Kapitel 11
Carla
I ch öffnete die Schlafzimmertür und schlang automatisch die Arme um mich, als wollte mein Körper sich vor dem schützen, was ihn gleich erwartete. Der glatte Holzboden war kühl unter meinen nackten Füßen, und eine Gänsehaut kroch meine Beine hinauf.
Wie auch das letzte Mal wartete Mitchell bereits auf mich. Er trug eine blaue Badehose, die wie eine Boxershorts geschnitten war. Verstohlen glitten meine Augen über seinen Oberkörper. Seine Muskeln waren nicht protzig, jedoch klar definiert und bildeten an seinem Bauch eine leichte V-Form. Und ohne Shirt wirkte sein Kreuz irgendwie noch breiter.
Hastig tat ich so, als würde ich den Raum betrachten.
Den ganzen Morgen hatte ich überlegt, welche glaubwürdige Ausrede ich ihm vorgaukeln könnte, um für heute abzusagen. Das letzte Mal war zwar überhaupt nicht so schlimm gewesen, wie ich befürchtet hatte, doch ich war trotzdem nicht scharf darauf, wieder ins Wasser zu gehen. Doch wir hatten einen Deal, und dieser Deal war mir wichtig genug, um mich letztendlich doch darauf einzulassen. Jetzt allerdings, da ich das Wasser rauschen hören konnte, bekam ich erneut Zweifel. Es machte mich so nervös, dass sich mein Bauch verknotete.
Ich trat an den Whirlpool und betrachtete das schäumende, blubbernde Wasser. Mit reißender Kraft strömte es aus allen Seiten in das Becken und dröhnte mir in den Ohren.
Mierda. Ich konnte einfach nicht fassen, wie protzig diese Maschine war. Sie musste wirklich ein Vermögen wert sein. Das ganze Haus musste mehrere Vermögen wert sein, und diese Vorstellung allein sorgte dafür, dass ich mich unwohl fühlte. Ich gehörte nicht hierher. Sicher, unser Haus damals in Coldwater war auch schön und groß gewesen, aber das Geld, mit dem es gebaut worden war, war schmutzig gewesen. So war mein Leben nicht mehr. Das war Geschichte.
Wie schon zuvor setzte ich mich widerstrebend auf das raue Naturgestein, welches das Becken umgab.
Unbekümmert stieg Mitchell hinein in das rauschende, blubbernde Wasser, und ehe ich michs versah, befanden wir uns nahezu in der gleichen Position wie beim letzten Mal. Ich saß vor ihm, die Beine an die Brust gezogen, er kniete auf der Bank im Wasser vor mir. Unwillkürlich dachte ich zurück an unseren ersten Versuch. Es war … intensiv gewesen. So mitreißend, dass ich beinahe vergessen hatte, dass meine Beine bis zu den Knien im Wasser baumelten.
»Erzähl mir etwas von dir«, sagte Mitchell und fuhr sich durch die Haare, bis diese nass waren.
Erschrocken sah ich ihn an. »Wieso das denn?«
»Gesprächstherapien dauern zwar eine ganze Weile, aber es ist immerhin etwas.«
»Wo kommt das auf einmal her?«, fragte ich verwirrt.
Eine zarte Röte trat auf seine markanten Wangen. »Ich, äh, habe Todrick gefragt, wie so was läuft, weil er Psychologie studiert.«
Ich versteifte mich mit einem Mal, und meine Augen verengten sich. Scham und Wut loderten in mir auf. »Du hast Todrick Becker etwas über mich erzählt?«
Ich war drauf und dran, aufzustehen und zu verschwinden, als Mitchell mir eine Hand um den Arm legte. »Nein! Carla, natürlich nicht. Ich habe dich mit keinem Wort erwähnt. Ich habe behauptet, dass ich mich für eine Trainerstelle interessiere und gerne mehr psychologisches Hintergrundwissen hätte. Aquaphobie ist nämlich gar nicht so selten.«
Ich schnaubte, um meine Überraschung zu überspielen. Dios mío, er schien das Ganze ernster zu nehmen, als ich gedacht hatte.
»Dafür gibt es also einen Begriff, ja?«, fragte ich und schlang wieder die Arme um mich. Die Gänsehaut stammte mit Sicherheit von der kalten Luft im Zimmer.
»Wenn du es genau wissen willst, ich habe mich die halbe Nacht durch Foren geklickt«, gestand Mitchell mit einem zaghaften Lächeln und ergriff meine Hände.
