Kapitel sieben

Marian

Dienstag, 2 . November
Seit fünf Tagen vermisst

Wir haben nicht geschlafen. Wie könnten wir? Zu jeder Nacht ihres Lebens hatten wir bisher eine vage Vorstellung, wo unser Kind gewesen ist. Wir haben gewusst, ob sie im Land oder verreist ist. Wir haben gewusst, ob sie in ihrem Studentenwohnheim schlief oder bei ihrer besten Freundin. Wir haben gewusst, dass sie draußen in der Welt war und ihr Leben lebte.

Das wissen wir jetzt nicht mehr. Wir wissen gar nichts, und dieses Nichts nagt an mir. Ich erinnere mich, dass meine Oma, als Nell noch ein Kleinkind war und mich mit ihrem Klammern beinahe zur Verzweiflung trieb, zu mir sagte, ich solle die Jahre genießen. Die Nähe auskosten. Es genießen, jederzeit zu wissen, wo sie war. Es kommen mehr schlaflose Nächte, wenn sie nicht mehr unter deinem Dach sind, sagte sie zu mir. Damals hatte ich das abgetan. Nell hat immer schlecht geschlafen. Sie hatte den Spitznamen »das Kind, das niemals schläft«. Wenn ich mit Freundinnen darüber redete, während ich so viel Kaffee trank, wie ich nur konnte, ohne einen Herzinfarkt zu bekommen, hatte ich stets eine Story parat, wie sie in den frühen Morgenstunden putzmunter wach wurde und sofort bereit für den Tag war. Sogar, wenn es noch nicht mal nach Mitternacht war.

Ich war total erschöpft, und dennoch war da ein Teil von mir, der für jenes Lächeln in den dunklen Stunden lebte. Der, als sie ein wenig älter war, das Gefühl ihrer kleinen Hände liebte, die mein Gesicht streichelten, und ihr »Wach auf, Mummy«. Die Wärme ihres sanften Atems auf meiner Haut, wenn sie zwischen Stephen und mir ins Bett kroch und meine Augen aufdrückte, sobald ich es wagte, sie länger zu schließen, als ein Blinzeln dauerte.

Zu jener Zeit war mir nicht klar, dass der Tag kommen würde, an dem ich die mitternächtlichen Störungen vermisse oder alles und mehr für nur noch eine von ihnen gäbe.

Ich trinke einen Kaffee, der schon kalt geworden ist, als es klingelt und mein Herz fast aussetzt vor Angst. Stephen und ich sehen uns mit großen Augen über den Küchentisch hinweg an. Es ist noch früh. Der Himmel ist von einem tintigen Grau, das die Nacht vertreibt. Es ist zu früh für Besuch, zumal hier sowieso niemand einfach vorbeikommt. Nicht ohne vorher anzurufen.

Niemand außer Nell. Einen winzigen Moment lang hege ich Hoffnung. Sie flutet mich, verebbt aber genauso schnell wieder. Nell würde selbstverständlich ihren Schlüssel benutzen. Ich sitze wie versteinert auf meinem Stuhl. Meine Beine verweigern den Dienst. Selbst wenn ich wollte, glaube ich nicht, dass ich aufstehen könnte.

Stephen rührt sich, und ich blicke ihm nach, wie er den Raum verlässt, lausche seinen Schritten im Flur. Ich will zuhören und habe zugleich schreckliche Angst.

In meinem Kopf hat das »Es tut mir furchtbar leid«-Gespräch schon begonnen. Ich kann den Schrei hinten in meiner Kehle fühlen. Ich sehe die Schwärze näherrücken, will schreien, dass all das aufhören soll. Als hätten meine Worte irgendeine Macht über das, was als Nächstes kommt.

Seine Stimme ist ein tiefes Brummeln, das ich nicht ganz verstehen kann.

Eine höhere Stimme, weiblich, nicht Nell, antwortet. Das Rauschen in meinen Ohren macht es unmöglich zu verstehen, was gesagt wird.

Ich höre Schritte, sehe zuerst Stephen, dann eine uniformierte Polizistin, dunkelhaarig, vielleicht in den Dreißigern, die mich mitfühlend anschaut.

»Haben Sie sie gefunden?«, frage ich. Meine Stimme klingt, als käme sie von woanders.

»Noch nicht«, antwortet die Frau. »Aber wir tun alles, was wir können.« Sie stellt sich als Constable Heather Williams vor, die uns frisch zugeteilte Vertrauensbeamtin. Sie ist da, um uns zu helfen, während die Polizei nach Nell sucht. Ich nehme an, dass sie auch hier ist, um uns in unserer häuslichen Umgebung zu beobachten. Zu schauen, ob irgendetwas an uns schreit, wir könnten für das Verschwinden unseres Kindes verantwortlich sein. Oder ob wir Menschen sind, die sich schnell Feinde machen.

Sie wird bitter enttäuscht sein, wie durchschnittlich wir sind, denke ich. Stephen macht ihr einen Kaffee. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, es anzubieten. Immer noch sitze ich in meinem Morgenmantel da und kann die Beine nicht bewegen.

Sie lächelt Stephen zu, dankt ihm für den Kaffee und setzt sich hin, um ihre Rolle genauer zu erklären. Sie erzählt uns, dass später wahrscheinlich noch DS King mit einem vollständigen Update kommt, was getan wird und was geplant ist. Soweit ich es sehen kann, hat sie uns außer ihrem Namen und ihrem Dienstgrad eigentlich keine Informationen gegeben.

