Kapitel 14
Mitchell
I
ch hätte sie küssen sollen.
Nichts ging mir so sehr gegen den Strich als die Tatsache, dass ich Carla hätte küssen sollen und einen Rückzieher gemacht hatte. Ich verfluchte mich wieder und wieder. Der Augenblick wäre perfekt gewesen.
Verdammt sollte sie sein. Sie und ihre falschen Sprichwörter und ihre vorlaute Zunge. Trotz meines Ärgers darüber, dass Carla trotz der Drinks hatte Auto fahren wollen, schaffte sie es, selbst in einem solchen Moment so liebenswert zu sein, dass ich sie am liebsten in die Arme schließen wollte. Vorzugshalber so, dass ich sie nie wieder loslassen musste. Aber manchmal waren Zeitfenster für gewisse Möglichkeiten so klein, dass man sie sofort nutzen musste, da sie sonst wieder verflogen. Genau so ein Moment war es gewesen. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie es zugelassen hätte, hätte ich meine Lippen auf die ihren gelegt. Meine Hoffnung, was Carla betraf, nahm sehr ungesunde, problematische Ausmaße an. Oder bildete ich mir bloß ein, dass sie ihre Mauern für mich ein Stück gesenkt hatte? Wir hatten gespielt und sogar ein wenig herumgealbert – auch wenn ich dabei der ausführende Part gewesen war –, und wir waren ein Team gewesen. Ein verdammt gutes Team.
Ich wollte mit den Zähnen knirschen.
Wir waren im Wagen auf dem Weg zu ihr. Ich hatte Carla ihre Schlüssel wiedergegeben, die sie stumm entgegengenommen hatte. Keiner von uns sprach ein Wort, und es lief auch keine Musik. Ampeln und geschlossene Läden zogen an uns vorbei, Stadtvillen und Apartmentkomplexe. Für die Uhrzeit waren noch erstaunlich viele Leute in Fletcher unterwegs, ob auf den Gehwegen oder im Gegenverkehr.
Ardens Auftritt eben in der Bar hatte Carla ganz schön aus der Bahn geworfen. Ich hatte gesehen, wie ihre Augen sich entsetzt geweitet hatten, als Arden sich vor allen anderen über den Vorfall am Pool geäußert hatte. Zugegeben, mich hatte es auch eiskalt erwischt. Ich fragte mich, was nur in sie gefahren war und wo die unschuldige, süße Arden abgeblieben war, mit der Savannah und ich aufgewachsen waren? Wann war aus ihr diese … Barbie geworden?
Es tat mir leid für Carla. Als wir den Deal geschlossen hatten, hatte ich mich noch gefragt, wieso sie überhaupt einen wollte. Welcher Mensch konnte sich über die Angst vor Wasser lustig machen? So jemanden gab es doch nicht.
Aber Arden hatte mir den Beweis geliefert, dass Carlas Deal doch seine Berechtigung hatte.
»Wieso trinkst du nie?«, fragte Carla irgendwann und durchbrach damit die Stille.
Ich warf ihr einen raschen Blick zu, ehe ich mich wieder auf die Straße konzentrierte. »Das kann ich mir nicht leisten. Ich trainiere immerhin ziemlich hart«, antwortete ich.
Sie erwiderte nichts, und eine Weile schwiegen wir einfach wieder.
Während ich an einer Kreuzung abbog, erwischte ich sie dabei, wie sie mich anstarrte. Das überraschte mich so sehr, dass ich beinahe vergaß, mich wieder auf den Verkehr zu konzentrieren.
Ich verstärkte den Griff um das Lenkrad. »Darf ich dich auch etwas fragen?«
Einen ganzen Moment lang schien sie zu überlegen. »Frag«, sagte sie schließlich.
Wir bogen in ihre Straße ein, und ich parkte den Wagen auf dem Parkplatz vor ihrem Wohngebäude. Der Motor erstarb, und erst als ich ihr meinen Oberkörper zuwandte, bemerkte ich, wie wachsam Carlas Augen waren. Vorsichtig.
»Wieso hast du Angst vor dem Wasser?«, fragte ich leise. Ich war bestens auf einen erneuten Rückschlag vorbereitet. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass ich ihr diese Frage stellte.
Carla schien mit sich zu ringen. Sie fuhr sich nervös durch die Haare und biss sich auf die Lippe.
Ich ruderte zurück. »Tut mir leid. Ich hätte es nicht schon wieder ansprechen sollen. Du musst es mir nicht sagen, und ich verspreche dir, dass ich auch nie wieder danach fragen werde. Ich habe mich nur gefragt …«
»Meine Mutter ist ertrunken, und ich habe es mitangesehen.«
Ihr Mund schloss sich so schnell, wie er sich geöffnet hatte. Sie starrte nach draußen, wohl darauf bedacht, nicht zu mir zu blicken.
Mein Atem stockte. Der Schock sickerte nur langsam zu mir durch. Er sorgte dafür, dass sich mein Magen verkrampfte.
Sie … hatte ihre Mutter sterben sehen? Gott, sie hatte es mit angesehen?
Carla blickte noch immer starr geradeaus, und ihre Miene gab nichts preis.
Ich wollte ihr sagen, wie unendlich leid es mir tat. Ich wollte sie in den Arm nehmen und ihr zeigen, dass ich für sie da war. Aber ich kannte Carla gut genug, um zu wissen, dass sie das vermutlich am allerwenigsten wollen würde.