Ich zuckte vor der Nässe seiner Finger zurück. Reiß dich zusammen. Es sind nur nasse Hände. Heute musste ich Fortschritte machen. Ich würde das hier schaffen.
»Ich bin kein Therapeut oder Psychologe, aber ich hoffe, dass ich dir trotzdem helfen kann. Aber dafür musst du mir etwas von dir erzählen, Carla.«
»Das ist alles? Das ist der Plan?«, fragte ich angespannt. »Irgendwie klingt das bescheuert.«
Wie auch das letzte Mal begann Mitchell damit, meine Hände mit Wasser zu benetzen. »Es braucht ein Vertrauensverhältnis zwischen dir und mir, damit das hier funktioniert. Und du vertraust mir nicht. Das möchte ich ändern.«
Ich schwieg und starrte ihn an. Er starrte zurück. Unsicherheit lag in seinem Blick, jedoch auch ein gewisses Maß an Entschlossenheit, und diese wirkte unerschütterlich. Ich gab es nur ungern zu, aber seine Beharrlichkeit beeindruckte mich.
Ich biss mir auf die Unterlippe, ein wenig zu fest, was einen feinen Schmerz auslöste. Vertrauen. Dieses Wort war so mächtig. Ich konnte Mitchell Moore nicht einfach vertrauen. Wer konnte überhaupt irgendwem einfach vertrauen? Das war irrsinnig. Aber ich hatte ihm zwei Versprechen gegeben: Ich würde mit ihm reden, ihn nicht ausschließen, und ich würde zulassen, dass er mir dabei half, meine Angst zu überwinden.
Einen Versuch war es wert. Oder? Immerhin wäre ich mit einer Schwäche weniger besser dran, und wie Savannahs Party bewiesen hatte, würde ich nicht ewig vor meiner Angst davonlaufen können.
»Na schön«, sagte ich schließlich leise und atmete tief durch. »Ich werde es versuchen, aber ich verspreche dir nichts.«
Ein strahlendes, beinahe stolzes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ich habe auch nichts anderes erwartet, Prinzessin. Auch wenn es nach unserer Abmachung klar ist, möchte ich noch einmal wiederholen, dass nichts, was zwischen uns in diesem Raum besprochen wird, jemals nach außen gelangen wird. Jedes deiner Geheimnisse ist und wird bei mir sicher sein, ob mit oder ohne Deals.«
Ich nickte. Mein Hals wurde mit einem Mal eng. »Verstanden.«
Er schloss seine Hände um meine Knöchel, was mich nach Luft schnappen ließ. Langsam zog er meine Beine zu seinen Seiten ins Becken. Ich konnte nicht verhindern zu erschaudern, als meine Füße in das unglaublich warme Wasser glitten. Eine Gänsehaut kroch meinen Körper hinab. Ich versuchte mich zu konzentrieren, auf das Gefühl, auf Mitchells Hände und auf meine Atmung.
So weit, so gut. Es ging mir gut. Alles war in bester Ordnung. Das Wasser reichte mir bis auf die Mitte meiner Waden. Das hielt ich aus.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Mitchell sanft und glitt mit den Händen meine Beine hinauf. Hitze folgte seiner Berührung, kitzelte zwischen seinen nassen Fingerkuppen und meiner mit Gänsehaut bedeckten Haut. Es fühlte sich an wie elektrische, knisternde Spannung.
»Gut«, erwiderte ich. Das war nichts. Nur eine kleine körperliche Reaktion.
»Wie lange hast du diese Angst schon?« Er schöpfte Wasser aus dem Whirlpool und tröpfelte es auf meine Knie. Ich konzentrierte mich auf das Gefühl, darauf, dass es mir nichts anhaben konnte, dass es keine Macht über mich besaß. Eventuell hatten sich meine Augen dabei auf Mitchells durchtrainierte Brust gerichtet. Ich beobachtete die Wassertropfen, die über seine blasse glatte Haut rannen.
»Lange«, antwortete ich schließlich wiederstrebend und hob den Blick. »Ich war elf. Oder zwölf.«
»Kannst du dich an irgendein Ereignis erinnern, das deine Angst ausgelöst haben könnte?«
»Ich …« Bilder blitzten plötzlich vor meinem inneren Auge auf. Bilder, die ich normalerweise tief vergraben hatte. Schwimmende Whiskeyflaschen. Unzählige Dollarscheine. Unmengen an Wasser, ein lautes Schreien, das von mir stammte und nur davon unterbrochen wurde, dass ich immer wieder unter Wasser sank, ehe ich mich mit den Füßen wieder vom Beckenboden abstoßen konnte.
