Kapitel zehn

Marian

Dienstag, 2 . November
Seit fünf Tagen vermisst

Die Pressemitteilung ist »raus«. Ich weiß es, weil meine fruchtlosen Versuche, ein bisschen zu schlafen, zusätzlich vom hartnäckigen Piepen und Klingeln meines Telefons torpediert werden. Ich sollte es ausschalten, denke ich, bevor mir klar wird, dass ich es nie wieder ausschalten werde. Nicht bevor Nell wohlbehalten zu Hause ist.

Ich scrolle durch die Anruferliste, weil ich sicher sein muss, dass ich keinen Anruf und keine Nachricht von ihr inmitten all der »Wie geht’s dir?« und »OMG « verpasst habe. Als wäre »OMG « eine passende Nachricht an jemanden, dessen Tochter verschwunden ist. Dies ist keine Reality-Show. Es ist das wahre Leben. Das tatsächliche, echte Leben.

Es ist nichts von Nell da. Ich klicke auf die Website des Chronicle und rechne damit, ihr Foto auf dem Display zu sehen. Aber das tue ich nicht. Ich muss weiterscrollen und noch mehrere Male klicken, bevor ich den Aufruf finde, nur wenige Zeilen lang. Es wird nach Nell gefragt und jeder gebeten, sich zu melden, der sie gesehen hat.

Ein DI David Bradley, den ich nicht kenne und von dem ich nicht wusste, dass ihm der Fall zugeteilt wurde, hat gesagt, dass dieses Verhalten »untypisch« für Nell sei, doch seine Worte wirken nicht sonderlich besorgt.

Aber immerhin ist jetzt öffentlich, dass Nell vermisst wird. Bislang kann es allerdings keinen Durchbruch gegeben haben, denn Heather hat nicht angeklopft. Ich frage mich, ob Stephen zurück ist. Aus irgendeinem Grund möchte ich nicht nach unten in mein Wohnzimmer gehen, ohne zu wissen, ob er da ist oder nicht. Ist Heather noch da? Mit ihrer Waffe und ihrem Schlagstock? Sitzt sie auf meinem Sofa und schaut Loose Women zusammen mit Harry Styles, der vielleicht zufrieden auf ihrem Schoß schnurrt? Hat sie herumgeschnüffelt und sich angesehen, was wir so haben?

Müsste sie nicht eher bei Clodagh in Nells Haus sein? Bei Nells Sachen. Den Hinweisen auf ihr Leben. Hier ist nur sehr wenig, das ihnen verraten könnte, was sie vorgehabt haben mag. Vielleicht schlage ich es ihr vor, wenn ich aufstehe. Sage ihr, dass ich mit ihr zu Nell fahre. Damit sie sich gründlicher umsehen kann.

Wieder piept mein Telefon. Der blecherne Klang hallt in meinem Kopf, der sich immer noch wie zusammengeschnürt anfühlt. Ich blicke nach unten und sehe Clodaghs Namen in der Ankündigung einer neuen Textnachricht aufleuchten. In der ganzen Zeit, die Clodagh und Nell zusammenwohnen, hatte ich vielleicht zwei Nachrichten von dieser Nummer bekommen. Die erste war eine Bitte, Nell auszurichten, dass sie ihr Handy zu Hause vergessen hatte, die zweite eine von Nell, um mir zu sagen, dass sie ihr Handy bei der Arbeit hatte liegen lassen, aber über Clodaghs zu erreichen sei.

Ist es unsinnig zu hoffen, dass diese jetzt von meinem Kind kommt? Vielleicht hat sie ihr Handy bei irgendeiner irren Kneipentour verloren, was vollkommen untypisch für sie wäre, und es ist ihr einfach nur schrecklich peinlich, dass alle nach ihr suchen.

Doch gleich die Anrede »Mrs Sweeney« verrät mir, dass es nicht Nell ist, und ich bin maßlos enttäuscht.

Ich sehe wieder hin. Mrs Sweeney, schreibt Clodagh. Können wir uns treffen? Ich denke, ich muss mit Ihnen über etwas reden.

Meine erste Reaktion ist, ins Telefon zu fluchen, weil sie nicht gleich schreibt, worüber wir reden müssen. Gibt es einen blöderen Satz als »Wir müssen reden«? Voller Drohungen, Versprechen und unheilschwanger.

Meine zweite Reaktion ist, sofort »Natürlich« zu antworten und dass ich so schnell wie möglich bei ihr bin.

Ich schlüpfe in meine Schuhe, blicke in den Spiegel und stelle fest, dass ich immer noch so abgekämpft und verzweifelt wie vorhin aussehe, und ich beschließe, nichts dagegen zu machen. Mir fehlt einfach die Energie. Stattdessen gehe ich nach unten und sage Heather, dass ich wegmuss.

Sie sieht mich verwundert an, fragt aber nicht, wohin ich will.

»Das ist doch okay, oder nicht?«, frage ich.

