Kapitel sechs

Er

Zwei Monate zuvor

Heute ist er angespannt und hat große Mühe, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Nicht, dass er seine Arbeit nicht mag, denn das tut er. Die Arbeit selbst ist sehr erfüllend. Menschen zu helfen. Er findet, dass er einen wertvollen Beitrag leistet. Dass er nicht so wertlos ist, wie seine innere Stimme behauptet. Normalerweise liebt er die Ablenkung durch seinen Job.

Aber nicht heute. Heute will er im Chatroom nachsehen, wie es inzwischen mit den Reaktionen auf seine Nachricht steht. Als er heute Morgen vor der Arbeit reingeschaut hat, waren sie über Nacht explodiert. Da waren über 300 Antworten. Über 700 »Likes« und nur eine Handvoll »Daumen runter«-Emojis. Ihm gefällt, dass er einen Nerv getroffen hat.

Er will mehr schreiben, die Diskussion fortsetzen, aber auch all die Antworten lesen, sich Zeit nehmen, sie auszukosten. Und die Zeit hat er bei der Arbeit nicht.

Er kann sich nicht einmal an einen der Arbeitscomputer schleichen und nachschauen. Die Vorgesetzten hier haben einen Keylogger installiert und alle mögliche Spyware, damit sich keiner der Lakaien etwas ansieht, was er nicht darf. Mit manchen Sachen kommt er durch, weil er sie als Recherche ausgibt, aber dies hier würde einen Alarm auslösen, und er kann nicht riskieren, dass jemand Fragen stellt. Vor allem nicht jetzt, da in ihm eine Idee Form annimmt.

Er will es wieder tun. Noch eine Frau suchen, die allein unterwegs ist, und hinter ihr schneller werden. Er muss wissen, ob es ein einmaliges Erlebnis war – dieses High, das er gestern Abend gehabt hatte. Könnte es eines dieser Dinge sein, die nie wieder an die erste Erfahrung heranreichen?

Es ist nicht so, dass er Frauen hasst, sagt er sich. Er hat einen gesunden Respekt vor ihnen, meistens zumindest. Er denkt nur, dass es da draußen eine gefährliche Bewegung gibt. Eine, die nicht auf die Gleichstellung mit Männern abzielt, sondern beweisen will, dass Frauen besser sind. Dass sie keine Männer brauchen. Die Männer verspottet, auf sie herabschaut und von Misogynie heult, während die Frauen in Gruppen gackern, das Mannsvolk zur Schnecke machen und miteinander lachen. Sie reduzieren Männer auf ihre Schwanzgröße. Oder ihren Kontostand. Oder darauf, wie viel von der Hausarbeit sie erledigen.

Diese Frauen haben noch nie darüber nachgedacht, wie schnell sich die Dinge für Männer verändert haben, sodass es schwer für sie ist, ihren Platz in der Welt zu finden. Ist man hilfsbereit, wird einem Mansplaining vorgeworfen. Wird man emotional, heißt es, man solle »ein Mann sein«. Versucht man, nett zu sein, klatscht einem gleich ein #MeToo entgegen und landet der Name auf der schwarzen Liste.

Er hat es erlebt. Immer und immer wieder. In seinem Privatleben, in seiner Arbeit. Frauen, die ihren Status als »das schwache Geschlecht« nutzen, um mit Mord davonzukommen, die aber berechnender sind als viele der Männer, die er kennt. Männer wie er, die nur versuchen, sich in einer sich verändernden Welt zurechtzufinden.

Man sollte meinen, dass sie mehr Verständnis dafür haben, wie es sich anfühlt, unterdrückt zu werden. Dass sie mitfühlender wären. Doch ihnen reicht es nicht, etwas zu ändern. Sie müssen jeden Mann auf dem Planeten für die Sünden seiner Vorväter bestrafen.

Das Klingeln seines Telefons reißt ihn aus seinen Gedanken und seiner wachsenden Wut. Es holt ihn zurück in die Gegenwart. Er muss sich konzentrieren. Den Fokus behalten. Die Belohnung kommt zu gegebener Zeit. Nachdem er es wieder versucht hat.

Er geht ans Telefon und schaltet in den Profi-Modus um. Nur noch ein paar Stunden muss er cool bleiben. Das schafft er. Er weiß, dass er das kann.