Kapitel 28
Mitchell
D as war’s. Die Aufnahme ist durch.«
Ich zog mir die Kopfhörer vom Kopf und lehnte mich zurück. Jason Parker grinste mich an und nahm ebenfalls die Kopfhörer ab, wodurch seine braunen Haare wirr abstanden. »Danke, Mann, das war echt cool.«
Wir saßen im Aufnahmeraum des Campusradios der Brown University. Vor uns waren eine Front etlicher Bildschirme und ein kompliziert aussehendes Mischpult, ebenso Jasons Laptop und zwei Mikrofone.
Ich stand auf und lächelte Jason erschöpft an. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass ich wirklich hier war. Die Freude darüber drang jedoch nicht so recht zu mir durch. Genau gesagt drang seit Freitagabend nichts richtig zu mir durch, auch wenn ich mir große Mühe gab, es zu verdrängen. Vermutlich wäre es einfacher gewesen, einen rosa Elefanten im Porzellanladen zu ignorieren als diesen hässlichen Riss, der sich durch mein Herz zog.
»Wann wird die Folge ausgestrahlt?«, fragte ich.
Jason zuckt mit den Schultern, während er seine Sachen zusammenpackte. Er wirkte durch und durch wie ein Sportlertyp, groß und athletisch, in Jeans und T-Shirt. Dennoch hatte er mir eben mit jeder Faser gezeigt, dass das hier sein Reich war, nicht etwa ein Footballfeld oder eine Schwimmhalle.
»So schnell wie möglich«, erwiderte Jason. »Ich werde das als Sondersendung hochladen, und sobald sie online ist, gebe ich dir Bescheid. Hey, wollen wir noch ein Foto für Instagram machen? Immerhin bist du der frisch gebackene Landeschampion im hundert Meter Schmetterling und zweihundert Meter Freistil.«
»Klar. Wieso nicht.«
Jason stand auf und hielt sein Smartphone vor uns. Er grinste selbstbewusst in die Kamera. Ich lächelte auch und hielt einen Daumen nach oben. Nach all den Fotos, die ich heute schon geschossen hatte, müssten meine Wangen mittlerweile schmerzen.
»So. Schon erledigt.«
Savannah, Ella und Summer hätten vermutlich Schnappatmung bekommen – sie waren der festen Meinung, dass man mindestens zwanzig Selfies schießen musste, bis etwas Anständiges dabei herauskam. Doch Jason schien zu wissen, was er tat. Ihm folgten immerhin Tausende von Leuten.
»Danke noch mal, dass du mich interviewt hast«, sagte ich und vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Das ist wirklich eine Ehre, hier zu sein. Ich höre deinen Podcast schon seit einer Ewigkeit.«
»Machst du Witze? Ich sitze hier mit dem nächsten Nathan Adrian!« Jason lachte.
Verlegen rieb ich mir über den Nacken. Nathan Adrian war Olympiaschwimmer für die USA und bereits seit Jahren mein Vorbild, vor allem seit er das erste Mal Gold gewonnen hatte. Jason und ich hatten in seinem Podcast ausführlich über ihn gesprochen.
»Ich, äh, sollte dann wohl so langsam gehen«, sagte ich und deutete auf die Tür. Obwohl es noch früher Abend war, hatte sich unser Team schon den Schwimmern der anderen Colleges angeschlossen, um etwas trinken zu gehen. Vor allem Austin feierte, was das Zeug hielt. Immerhin hatte er über fünfzig Meter Rücken den zweiten Platz gemacht.
Ich überlegte, ob ich nicht einfach zurück ins Hotel gehen sollte. Ich war vollkommen erledigt vom Wettkampf und konnte eine gute Mütze Schlaf vertragen. Die letzten beiden Nächte hatte ich kaum ein Auge zugemacht. Ich hatte mich für die Meisterschaften, für meine große Chance, zwar zusammengerissen, aber meine Gedanken waren dennoch wieder zu Carla zurückgekehrt. Nicht einmal mein Sieg änderte etwas daran. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf. Obwohl Carla mir ziemlich deutlich gemacht hatte, was sie für mich empfand – oder wohl eher, was sie nicht für mich empfand –, sträubte sich alles in mir dagegen. Ich wollte und konnte ihr nicht glauben, auch wenn es sich anfühlte wie eine Stahlfaust, die sie mir in den Magen geschlagen hatte. Bei ihr musste gerade die Hölle los sein. Ich wollte wissen, wie es ihr und Mateo und Oskar ging und was zum Teufel eigentlich passiert war.