Doch sie hat eine nette Art, und dafür bin ich dankbar. Es ist tröstend. Ihre Stimme ist sanfter, weniger wertend im Ton als DS Kings. Und sie beherrscht dieses verständnisvolle Nicken perfekt, das oft eingesetzt wird, um Mitgefühl zu signalisieren.

Ich blicke nach unten zu dem Toast vor mir und erinnere mich nicht, ob ich ihn gemacht oder Stephen ihn mir hingestellt hat. So oder so kann ich den nicht essen. Er würde mir entweder im Hals stecken bleiben, oder ich würde ihn gleich wieder auskotzen.

Seit gestern Mittag habe ich nichts mehr gegessen, aber seltsamerweise bin ich nicht hungrig. Essen interessiert mich nicht.

»Nell ist Ihr einziges Kind?«, fragt Heather. (Sie hat gesagt, wir sollen sie schlicht Heather nennen.) Sie sitzt an unserem Tisch und trinkt ihren Kaffee. Ihre Uniform sieht so unbequem aus. Voluminös. Die zusätzliche Sicherheit, die nötig ist, wenn man in Nordirland bei der Polizei ist. Einen Moment lang denke ich daran, dass sie eine Waffe bei sich hat. Eine Waffe in meinem Haus.

»Ist sie«, antwortet Stephen. »Wir hätten gerne noch mehr gehabt, aber aus dem einen oder anderen Grund ist es nicht dazu gekommen.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Nein, wir wollten nicht mehr Kinder. Zumindest ich nicht. Schwanger zu sein, war nichts für mich. Bei Nell war ich die ganze Zeit heftig krank; so sehr, dass ich mir schon vor der ersten Wehe geschworen hatte, mir das nie wieder anzutun.

Und Nell ist immer genug gewesen. Sie hat mich auf eine Weise vervollständigt, wie ich es bei keinem anderen menschlichen Wesen für möglich gehalten hätte. Ich würde, ohne zu zögern, jedem, der fragt, sagen, dass ich zwar einen eher distanzierten Ansatz habe, was das Muttersein für mein erwachsenes Kind angeht, Nell aber die Liebe meines Lebens ist. Den Gedanken, dass Stephen und ich uns je wieder lieben, habe ich längst aufgegeben. Es wird nicht sein Gesicht sein, an das ich mich auf meinem Sterbebett erinnere. Nell ist die größte Liebe, die ich je gekannt habe.

»Sie ist genug gewesen«, sage ich, und meine Stimme hört sich schwach an. Sie bricht, und ich verstumme, hole tief Luft und beruhige mich. Wenn ich jetzt der Sorge und dem Kummer nachgebe, werde ich in lauter kleine Stücke zerfallen, die wahrscheinlich niemand wieder zusammensetzen kann.

»Ich selbst habe keine Kinder«, sagt Heather, obwohl keiner von uns gefragt hat. »Irgendwann vielleicht. Dann müsste ich mir allerdings überlegen, mir einen anderen Job zu suchen.«

»Aber bei der Polizei von Nordirland gibt es doch gewiss reichlich Mütter«, wendet Stephen ein.

»Oh ja, natürlich. Allerdings kann es für Frauen schwerer sein, mit dem Sicherheitsrisiko fertigzuwerden, wenn ein Kind da ist …«

Wieder senkt sich Stille über die Küche. Wir warten weiter – warten auf Neuigkeiten. Warten, dass sie zur Tür hereinkommt. Warten, dass ein Hundehalter eine grauenvolle Entdeckung am Straßenrand macht. Ich kneife die Augen zu, schiebe das Bild von mir. Nein. Ich erlaube meinem Verstand nicht, diese Richtung einzuschlagen.

»Wohnt sie schon länger nicht mehr zu Hause?«, fragt Heather.

»Sie ist mit achtzehn ausgezogen«, erzähle ich ihr. »Zuerst zur Ausbildung nach Belfast, und dann, als sie letztes Jahr wieder nach Derry kam, hat sie beschlossen, zusammen mit Clodagh ein Haus zu mieten, statt wieder hier einzuziehen. Sie sind seit Jahren befreundet.«

»Wie ging es Ihnen mit ihrem Auszug?«

Ich zucke mit den Schultern. »Sie ist erwachsen. Ich möchte, dass sie glücklich und unabhängig ist. Und ehrlich gesagt war ich stolz auf ihr Selbstvertrauen, dass sie wusste, was sie wollte. Ich nehme ihr nicht übel, dass sie nicht wieder zu ihren Eltern ziehen wollte. Wir sind ja nicht gerade hip.« Ich lächle matt und drehe an meinem Ohrring. Stephen sagt, dass mich das immer verrät. Wenn ich gestresst bin – oder lüge.

»Sie wohnt sehr gern mit Clodagh zusammen. Hin und wieder übernachtet sie hier. Über Weihnachten war sie da und als sie die Grippe hatte, damit ihre Mum sie gesund pflegen konnte«, sagt Stephen.

Heather lächelt sanft. »Ah, ja, wollen wir nicht alle unsere Mum, wenn wir uns mies fühlen?«

Mein Magen verkrampft sich. Ist Nell jetzt irgendwo und ruft nach mir? Will sie, dass ich sie wieder aufpäpple? Oder ist es dafür schon zu schlimm?

Obwohl ich nichts gegessen und höchstens ein paar Schlucke von meinem kalten Kaffee getrunken hatte, entschuldige ich mich und gehe ins Bad, wo ich würgend alles erbreche, was in meinem Magen ist.

Solch einen Schmerz habe ich noch nie erlebt, und ich bin dagegen machtlos.