»Wie ist das passiert?«, fragte ich vorsichtig.
Sie schnaubte leise. »Alkohol. Wir haben in einem großen Haus drüben in Coldwater gelebt. Sie hat immer viel getrunken, aber an diesem Tag besonders viel. Wir waren im Pool.«
Die Stille, die daraufhin folgte, war erdrückend. Mein Herz zog sich zusammen.
Ich streckte die Hand aus und legte sie auf ihre steifen Finger. Wie zu erwarten, fuhr sie zusammen, und ihr Kopf schnellte zu mir herum.
»Carla, das tut mir leid«, sagte ich, so aufrichtig, wie ich nur konnte. Sanft ließ ich meinen Daumen über ihren Handrücken fahren. Es wunderte mich, dass sie ihre Hand nicht schon längst weggezogen hatte, dass sie nicht ausstieg und einfach ging. Es sah ihr nicht ähnlich. Andererseits sah es ihr auch nicht ähnlich, sich mir anzuvertrauen oder gar Billard zu spielen. Vielleicht war es auch einfach nur der Alkohol, der ihre Zunge lockerte.
»Und danke«, fügte ich leise hinzu, »dass du mir das gesagt hast.«
»Was nützt es dir, das zu wissen?« Unsicherheit lag in ihren Augen, auch wenn sie ganz offensichtlich darum bemüht war, es nicht preiszugeben. Und doch zog sie ihre Hand unter meiner noch immer nicht weg. Ich konnte ihr süßes Parfum riechen. Ich wollte ihr so nahe sein, dass ich nichts außer ihr mehr wahrnahm.
… Nur auf den leichten Hauch von Alkohol hätte ich getrost verzichten können.
»Na ja«, sagte ich und verschränkte mutig meine Finger mit ihren. »Ich schätze, du interessierst mich einfach die Erbse.«
Einer ihrer Mundwinkel zuckte nach oben. Ich erwiderte das kleine Lächeln. Wärme breitete sich in meiner Brust aus.
Dann schüttelte sie seufzend den Kopf, zog ihre Hand aus meiner und lehnte sich zurück. »Wir werden bestimmt keine Freunde, wenn du dich weiter über mich lustig machst, Hollister.«
»Dann sind wir also auf dem Weg, Freunde zu werden, ja?« Ich lächelte breit. Breit und triumphierend.
Carla schien ihre Worte noch einmal zu überdenken. »Ay,
das habe ich nicht gesagt.«
Das musstest du auch nicht.
»Mir würde es wohl auch schwerfallen, mit jemandem zu sprechen, der mich so wahnsinnig macht wie ich dich«, erwiderte ich neckend.
Sie lachte auf und verdrehte die Augen. »Das reicht. Gute Nacht, Mitchell.« Sie schnallte sich ab und öffnete die Autotür.
Dann aber zögerte sie. Einige endlos scheinende Augenblicke rührte Carla sich nicht, was mich die Stirn runzeln ließ.
Dann plötzlich drehte sie sich um und nahm mein Gesicht in ihre Hände.
Mein Herz blieb mit einem donnernden Schlag stehen. Was zum …?
Sie zog mich zu sich, und ihre Lippen trafen auf meine Wange. Die ganze Welt erstarrte, und nichts schien mehr zu existieren, bis auf Carla und mich.
Dann glitten ihre Lippen zur anderen Wange, wobei ihr heißer Atem meinen Mund streifte. Es waren keine flüchtigen, unschuldigen Küsse wie die, die sie Sav oder den anderen zur Begrüßung gab. Ihre vollen, weichen Lippen verweilten auf meiner Haut, ihre Finger, die sich kaum merklich an meinem Haaransatz bewegten, bescherten mir eine irrsinnige Gänsehaut, die sich über meinen ganzen Körper ausbreitete. Und ich war mir verdammt sicher, genau in diesem Augenblick zu sterben.
Langsam löste Carla sich von mir und sah mich mit geweiteten Augen an. Ich war zu sprachlos, um irgendetwas zu erwidern.
»So verabschiede ich mich von meinen Freunden«, erklärte sie, doch ihre Stimme klang verräterisch dünn.
Ich konnte nicht mehr tun, als sie fragend anzusehen. Meine Gedanken und Gefühle waren zu wirr, als dass ich hätte widersprechen können. So küsste man keine Freunde. Nicht einmal sie.
Die Luft im Auto schien elektrisch aufgeladen.
»Damit du weißt, was dir entgeht, wenn du mich weiterhin aufziehst«, fügte sie hinzu.
Sie wartete nicht länger ab, sondern kletterte aus meinem Wagen, schlug die Tür zu und ging davon.
Ich atmete tief durch. Dann schloss ich die Augen und lehnte meinen Kopf nach hinten gegen den Sitz. Mein Herz donnerte regelrecht gegen meine Rippen. Ihr Duft hing noch immer in der Luft, und ich konnte noch immer den Druck ihrer Lippen auf meinen Wangen spüren.
»Verdammt noch mal«, murmelte ich.
Carla Santos war nicht nur mein Untergang. Sie war dabei, mir das Herz zu stehlen und nichts übrig zu lassen bis auf das erschütternde Verlangen, mich in ihr zu verlieren.