Jason musterte mich aufmerksam und legte den Kopf schief. »Hey, Mann, alles okay bei dir?«
»Klar«, sagte ich sofort und schob die Gedanken von mir. »Ich schätze, es war einfach ein langer Tag. Der Wettkampf war nervenaufreibend.«
Ich hatte das Gefühl, dass Jason mir geradewegs in den Kopf sehen konnte. »Verstehe. Hast du vielleicht Lust, noch etwas trinken zu gehen? Ich kenne da eine echt coole Bar. Fernab von feiernden Schwimmern.« Wissen blitzte in seinen Augen auf.
Ich runzelte die Stirn und überlegte einen Moment. Wenn ich ehrlich war, war mir tatsächlich nicht nach Feiern zumute. Vielleicht würde ich später bei den anderen vorbeischauen, aber gerade konnte ich ein wenig Ruhe gut gebrauchen.
Sollte ich nicht glücklicher sein? Nur wenige Sekundenfragmente hatten mich immerhin zum Helden der Fletcher University gemacht. All die harte Arbeit der letzten Monate, das strenge Feilen an meiner Technik, an meiner Atmung, meinem ganzen Leben, hatte sich endlich bezahlt gemacht. Der Moment des Sieges war überwältigend gewesen, einmalig und mit nichts zu vergleichen. Es war wie ein Rausch gewesen. Ich hatte mit verdammten Scouts gesprochen, namenhaften Sportagenten die Hand geschüttelt und ihre Glückwünsche entgegengenommen. Das hier war der Startschuss meiner Karriere, wie Coach Pat stolz verkündet hatte, gleich nachdem ich aus dem Becken gestiegen war.
Bei alldem fehlte mir jedoch etwas.
Jemand.
Und zwar schmerzlich …
Vielleicht würde es helfen, mit Jason Parker in eine Bar zu gehen. Vielleicht würde mich das wieder daran erinnern, wie viel Glück ich eigentlich hatte.
»Wieso nicht«, sagte ich schließlich und lächelte schief. »Gehen wir was trinken.«
Wir verließen das Studio des Campusradios und liefen nach draußen. Die Brown University war wirklich eindrucksvoll. Jedes der alten Backsteingebäude schrie förmlich nach Geld, alter Geschichte und Ivy-League. Immerhin gehörte sie zu den ältesten und besten Eliteuniversitäten des Landes. Hier waren auch meine Eltern gewesen. Hier hätte ich auch studieren können. Die Vorstellung allein war seltsam. Wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, so weit weg von Savannah und von meinen Freunden? Weit weg von … Carla?
Es reicht, du Weichei. Lenk dich ab!
»Da drüben ist die Robinson Hall, sie gehört zur wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät«, sagte Jason und deutete auf ein beeindruckendes rotes Backsteingebäude in der Ferne, mit spitzem Vordach und langen schmalen Fenstern, in dem typischen viktorianischen Stil der Universität. Währenddessen schlenderten wir einen Weg zwischen alten Bäumen und ordentlich gemähten Rasenflächen entlang. Es waren einige Studenten unterwegs. Für sie war es jedoch offenbar ein ganz gewöhnlicher Montagabend.
Die Richtung, die wir einschlugen, führte immer weiter weg vom Campus und dem Hotel, in welchem sich auch die Bar befand, in der heute gefeiert wurde.
»Siehst du diesen großen Turm da? Das ist die SciLi, die Science Library, unsere Bibliothek für Naturwissenschaften.« Jason fuhr damit fort, auf verschiedene Gebäude zu zeigen und mir zu erklären, welche Fakultäten darin lagen. Während der kleinen Führung klang er überhaupt nicht arrogant oder versnobt. Es schwang etwas in seinen Worten mit, als wäre die Brown der einzige Ort, an dem er sein wollte.
