verschenken«, steht auf dem beiliegenden Zettel.

Solche Kartons stehen überall in Berlin. Ihr Inhalt variiert und ist immer eine spannende Sache.

Was die einen für Müll halten mögen, kann für die anderen ein kleiner Schatz sein. Wie schön ist es, dass Dinge, die nicht mehr geliebt oder benutzt werden, nicht einfach im Abfall landen. Nachhaltigkeit und Müllvermeidung hat erstaunlicherweise mit diesen vielen »Zu verschenken«-Kartons eine direkte Weiterverwertung gefunden. Wie viel einfacher wäre es, all das Zeug und den Krempel direkt zu entsorgen.

Natürlich gucken neugierige Fußgänger in jede Schachtel, werfen im Vorbeilaufen kurze Seitenblicke auf die Inhalte, freuen sich, wenn interessante Dosen oder funkelnder Modeschmuck auf große Augen wartet, und lachen über abgebrochene Lineale, löchrige Regenschirme, einzelne Socken und schiefe Hüte.

In Gegenden mit vielen Kindern findet man Spielzeug und zu klein gewordene Jäckchen. In Gegenden mit etwas Geld werden eher Kisten mit Geschirr oder Küchengeräten auf die Straße gestellt.

Wohngegenden ohne diese Weiterreichungen gibt es auch. Auf diesen unbenutzten Gehwegen seufzt selbst der Wind durch die hohen Zaunanlagen und Überwachungskameras.

Oft tragen Verschenkekisten richtige Botschaften. Etwas ist vorbei, das Baby aus den Windeln herausgewachsen, die Eltern haben alle Bücher über das Elternsein gelesen. Aus den leeren Senfgläsern trinkt niemand mehr, die Schallplatten stehen seit Jahren im Weg, die Tanzschuhe erinnern nur an die kranken Füße, der Trinknapf und die Leine rufen den alten Hund nicht zurück.

Immer ist es eine zärtliche Angewohnheit, Dinge weiterzugeben, ohne einen Dank zu erwarten. Jede dieser Schachteln erzählt von einem Leben, das nicht nur für sich allein gelebt wird. Es ist freundliches, lebendiges Miteinander. Ob schon Künstler aus diesen Kartons Installationen bauen? Ob Philosophinnen vor den Schachteln hocken und tiefe Gedanken mit den Inhalten verweben?

Im Pappkarton vor uns liegen halb abgebrannte Kerzen, eine angebrochene Schachtel Zigaretten, eine große Dose Kartoffelsalat aus dem Supermarkt, ein Heft mit herausgerissenen Seiten und einiges mehr.

»Den Salat werfe ich lieber mal weg. Nicht dass den noch wer isst.«

»Das wäre kein schöner Tod, aber eine tolle Schlagzeile: ›Ihr letztes Mahl war ein Salat.‹«

Sabrina bringt die Packung mit spitzen Fingern in den Mülleimer.

Wir räumen noch ein bisschen um, die Tasche mit den Eiswürfeln kommt unter die Bank in den Schatten, damit wir auch etwas davon haben, Kuchen und Gläser stellen wir auf die Bank. Die gute Laune pflanzt sich in unsere Mitte, wir unterhalten uns angeregt, lachen viel.

Eine kleine Band, Gitarre, Bass und Gesang, spielt am anderen Ende der Brücke den Sommertag zu Ende. Im Takt der Musik kommt die Nacht in die Stadt.

Maxi findet unter dem halben Heft in der Kiste ein zerbeultes Liebesschloss. »Guckt mal!«, ruft sie und hält das kleine Vorhängeschloss hoch. Es ist rot und hat eine mit schwarzem Stift durchgestrichene Inschrift: »Jamila & Jack 4ever«. Der Verschluss ist aufgebrochen, und ein Zettel ist daran geklebt. »Er schwor mir ewige Treue, dann nahm er sich ,ne Neue«, steht darauf. Ein schlichter Ring mit winzigem roten Stein hängt am Klebeband.

Holger schaut und dreht den Ring. »Wow, das ist das erste ›Liebesausschloss‹, das ich sehe. Und der Ring ist aus dem Kaugummiautomaten, oder?«

»Kaugummiautomaten gibt es doch gar nicht mehr.«

»Doch, doch, in der Potsdamer hängen welche«, sagt Sabrina und unterbricht dafür kurz das gerechte Verteilen von Sekt und Wasser. Sie gießt in jedes Glas ganz genau gleich viel. »Und hinten am Park auch.«

»Ich verstehe diese Liebesschlösser nicht.« Ich schüttele den Kopf und denke weiter laut nach: »Liebe abzuschließen, an ein Brückengeländer zu hängen und die Schlüssel wegzuwerfen — ist das nicht das genaue Gegenteil von Liebe?«

»Ist doch klar, dass du das nicht verstehst, das ist nämlich romantisch«, spitzt Sabrina.