Eine Welle der Übelkeit erfasste mich, und mein Herz klopfte hart und fest gegen meine Brust. Mein Hals wurde plötzlich so eng, dass ich glaubte zu ersticken.
»Carla?«, fragte Mitchell besorgt. »Tief durchatmen. Wir müssen noch nicht darüber sprechen, vor allem nicht hier am Wasser. Tut mir leid, vielleicht war das zu direkt von mir.«
Blinzelnd zwang ich mein Hirn dazu, die Bilder zurückzudrängen, und sah stattdessen Mitchell an. »No. Es ist nichts«, stieß ich hervor, doch das Zittern in meiner Stimme verriet mich. »Los, frag mich etwas anderes.«
Er zog die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf schief. »Hast du wirklich Aquaman gesehen, oder hast du das vor Savy und den anderen bloß behauptet?«
»Ich habe ihn wirklich gesehen«, erwiderte ich und zwang mich, tief durchzuatmen, so wie Mitchell es mir geraten hatte. »Mateo hat so lange darum gebettelt, bis ich die DVD gekauft habe.«
»Und wie findest du den Film?«
»Er war in Ordnung, aber nicht mein Fall. Ich habe nicht viel für Superhelden übrig.« Und für so viel Wasser, was ich aber nicht aussprach.
Mitchell machte ein bestürztes Gesicht. »Sag das noch mal.«
»Was, dass der Film nicht mein Fall war?«
»Nein, den anderen Teil. Hast du gerade wirklich gesagt, dass du für Superhelden nichts übrighast?«
Ich zuckte mit den Schultern, auch wenn mich seine Reaktion insgeheim amüsierte. Allmählich beruhigten sich meine Nerven. Mein Puls nahm nach und nach wieder eine normale Geschwindigkeit an. »Ich schätze, nicht jeder findet Männer in hautengen Kostümen, die gegen das Böse kämpfen, sonderlich interessant.«
Mitchell lachte erschrocken auf. »Ist das dein Ernst? Weißt du eigentlich, was für Kinorekorde Avengers: Endgame geknackt hat? Er hat sie alle geknackt.«
»Ist mir egal, weil ich keine Superhelden mag.« Ich verkniff mir ein Grinsen. Offenbar hatte ich einen ganz schön wunden Punkt getroffen, und Mitchell nahm meine Worte persönlich.
»Das ertrage ich nicht«, sagte er, schöpfte Wasser mit den Händen und gab es großzügig auf meine Beine. Diesmal zuckte ich nicht zusammen, was ich als gutes Zeichen deutete. Ich lehnte mich zurück und stützte mich mit den Händen auf dem Boden ab. »Damit musst du leider leben, Hollister. Es kann ja nicht jeder so ein riesiger Nerd sein wie du oder Savannah. Sag mal, wird diese Eigenschaft in eurer Familie eigentlich genetisch weitervererbt?«
»Hm. Weiß nicht, wird es denn in deiner Familie weitervererbt, ein unfassbar freches Mundwerk zu haben?«
»Claro«, erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. »Ich bin Kolumbianerin. Wir haben Feuer im Blut und sagen, was wir denken.«
Mitchell lachte auf und verdrehte die Augen. »Carla Santos, Botschafterin Kolumbiens, hat gesprochen. Apropos, warst du eigentlich schon einmal dort?«
Allmählich begriff ich, was er da tat. Verdammt, dieser Kerl hatte es wirklich getan, und das, ohne sich sonderlich anzustrengen. Er hatte meine Gedanken in eine andere Richtung gelenkt, genau wie ich gebeten hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass ich mich entspannte und sogar aufhörte, daran zu denken, dass meine Beine im Wasser hingen. Das musste eine Gabe sein. Er war ein Naturtalent darin. Vielleicht hatte er einfach ein Gespür für seine Mitmenschen. Das musste auch der Grund sein, wieso jeder ihn mochte und er zu jeder einzelnen Party am Campus eingeladen wurde.
Mitchells Mundwinkel zuckten, und er legte den Kopf schief. »Wieso siehst du mich so an?«
Mein Herz machte einen Sprung. Ich bemühte mich darum, mir nichts anmerken zu lassen, doch die Wärme auf meinen Wangen verriet mir, dass man deutlich sehen konnte, wie ertappt ich mich fühlte. Aber wieso fühlte ich mich plötzlich so? Ich hatte nichts Verbotenes getan.