»Wow«, sagte ich, gerade als er mir mehr über College Hill erzählt hatte, dem Stadtteil von Providence, in dem wir uns gerade befanden. »Es ist echt nett bei euch.«
»Nett ist die kleine Schwester von Scheiße, sagt mein Mitbewohner immer. Sieh mal, wir sind da. Dort vorne ist das Voyage, die Bar, die ich meinte.«
Ich entdeckte die Bar auf der anderen Straßenseite. Sie machte einen recht leeren Eindruck, soweit es die Fensterfront vermuten ließ.
Als wir das Voyage betraten, war das Erste, was mir auffiel, die Musik. Sie gefiel mir, alternativer Rock mit einer ganz eigenen Note.
Wie ich bereits vermutet hatte, war tatsächlich nicht viel los. Es waren ein paar Studenten zu sehen, doch es fand kein Gedrängel statt. Durch das gedimmte Licht war nicht alles zu erkennen, doch ich sah Stehtische, Sitznischen und Barhocker an einem langen Tresen.
Jason begrüßte den Barkeeper hinter der Theke mit einem Handschlag.
»Hey, Cole, das ist Mitchell. Mitchell, das ist mein Mitbewohner Cole«, stellte Jason uns vor.
Cole war groß und seine Arme voller Tattoos. Schwarze Haare hingen ihm in die Stirn, und – das war letztendlich das Entscheidendste – er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Stark Industries.
»Cooles Shirt«, bemerkte ich und schlug in die Hand ein, die er mir hinstreckte. Cole musterte mich, ehe er eine gepiercte Augenbraue hob. »Das würde ich ja gerne zurückgeben, aber du stehst auf der falschen Seite.«
Jeder Nicht-Marvel-Fan würde wohl nicht verstehen, dass er auf Civil War anspielte, aber ich wusste sofort, was er meinte. Immerhin trug ich meinen Pullover, auf dem der Schild von Captain America zu sehen war. »Definiere falsche Seite. Vielleicht bist du es, der wechseln sollte.«
Cole schnaubte. »So unmoralisch bin ich nicht. Tony Stark hatte gute Gründe zu tun, was er getan hat.«
»Die hatten Steve Rogers und die anderen auch.«
Jason verdrehte belustigt die Augen. »Echt jetzt? Ihr habt euch erst vor drei Sekunden kennengelernt, bitte geht mir nicht jetzt schon auf die Nerven. Cole, mach deinen Job und bring uns zwei Bier.« Er sah mich an und runzelte die Stirn. »Bier ist doch okay, oder?«
Einen Augenblick lang betrachtete ich die aufgereihten Spirituosen an der Wand hinter dem Tresen. »Weißt du, ich glaube, ich könnte heute etwas Stärkeres vertragen.«
Cole zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Sag mir, was du willst, und ich besorg es dir.«
»Mir ist alles recht.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl.«
»Glaub ihm kein Wort«, sagte plötzlich eine Frau, die ich bisher noch nicht bemerkt hatte. Sie stand ebenfalls hinter der Bar, versteckt hinter Coles großer Gestalt. Sie kam an die Theke, um zwei Gästen ihre Drinks zu reichen, die sie wohl eben gemixt hatte. Sie war vollkommen in Schwarz gekleidet, inklusive Stulpen an ihren Armen. Ein Sidecut und lila Strähnen zierten ihre blonden Haare, und ein Piercing blitzte in ihrer Unterlippe auf.
Sie drehte sich zu uns um und begegnete meinem verwirrten Blick. »Ich weiß, wovon ich rede.« Ungerührt wanderten ihre Augen weiter zu Cole, und sie sah ihn herausfordernd an.
Er warf dem Mädchen einen genervten Blick zu, schnappte sich ein Shotglas und füllte es mit Tequila. »Hör nicht auf Lauren, das versuche ich auch die meiste Zeit.«
»Nur weil Cole nicht weiß, was gut für ihn ist«, erwiderte sie.
Er ignorierte sie und reichte mir das Glas. »Hier, bitte, Mitchell.«
Ich setzte mich auf einen Barhocker, kippte den Drink runter und schüttelte mich, ehe ich sah, dass Cole mir gerade Salz und eine Zitronenscheibe reichen wollte.
Er runzelte die Stirn. »Durstig?«
Die Wärme des Alkohols breitete sich in meinem Bauch aus. Als ich ihm das Glas wieder hinhielt und die Zitrone und das Salz entgegennahm, schenkte er mir wortlos nach.