»Wann fing das eigentlich an?«, frage ich in die Runde. »Wann ist aus Luft und Liebe Vorhängeschloss und Liebe geworden?«

»Ein trauriger Karton ist das, ich stell den mal woandershin, mich deprimiert der«, sagt Holger und trägt Karton samt Inhalt ans andere Ende der Brücke.

Zurück kommt er mit Eugen, Anatol, Olli und Nadja. Ein großes Hallo, denn das sind alles liebe Leute aus der Nachbarschaft.

Zufällig Freundinnen und Freunde zu treffen, ist in Sommernächten auf den Brücken schöne Regel. Man kauft Getränke im Späti an der Ecke, schlendert in Richtung Musik und guckt, wer noch so alles da ist.

Die Jugendlichen tragen ihre Boxen im Rucksack. Sie hocken sich auf freie Plätze, beschweren sich nicht über vermeintlichen Krach, tolerieren klaglos den Gesang und die Instrumente der Älteren.

Man lässt alles auf sich zukommen, meist passiert nichts Spektakuläres, und genau das ist das Schöne an diesen Abenden. Der Tag klingt aus, alle Fenster stehen weit offen, drinnen bleibt nur, wer unbedingt muss. Die Geräusche verändern ihren Klang, Geschirr klappert in Küchen, ein Hund jault auf, kleine Kinder werden immer leiser. Vielleicht streitet sich ein Paar im Hinterhof, vielleicht lieben sich im zweiten Stock zwei Menschen ungestüm und laut. Aus manchen Fenstern tönen die Erkennungsmelodien der Abendsendungen. Die Hitze des Tages wird zur Hitze der Nacht.

Drinnen und draußen mischen sich Gerüche, legen sich auf staubige Straßen. Ratten huschen hierhin und dahin. Große und kleine Fledermäuse wachen auf, flattern um alle und alles herum.

Man schaut der untergehenden Sonne zu, freut sich über die blaue Stunde, regt sich herrlich über die Jugendlichen auf, die nur wenige Meter weiter eine Shisha rauchen und schreckliche Musik dabei hören.

Brückennächte sind Schaukelstühle der Großstadt.

Je nach Bezirk und touristischer Werbung wechseln Stimmungen und Atmosphären von Brücke zu Brücke. Die prominenteste ist wohl die Warschauer Brücke, auf der im Sommer wie im Winter Abenteuer, Dramen, Verbrechen, Abstürze, Lust und viele weitere, sogar lebensverändernde Möglichkeiten passieren.

Mit einem Hauch verschwindet der Sommerabend in die Nacht über Berlin.

Und weil unter vielen Brücken Menschen leben — ob nur vorübergehend oder längerfristig —, nehmen freundliche Nachbarn ganz automatisch ein Bier und einen Döner mehr mit. Und so, ohne dass groß darüber gesprochen wird, rückt, wer möchte, etwas näher und bekommt einen Namen zum Gesicht.

Es ist spät geworden. Im Hochsommer werfen die Nächte immer nur ihre Schatten auf die Stadt, richtig dunkel wird es höchstens kurz vor Sonnenaufgang. Holger, Maxi, Sabrina und ich verabschieden uns von den anderen, sammeln unser Zeug ein und schlurfen zum Bus.

Ein Fuchs läuft geschäftig an uns vorbei. Er trägt eine fette Maus — oder ist es gar eine Ratte? — im Maul, ihr Schwanz baumelt mit seinen Schritten hin und her.

Wir setzen uns ins Haltestellenhäuschen und warten. Ein alter Mann stellt sich zu uns, holt aus den Tiefen seiner kurzen Hose eine halb volle Flasche Limonade und leert sie in die Ecke. Wir springen schimpfend hoch. Er schüttelt ungerührt die letzten Tropfen aus der Flasche, schraubt sie zu, stellt sie unter die Bank, legt sich auf die Bank und grummelt genervt: »Kann man nicht ein Mal für fünf Minuten seine Ruhe haben?! Regt euch ab, es ist nur Limonade.«

Holger ist besonders sauer, er hat klebrige Spritzer abbekommen und schüttet sich das letzte warme Sprudelwasser über die Flecken.