»Wie sehe ich dich denn an, Mitchell?«, fragte ich und hob eine Braue.
Seine Augen verdunkelten sich. Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch … es löste sich kein Wort von seinen Lippen.
Ohne dass ich es verhindern konnte, richteten sich meine Augen auf seinen Mund, und die Erinnerungen schossen mir auf einmal mehr als lebhaft ins Gedächtnis. Ich erinnerte mich daran, wie es sich angefühlt hatte, diese Lippen auf meinen zu spüren. Wie sich seine Hand auf meinem Rücken gespreizt und mich an ihn gepresst hatte. Die leisen, tiefen Geräusche, die er von sich gegeben hatte. Die berauschende Hitze, die durch meinen Körper gewandert war …
Je länger ich Mitchell Moores Lippen anstarrte, desto klarer wurde die Erinnerung.
Hastig wandte ich den Blick ab. Mir war heiß geworden, aber das konnte auch am Dampf liegen, der vom Whirlpool aufstieg. Es musste nicht an Mitchell liegen, überhaupt nicht.
Mierda, wem machte ich hier eigentlich etwas vor?
»Ich weiß, woran du denkst«, sagte Mitchell plötzlich unvermittelt, was mich erschrocken aufblicken ließ.
»Was?«, erwiderte ich und setzte mich aufrecht hin – wodurch ich ihm unweigerlich näher kam.
Ich hielt die Luft an, als er sich zu mir beugte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht gefiel mir ganz und gar nicht. Ich fühlte mich schon wieder ertappt.
»No«, sagte ich, bevor er etwas sagen konnte, was ich nicht hören wollte. »Du weißt nicht, was ich denke, Hollister. Ich finde übrigens, dass wir einen Schritt weitergehen sollten. I-ich halte mehr aus als das. Machen wir weiter!«
Bevor ich darüber nachdenken konnte, rückte ich näher zu ihm und dem Whirlpool, wodurch meine Beine tiefer ins Wasser ragten, sich weiter spreizten und das Wasser an die Unterseite meiner Knie und noch ein ganzes, weites Stück darüberschwappte.
»Langsam, Carla!«, sagte Mitchell und ergriff meine Arme, während mir ein Keuchen entfuhr. Der Abstand zwischen uns war jetzt so klein, dass sich meine Oberschenkel an seine Taille pressten und unsere Gesichter sich viel zu nahe waren.
Der Schreck trieb jegliches Blut aus meinem Gesicht. Das Wasser war warm und machte meine Beine schwerelos, kitzelte mich, umschloss mich.
Fesselte mich.
Die Angst kam kriechend und unaufhaltsam, verätzte alles auf ihrem Weg, wie Flusssäure. Dann setzte das Rauschen in meinen Ohren ein. Mein Mut verließ mich so schnell, wie er gekommen war. Ich war so eine Idiotin, wieso hatte ich das getan?
»Carla, atme«, sagte Mitchell sanft. »Alles ist gut.«
Meine Augen huschten über das Wasser, ruhelos, ziellos. No. Du kannst das. Du bist stärker als deine Angst. Du bist stärker als die Erinnerungen. Kämpf dagegen an!
Wieder schossen mir Bilder durch den Kopf, diesmal von Savannahs Geburtstag. Dem Pool. Sie vermischten sich mit Szenen aus meinem Albtraum; tiefe Dunkelheit, eiskaltes, hartes Wasser.
Ich zuckte zusammen, als Mitchells Hände sich um mein Gesicht schlossen. Er zwang mich, ihn anzusehen. »Wo bist du gerade, Carla? Wieso bekommst du Panik?«
Du kannst das. Du kannst das. Du kannst das.
»Bilder«, brach ich hervor.
»Was für Bilder? Woran denkst du?«
»Den Tod.«
»Wieso an den Tod?«
»Weil ich ertrinke«, flüsterte ich. Tief einatmen. Ausatmen. Du hast bloß eine zu schnelle Bewegung gemacht. Du musst keine Angst haben.
»Du kannst nicht ertrinken, Carla«, sagte Mitchell ernst und eindringlich. »Und weißt du auch, wieso nicht? Weil ich bei dir bin. Bei mir kann dir nichts passieren, niemals. Bei mir bist du immer sicher. Das verspreche ich dir.«
Ich atmete aus, so langsam ich konnte. Dann nahm ich einen tiefen Atemzug und lenkte meine Konzentration weg von meinen Beinen und hin zu den Händen an meinen Wangen. Sie waren warm und groß. Sie fühlten sich gut an. Sie berührten mich so, als sei ich zerbrechlich.