Jason setzte sich ebenfalls auf einen Barhocker. »Willst du dich volllaufen lassen?«
»Kam lange nicht mehr vor. Aber ich glaube, jetzt ist ein guter Zeitpunkt dafür«, murmelte ich. Dann nahm ich mir etwas Salz. Ich leckte es von meinem Handrücken, kippte den Drink hinunter und biss in die Zitrone. Ich schüttelte mich. Tequila schmeckte wirklich widerlich. Doch er erfüllte seinen Zweck, mehr wollte ich gar nicht erreichen.
Geistesabwesend beobachtete ich, wie Lauren, die Barkeeperin, Cole in eine Diskussion verwickelte. Es schien beinahe, als würden sie sich streiten, doch ich konnte sehen, dass keiner von beiden es wirklich ernst meinte. Sie neckten sich, während sie die Gäste bedienten, und Lauren zog Cole auf.
… und irgendwie erinnerte es mich an Carla.
Verdammt, alles erinnerte mich an sie.
»Irgendetwas sagt mir, dass du nicht trinkst, um deinen Sieg zu feiern«, bemerkte Jason und musterte mich besorgt.
Neugierig wandte Cole sich wieder uns zu, nachdem er einem Kerl ein Bier gereicht hatte. »Was denn für ein Sieg?«
Lauren machte ein ungläubiges Gesicht. »Die Schwimmmeisterschaften? Manchmal glaube ich, du lebst hinter dem Mond, Cole.«
Jason grinste. »Nein, in einem Comic.« Unbeirrt kehrte sein Blick wieder zu mir zurück und wurde fragend.
Ich rieb mir über das Gesicht. Die Muskeln in meinen Armen fühlten sich noch immer ein wenig erschöpft an.
Du hast gewonnen. Genieß es. Heute ist der Tag deines Lebens!
»Nein, du hast recht«, sagte ich. »Mir ist wirklich nicht nach Feiern zumute.«
»Sondern?«, fragte Cole und schenkte mir wieder nach. Währenddessen bediente Lauren andere Studenten.
Ich seufzte und starrte auf die abgenutzte Holztheke. »Na ja. Da ist dieses Mädchen, und sie …«
Ich konnte die Worte nicht einmal aussprechen, ohne dass sich dabei ein hässliches Gefühl in mir ausbreitete.
»… ja?« Erwartungsvoll zog Cole eine gepiercte Augenbraue nach oben.
Jason schien ebenfalls etwas sagen zu wollen, doch da klingelte sein Handy. Er zog es hervor, ehe ein kurzes Lächeln über seine Lippen huschte. »Entschuldigt mich. Gleich wieder da«, sagte er verlegen und entfernte sich von uns.
Noch immer sah Cole mich aufmerksam an, als würde es ihn tatsächlich interessieren.
Ich stieß hart den Atem aus und lachte freudlos. »Hat mir das Herz gebrochen.« Damit stürzte ich auch den dritten Drink hinunter.
»Oh«, erwiderte Cole. Anstatt mich zu bemitleiden, reichte er mir gleich die ganze Flasche Tequila und stellte sie neben mein leeres Shortglas und das Salz. »Die lasse ich dir am besten mal hier stehen.« Anschließend sah er sich kurz nach Lauren um, offenbar, um sich zu versichern, dass sie auch allein klarkam, ehe er sich wieder mir zuwandte. »Pass auf, ich bin nicht gut in so was. Aber ich hör’s mir an, wenn du drüber reden willst.«
Ich lächelte grimmig. »Was soll ich sagen? Ich habe ihr gesagt, dass ich sie liebe, und sie hat mir den Laufpass gegeben.«
Ich war wirklich kein Trinker. Dennoch schenkte ich mir nach. Noch nie hatte ich diese Drinks nötiger gehabt als jetzt.
Ich merkte, dass meine Story nicht ansatzweise befriedigend klang, also nahm ich mich zusammen und holte weiter aus – entweder der Tequila wirkte schnell, oder ich hatte schlichtweg das Bedürfnis, all die Dinge der letzten Monate endlich loszuwerden. Es half meinem Gewissen ein wenig, dass ich Cole nicht kannte und wir uns nach diesem Abend vermutlich nie wiedersehen würden. Immerhin lag Providence am anderen Ende des Landes. Cole hörte sich meine Geschichte mit regungsloser Miene an.