Nach und nach kommen weitere Leute an die Haltestelle. Ein Mann humpelt, links und rechts an Krücken, sein dick verpacktes Bein Zentimeter über den Boden haltend, auf die Sitzbank zu. »Rutsch bitte mal ein Stück«, sagt er. »Rutsch doch selber!«, knurrt der alte Mann.

»Bitte, ich hab mir den Fuß gebrochen. Bitte, rutsch ein Stück«, versucht der Mann es erneut.

Doch der alte Mann lacht nur hämisch: »Ist nicht mein Problem.«

Eine Frau mischt sich ein: »Brust oder Keule?«, fragt sie und erntet fragende Blicke. »Soll ich ihm mit meinem Schwert den Kopf oder die Beine kürzer machen? Du kannst wählen, mir ist es egal.« Sie kramt in ihrem Umhängebeutel und zielt grinsend mit einem Spielzeugschwert aus Plastik, nicht länger als ein halber kleiner Finger, auf die Knöchel des alten Mannes.

»Ich zähle bis drei und eröffne dann den unfairen Kampf: Frau mit Schwert gegen Mann ohne Manieren! Nennt mich Schwertana!«, ruft sie dramatisch und tänzelt beeindruckend auf der Stelle. »Eins«, ruft sie drohend. Nach einer kurzen Pause folgt ihr: »Zwei.«

Der alte Mann bewegt sich, dreht den Kopf und kratzt sich am Rücken. Er guckt sie an, unsicher, was zu tun ist.

Mit Lust am Schauspiel stößt sie furchterregende Laute aus. »Und gleich, ja gleich rufe ich die magische Zahl in die Nacht.«

Sie wendet sich uns Zuschauern zu: »Alle schließen jetzt ganz fest die Augen, und wenn ich ›drei‹ rufe, ist es vorbei.«

Alle spielen mit oder tun wenigstens so. Der alte Mann ergibt sich, steht mit schweren Bewegungen auf, rutscht zur Seite und klopft mit der Hand auf die Bank: »Na gut, na gut. Ich will mal nicht so sein. Komm nur her, Kollege, und ruh dich aus.«

Der verletzte Mann humpelt zur Bank, setzt sich seufzend. »Das tut gut. Der verdammte Fuß tut so weh, und dann diese Hitze. Ich bin fix und fertig. Danke.« Er reicht dem Alten die Hand. Der schlägt ein.

Schwertana verbeugt sich weit ausholend. Die Menge jubelt. Sie wirft ihr Schwert mit Schwung zurück in den Beutel. Die Menge bewirft sie mit Rosen und Glitter.

Tatsächlich aber kommt jetzt nur der Bus angefahren, gelb glänzend, würdevoll ratternd. Alle steigen ein, niemand kommentiert das Theater. Es ist zu heiß, selbst tief in der Nacht.

Unsere nackten Beine kleben sofort an den Sitzen fest. Ich stehe lieber auf, der Gedanke an den Schweiß der vielen Fahrgäste vor mir jagt mir eine Gänsehaut über die Beine. Sabrina guckt fragend, aber ich schüttele nur den Kopf. Die FFP2-Masken saugen sich an den Wangen fest. Hinter den Ohren hat sich längst Hornhaut gebildet. »Da kommt freiwillig kein Virus durch«, denke ich.

Alle Fenster stehen offen, der Mief aus Tausenden Schweißdrüsen aber steht im Businneren wie ein Fels in der Brandung. Nur der Busfahrer trotzt dem Sommergestank. »Wer hat schon wieder die Heizung aufgedreht?«, ruft er seinen Fahrgästen zu. »Wenn ich den erwische …«, legt er nach. »Aber es geschehen noch Zeichen und Wunder«, ruft er enthusiastisch. »Die BVG hat mir vorhin eine Flasche Wasser spendiert. Eine ganze Flasche nur für mich!«

»Bezahlt von unseren Steuergeldern«, murrt eine Stimme.

»Wer hat was zu meckern?«, fragt der Busfahrer neugierig. »Darf ich mal Ihr Ticket sehen?«

»Nee, is’ schon gut, ich hab nur so vor mich hin gequatscht«, murmelt einer zurück.