Wieder nahm ich einen langsamen, zittrigen Atemzug und legte meine Hände über Mitchells. Nicht eine Sekunde löste sich dabei mein Blick von seinem, doch anstatt, dass ich ihm ausweichen wollte, beruhigte es mich.
Ich fluchte leise und atmete tief durch.
»Besser?«, fragte er.
»Woher weißt du das?«, erwiderte ich und ließ meine Hände sinken.
»Weil du geflucht hast. Ein Indiz, dass du wieder du selbst bist.«
Ich war bereits drauf und dran, etwas Spitzes zu erwidern, doch dafür fehlte mir die Kraft. Ich spürte, dass es nicht viel brauchte, um die Angst zurück in meinen Kopf dringen zu lassen. Es kostete mich einiges an Konzentration. Sie war wie ein hungriger Wolf, der vor dem Versteck seiner Beute auf und ab tigerte.
»Danke«, flüsterte ich also stattdessen und biss mir auf die Zunge. Meinem Stolz würde das später bestimmt nicht gefallen, doch ich war es Mitchell schuldig. Ich wollte sagen, was ich fühlte, und das war nun mal Dankbarkeit.
Ich wusste nicht, was der Ausdruck zu bedeuten hatte, der nun in seine Augen trat, doch er sorgte dafür, dass mein Mund trocken wurde. Gefährlich trocken.
»Jederzeit wieder, Carla«, sagte Mitchell und nahm die Hände von meinen Wangen.
Lange sahen wir uns an. Fieberhaft überlegte ich, was ich sagen sollte, während sich wieder diese unumgängliche Anziehung zwischen uns ausbreitete. Wie ein Gummiband, das wieder zurückschnappte.
Schon wieder dachte ich an diesen verdammten Kuss. Dios, ich konnte nichts dagegen tun. Nicht, wenn er mich so ansah. Sehnsüchtig. Hungrig.
»I-ich glaube, das ist genug für heute«, sagte ich und rückte von ihm ab. Ich zog meine Beine aus dem Becken und rappelte mich auf. Im letzten Moment konnte ich mich bremsen, nicht schon wieder aus dem Zimmer zu stürmen. Das würde mein Stolz heute wirklich nicht mehr verkraften.
Mitchell blinzelte, als müsse er sich fangen. Dann räusperte er sich und rieb sich über den Nacken. »Klar. Sicher. Wir sollten sowieso bald aufbrechen.«
»Okay.« Ich presste die Lippen zusammen, was eigentlich als ein Lächeln gedacht war. Großer Gott, ich war nicht mehr ich selbst. Was auch immer eben geschehen war, es hatte mich vollkommen aus der Bahn geworfen. »Dann, äh, gehe ich jetzt und mache mich fertig.«
Ich drehte mich um und lief mit steifen Schritten aus dem Zimmer.
Unfassbar. Ich hatte tatsächlich »Äh« gesagt! Dieser Kerl war wie eine Krankheit, und die Symptome gefielen mir überhaupt nicht.
Sobald ich die Tür des Schlafzimmers hinter mir geschlossen hatte, atmete ich auf. Ich holte meine Sachen aus dem Arbeitszimmer, schloss mich im Bad ein und rieb mir mit den Händen über das Gesicht. Meine Haut kribbelte und fühlte sich zu eng an. Die Mischung aus zu viel Körperkontakt und der gefährlichen Grenze an einer Panikattacke bekamen mir nicht gut. Ich gab zu viel von mir preis. Ich wollte nicht, dass mich irgendjemand so verletzlich sah. Jegliche Schutzmechanismen in mir ließen dabei ihre Alarmglocken schrillen.
Aber vielleicht musste ich endlich der Wahrheit ins Auge blicken:
Mitchell Moore ging mir unter die Haut.
Stöhnend vergrub ich das Gesicht in einem weichen Handtuch. Mein Problem war um einiges größer, als ich geglaubt hatte. Er trieb mich zur Weißglut. Er und seine richtigen Worte und sein sanfter Blick und seine Hände.
Gerade nachdem ich mich umgezogen und den Bikini in meiner Handtasche verstaut hatte, klopfte es an der Badezimmertür.