Als ich schließlich fertig war, blinzelte er mich nur an. »Hm. Klingt nach großer Scheiße.«
»Ich hätte nicht zu den Meisterschaften fahren sollen. Ich hätte für sie da sein sollen. Vielleicht … vielleicht rufe ich sie an.«
»Verdammt, das machst du auf keinen Fall. Betrunken erst recht nicht.«
»Noch bin ich nicht betrunken.«
»Gib deinem Körper noch zehn Minuten, dann sieht die Welt schon anders aus.«
»Gott, ich kann nicht glauben, dass ich gerade einem Barkeeper meine Leidensgeschichte erzählt habe. Ich dachte, das passiert nur in Filmen. Tut mir leid.«
Wieder warf Cole Lauren einen Blick zu, doch es waren keine neuen Gäste gekommen, und sie war selbst gerade dabei, Gläser abzuspülen. Mir fiel auf, dass seine Augen immer wieder zu ihr zurückkehrten, kurz, unbemerkt und flüchtig.
Coles Mundwinkel zuckten. »Du hast ja keine Ahnung. Hey, hör mal. Ich kenne mich mit solchen Dingen zwar nicht aus und ich habe keine Ahnung, wie Carla tickt. Was ich aber weiß, ist, dass Kayla, die Freundin von diesem liebestrunkenen Trottel da«, er deutete auf Jason, der ein Stück von uns entfernt noch immer telefonierte, »ihm auch gesagt hat, dass sie ihn nicht will, und ihm das Herz gebrochen hat. Es war ein echtes Drama, und mir hat’s schon vom Zuschauen gereicht. Fakt ist aber: Jetzt sind sie zusammen und wirklich ekelhaft ineinander verliebt.«
»Ich fürchte, bei Carla ist es komplizierter.« Ich rieb mir über das Gesicht. »Mann, ich hätte wirklich nicht herfahren dürfen. Ihr Bruder ist im Krankenhaus, und sie …« Ich stockte und blickte auf. Allmählich begann die Welt ein wenig zu schwanken. Cole hatte recht, der Tequila ließ nicht auf sich warten. »Ich glaube, ich sollte den nächsten Flieger nehmen.«
»Wenn sie sich gerade so um ihren Bruder sorgt und dich weggeschickt hat, hat sie vielleicht einfach keinen Raum für emotionales Chaos. Gib ihr Zeit, sich zu sortieren.« Er presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Etwas blitzte in seinen Augen auf, als steckte mehr hinter seinem Ratschlag, Erfahrungen am eigenen Leib.
Ich überlegte einen Moment, auch wenn meine Gedanken mit jedem Augenblick träger wurden. »Vielleicht hast du recht«, sagte ich und sackte auf dem Barhocker zusammen.
Cole nickte. »Vielleicht hab ich das. Noch einen?« Er hob fragend die Flasche, doch ich winkte ab.
»Ich glaube, für heute habe ich genug.«
Er räumte die Flasche weg und ließ das Thema auf sich beruhen.
Ich hing eine Weile an der Bar und lauschte der Musik. Jason kehrte irgendwann wieder zu uns zurück und bestellte sich noch ein Bier. Ich klinkte mich aus. Gedankenverloren beobachtete ich die Freunde und wurde dabei immer missmutiger. Carla steckte in einem Albtraum fest. Der, vor dem sie sich immer am meisten gefürchtet hatte. Und während alledem war ich hier und nicht bei ihr. Doch sosehr sich alles in mir dagegen sträubte, nicht für sie da sein zu können … verstand ich allmählich, weshalb sie mich von sich gestoßen hatte. Vielleicht hatte Cole recht. Ich sollte ihr Raum geben und nicht noch mehr Chaos in ihr Leben bringen. Der Gedanke quälte mich zwar, doch tief in mir drin – und durch den Tequila musste ich ein wenig danach suchen – wusste ich, dass es die richtige Entscheidung war, sie gehen zu lassen.
»Also, Mitchell«, sagte Cole, während er den Tresen abwischte. »Du bist Marvel-Fan?«