Der Doppeldecker legt sich in die Kurve, und der Schwung überträgt sich unmittelbar auf unsere Stimmung. »War das Wasser wenigstens eiskalt?«, ruft Sabrina, munter geworden. »War es unser gutes Wasser aus der Spree?«

»Aus dem Wasserhahn war es jedenfalls nicht, da war schon eine Flasche drumrum und ein Deckel obendrauf. Das hat sich die BVG richtig was kosten lassen!«, antwortet der Fahrer gut gelaunt. »Ich mach mir da zu Hause Eiswürfel von, da hab ich mehr, als wenn ich es jetzt einfach so ausschlürfe.«

Wir prosten ihm mit großen Gesten zu. Er lacht und greift sein riesiges Lenkrad etwas fester, denn jetzt muss er den Bus ganz korrekt an die nächste Haltestelle bugsieren.

»Leute, ihr habt es ja noch schlechter getroffen als ich — eure Gläser stauben ja schon!«, lacht er dabei und hupt gleichzeitig einen unaufmerksamen Autofahrer an, der ihm die Vorfahrt nimmt.

Wir stimmen traurige Litaneien an und enden beim neuerlichen Anfahren mit einem vorwurfsvollen: »Und dabei hast du heute Geburtstag!«

»Was? Wer hat hier Geburtstag?«, ruft der Busfahrer. Er hat schon wieder eine Haltestelle erreicht, hier sind die Strecken kurz. Er öffnet die Türen, Leute steigen ein, Leute steigen aus und kommen sich natürlich in den Mitteltüren in die Quere. Draußen reißen sich alle schnaufend die Masken vom Gesicht, drinnen ergibt sich jeder dem Schutz vor dem Virus.

Der Busfahrer guckt uns durch den Innenspiegel fragend an, Holger schüttelt sofort den Kopf und wedelt mit den Händen, aber wir anderen stimmen begeistert das Lied an. Eine Frau setzt sich zu uns, holt eine Ukulele aus ihrer Tasche und spielt nach unseren eher hitzetrunkenen Gesängen richtige Lieder mit richtigen Melodien an. Sie spielt nur leise und singt auch nur in halber Lautstärke. Aber es ist doppelt schön und erschafft eine luftige Leichtigkeit. Wir haben längst unsere Haltestelle verpasst und nicht vor, jemals wieder aus diesem Bus voller Musik, Gesang und Übereinstimmungen auszusteigen.

An der Endstation S-Bahnhof Grunewald rennen wir zum kleinen Gartenlokal, füllen unsere Wasserflaschen auf, kaufen Bier und Brot und für alle ein Eis am Stiel. Zuerst bekommt der Busfahrer eins, denn der sitzt schon auf heißen Kohlen, fünf Minuten noch, dann tickt seine Zeit wieder im Takt der Fahrpläne.

Die Musikerin möchte lieber ein Glas Wein und verabschiedet sich mit Musik und Verbeugung. Sie hat die Miete für den nächsten Monat noch nicht zusammen und fragt den Kellner, ob sie hier im Gartenlokal spielen und sammeln darf. Der freut sich, denn Sommernachtsmusik lässt alle Gäste länger verweilen. Ihr Eis schenke ich dem Pärchen, das scheinbar ein allererstes Date hat. Jetzt können sie sich was teilen.

»Lass das, die kaufen doch nur wieder so ein Liebesschloss und betrügen sich drei Tage später«, jammert Sabrina mir ins Ohr.

»Zu spät. Lass ihnen eine Chance, ein Eis kann der Anfang einer langen Liebe sein«, raune ich ihr zu.

Gerade noch rechtzeitig springen wir in den Bus. Holger, Sabrina und ich gehen in den ersten Stock und setzen uns an die Fenster. Maxi bleibt unten beim Busfahrer. Die beiden flirten ein bisschen, ihr Lachen klingt immer wieder bis zu uns hinauf.

Wir holpern durch die Nacht. An allen Ecken, auf jedem kleinen Mäuerchen, in den Lokalen und auf den Bänken sitzen Menschen, die wie wir der Erschöpfung trotzen und die Unbeschwertheit in einer Augustnacht genießen. Kneipen, Restaurants, Bars und Hotels nutzen die breiten Bürgersteige am Kurfürstendamm als Vorzimmer. Dicht an dicht stehen Stühle und Tische. Über den Straßen vermischen sich Gespräche, Lachen, Gesang und Musik zur Erkennungsmelodie des Hochsommers. Gläser klirren, Stuhlbeine kratzen über die Pflastersteine, Bestellungen werden gerufen, ein Hund bellt einen Hund an. Unser Doppeldecker fährt durch alle Nachtgeräusche.

Kurz vor der Haltestelle Hornstraße drücken wir den Halteknopf, klettern die Treppe hinunter, fallen fast in einer Kurve, rufen Maxi, stellen uns in die Mitteltüren und warten ungeduldig, dass sie sich öffnen.