»Alles in Ordnung, Carla?«
Ich fuhr mir mit den Händen über die Jeans, die klamm an meinen Beinen klebte, entriegelte die Badezimmertür und riss sie auf. »Sí«, sagte ich atemlos. Ich wollte noch hinzufügen: »Es könnte nicht besser sein«, doch er …
Hijueputa. Mein Hirn war zu nichts zu gebrauchen.
Mitchells Haar war noch feucht, und er trug nichts, bis auf eine Jogginghose. Sein breiter, drahtiger Oberkörper war nackt. Und bevor ich mich bremsen konnte, saugten meine Augen seinen Anblick auch schon in sich auf. Mein Körper benahm sich regelrecht so, als hätte er Mitchell nicht eben gerade erst gesehen. Je länger ich ihn ansah, desto mehr fragte ich mich insgeheim, wie mir nie aufgefallen sein konnte, wie attraktiv er wirklich war – rein optisch natürlich. Oder war es mir vielleicht aufgefallen, und ich hatte es nicht wahrhaben wollen?
Er hatte wirklich die Statur eines Schwimmers; breites Kreuz, starke Arme und eine definierte Brust. Mein Blick wanderte weiter, hoch zu seinen Augen, die mit einem Funkeln beobachteten, wie ich ihn absolut schamlos abcheckte.
Mit einem Schmunzeln lehnte Mitchell sich an den Türrahmen. »Gefällt dir, was du siehst?«
Ich verschränkte die Arme und räusperte mich. »Sei nicht so arrogant, Hollister. Das steht dir nicht.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich pfeife ja auch nicht nach deiner Flöte!«
Mitchell starrte mich an. Verwirrt blinzelte er. Dann legte er den Kopf plötzlich in den Nacken und prustete so laut los, dass es durch das Poolhaus hallte.
Ich dachte über meine Worte nach. Ein Kichern entschlüpfte mir, und ich schlug mir erschrocken die Hand auf den Mund. Doch Mitchell lachte so schallend, dass ich mein Lachen nicht länger in mir behalten konnte. Es brach aus mir heraus, und ich lachte mit ihm.
»Nicht … nach der Flöte … pfeifen!« Er wischte sich atemlos eine Träne aus dem Augenwinkel.
Ich verdeckte mein Gesicht mit den Händen. Das war absolut manisch, ich sollte nicht einmal darüber lachen, und so lustig war es nun auch wieder nicht!
Mitchell schien sich wieder beruhigt zu haben, denn im nächsten Moment zog er mir die Hände vom Gesicht. Er grinste noch immer breit, und als er meinen Blick sah, wurde der Ausdruck in seinen Augen noch wärmer. »Du hast übrigens ein süßes Lachen. Du solltest das öfter tun, es steht dir gut.«
Ich verdrehte die Augen. »Ach ja? Und weißt du, was dir gut steht?«
Oh, große Klasse, Carla. Jetzt konnte ich noch nicht einmal kontern.
Seine Schultern begannen wieder zu beben, doch er verkniff sich das Lachen. »Na los, sag mir, was mir steht, Prinzessin. Ich kann es verkraften.«
»Ach, vergiss es.« Ich wollte an ihm vorbeihuschen, doch damit ließ er mich nicht davonkommen.
»Nicht so schnell!« Er schlang einen Arm um mich, und plötzlich war ich zwischen ihm und der Wand des Flurs gefangen. Mein Atem kam ins Stocken, als ich nach Luft schnappte.
»Ich bin ganz Ohr«, sagte er leise und sah mich herausfordernd an.
»Nichts steht dir, Moore«, sagte ich und reckte das Kinn nach vorne. Doch als Mitchells Wangen rot wurden, fiel mir wieder ein, dass er, genau in diesem Moment, oberkörperfrei war. Meine Aussage hätte nicht unglücklicher gewählt sein können.
»Verdammt noch mal!«, rief ich aufgebracht auf Spanisch und schob ihn von mir weg. »Diese verdammte Sprache macht mich wahnsinnig!«
Mitchell grinste. »Du musst dich nicht dafür schämen, Carla. Ich fühle mich geschmeichelt, wirklich.«
»Aufgeblasener Esel«, murmelte ich und lief den Flur hinunter in Richtung Fernsehzimmer. »Zieh dir endlich etwas an, Hollister.«
»Wo gehst du hin?«
Ich warf ihm einen Blick über die Schultern zu. »Was glaubst du wohl? Ich ziehe mir meine Jacke an. Die anderen warten bestimmt schon, heute ist Filmeabend.«