Der Busfahrer winkt Maxi durch das kleine Seitenfenster zu und hupt zum Abschied. Maxi winkt zurück und hält uns ihren Arm hin. Mit dunklem Filzstift stehen da zwölf krakelige Zahlen. »Fast hätte mein Arm nicht gereicht«, grinst sie und fährt fort: »Was für eine Nacht.«

»Nun erzähl schon«, drängen wir sie. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ihr habt doch alle gesehen, wie süß dieser Busfahrer ist. Übermorgen ist sein freier Tag, da sehen wir uns wieder. Mal abwarten.« Sie seufzt verträumt.

Wir stellen uns am Trinkwasserbrunnen an. Das Becken ist voller Wespen, die so durstig sind wie wir. Vorsichtig füllen wir unsere Wasserflaschen und setzen uns dann mitten hinein in den Lärm der Gartenkneipe. Die Kellnerin bringt eiskaltes Bier. Holger und Sabrina teilen sich einen Stuhl, Maxi hockt auf einem Baumstumpf, und ich irre suchend nach einem leeren Stuhl um Tische und Bäume herum.

Irgendwann wird es leerer und stiller. Müde legen wir die Beine hoch und ordern noch ein allerletztes Bier. Mit Getöse rascheln Igel durchs Gelände. »Müsst ihr so laut sein? Geht das nicht auch etwas leiser!«, ruft Holger ihnen zu. Aber dann entdecken wir eine Igelfamilie. Die Mutter vorneweg, ihr im Gefolge sechs Igelkinder. Sehr geschäftig laufen sie ihrer Wege, schnüffeln lautstark, finden Insekten, verschwinden unter der Terrasse.

Sabrina schaut auf die Uhr: »Ich bin müde, ich geh nach Hause. Bleibt ihr noch?«

Wir sind alle müde. Bis zum Morgen ist es nicht mehr weit.

Wir laufen ein ganzes Stück, denn tief in der Nacht und kurz vor dem neuen Tag fahren die Busse nur alle Stunde. Auf einer Bank viele Straßen weiter steht ein Pappkarton. Neugierig gehen wir hin. »Zu verschenken«, steht auf dem Blatt Papier. Drin stehen drei dickwandige Weingläser. Jedes hat eine andere Bemalung. Ich drehe und wende jedes Glas: »Wie schön die sind. Guckt nur, die sind mundgeblasen.« Im Karton steht noch eine Tortenplatte aus Porzellan, ein schlichter Wasserkrug und eine Blechdose.

Sabrina schüttelt die Dose, es klappert. Sie schüttet Knöpfe in ihre Hand, die wie Blumen gestaltet sind: zwei Margeriten, zwei Sonnenblumen und ein Veilchen.

Ein Rattern und Schnaufen reißt uns aus unserem Glück — der Nachtbus düst vorbei, rast über die rote Ampel, hält nicht an der Haltestelle. Sein gelbes Licht wird kleiner, verschwindet im Dunst.

Jetzt sind wir wirklich müde, können kaum gerade stehen, schaffen nur noch ganz kleine Schritte.

Maxi winkt einem Taxi. Die Taxifahrerin hat ihr Radio laut aufgedreht. Eine Heavy-Metal-Band dröhnt ohrenbetäubend aus allen Boxen. Auf unser Bitten hin stellt sie leiser und wechselt den Sender. Jetzt läuft Klassik durch den Wagen. »Ist alles das Gleiche«, ruft die Fahrerin und gibt noch etwas mehr Gas.

Ich schließe die Augen und presse die drei Gläser fest an meine Brust. Das Taxi fährt immer schneller, schneidet die Kurven, nutzt die ganzen leeren Straßen, als gäbe es kein Morgen, und bringt uns überraschend sicher nach Hause.

Ich bin die Letzte und sehne mich nach einer kühlen Dusche und viel Schlaf. Ich schütte ihr den Inhalt meines Portemonnaies in die Hände, sie bedankt sich mit einem knappen Nicken und wartet kaum, dass ich die Autotür von außen zuschlage. Mit quietschenden Reifen rast sie davon.

Ein Nachbar steht nackt am Fenster: »Na, dit ist ja richtig spät geworden. Hat sich’s denn gelohnt?« Er grinst anzüglich und schnalzt mit der Zunge. »Und trotzdem so alleene? Komm rein auf einen schnellen … Absacker.«

»Heute nicht, heben wir es uns für ein anderes Mal auf«, antworte ich höflich, versuche erfolglos, woandershin zu gucken, und brauche lange, um einiges von dem, was ich gesehen habe, zu vergessen.