»Ja, sicher. Ich bin hier, um Ihnen beizustehen, und nicht, um Sie gefangen zu halten. Wissen Sie, dass der Aufruf rausgegangen ist?«

Ich nicke und erzähle ihr von den Nachrichten, die mein Handy geflutet haben.

»Denken Sie bitte daran, uns Bescheid zu geben, falls Sie meinen, etwas in den Nachrichten könnte uns helfen, Nell zu finden«, sagt sie, und nun ist es an mir, sie verwundert anzusehen. Hält sie mich für so blöd oder egoistisch, dass ich nicht alles tun würde, um meine Tochter zurückzubekommen?

»Selbstverständlich«, antworte ich.

»Wissen Sie was«, sagt sie, »ich fahre zurück ins Büro und schaue mal, was dort passiert. Später komme ich wieder und bringe Sie auf den neuesten Stand. Vielleicht so kurz nach vier? Und sollten sich die Medien direkt an Sie wenden, verweisen Sie die bitte an unsere Pressestelle, die kümmert sich um alle Anfragen.«

Ich bejahe, nehme meine Handtasche und warte, dass Heather geht, bevor ich die Haustür hinter mir schließe und in meinen Wagen springe. Vielleicht sollte ich Stephen anrufen und ihm sagen, wohin ich fahre. Andererseits hat er mir auch nicht erzählt, wo er ist oder mit wem. Was nichts Neues ist und mich normalerweise nicht nervt – jedenfalls nicht mehr –, heute aber schon. Allerdings ärgert mich heute alles, was er tut. Es könnte sein, dass ich wütend auf ihn bin, weil er sie nicht findet. Er sollte imstande sein, das zu regeln. Wir sollten dazu imstande sein.

Clodagh sieht aus, als hätte sie auch nicht geschlafen. Ihre Augen sind immer noch gerötet. Sie ist ungeschminkt, wodurch auffällt, wie blass sie von Natur aus ist und dass ihre jugendliche Haut noch mit gelegentlichen Akneausbrüchen kämpft.

Sie ist angezogen, so gerade, in einer Jogginghose und einem sehr großen Pullover, dessen Ärmelenden sie in den Händen knüllt. Als sie mich erblickt, fängt sie sofort an zu weinen, und ich sehe, wie sie sich mit einem Ärmel die Tränen und den Rotz abwischt.

»Mrs Sweeney«, sagt sie mit zitternder Stimme, »kommen Sie rein.«

Sie führt mich in die Küche, in die Küche meiner Tochter, wo ich zwei halb volle Teebecher auf der Spüle sehe. Clodagh nickt zu ihnen hin. »Die werden immer kalt, und dann mache ich einen frischen. Möchten Sie einen Tee?«

Sie stellt den Wasserkocher an, bevor ich antworten kann. Ich will einfach nur, dass sie mir erzählt, warum ich herkommen sollte.

»Clodagh, können wir zur Sache kommen? Sie haben geschrieben, dass wir reden müssen.«

Sie sieht mich gekränkt an. Als wäre sie ein Welpe, dem ich eben einen Tritt versetzt hätte. Vielleicht ist mein Tonfall zu schroff.

»Entschuldigung«, murmelt sie, und ich bemerke, dass ihre Hand zittert, als sie heißes Wasser aus dem Kocher in einen Becher gießt und einen Teebeutel hineinwirft. Sie reicht mir den Becher, und obwohl ich nicht gesagt habe, ob ich Tee will oder nicht, nehme ich ihn und stelle ihn auf den Tisch. Wahrscheinlich wird er kalt, genau wie die anderen. Clodagh setzt sich hin, ringt die Hände und blickt zu mir auf. Ihre großen braunen Dackelaugen glänzen vor Tränen.

Für einen Moment sieht sie wie die unbeholfene Zwölfjährige aus, der ich damals zum ersten Mal begegnet bin, als Nell und sie sich in der Schule anfreundeten.

»Clodagh«, sage ich und zwinge mich, behutsam zu ein. »Bitte, wenn es irgendwas gibt, das Sie mir erzählen möchten, spucken Sie es bitte aus.«

»Ich wollte Ihnen nichts verheimlichen. Ich habe bloß Angst gehabt, und die Polizei war hier, und ich wollte nicht, dass Sie schlecht von ihr denken. Aber Sie müssen es wissen, und die Polizei auch, weil ich wirklich Angst habe.«

Eine Träne läuft ihr über die Wange, der sofort die nächste folgt, und sie wischt sie mit dem bereits durchfeuchteten Ärmel weg. Mein Herz klopft sehr schnell. Ich will wissen, was sie zu sagen hat, und gleichzeitig möchte ich es auf keinen Fall hören. Falls es nicht gut ist.

»Clodagh …«, sage ich wieder.

»Ich wollte mich sowieso bei Ihnen melden, weil ich nicht wusste, an wen ich mich sonst wenden soll. Aber mit Nell stimmt schon seit einer Weile etwas nicht.«

»Was?«

»Sie war nicht dieselbe. Es hat damit angefangen, dass sie ein paar Abende unter der Woche aus war. Sie hat gesagt, dass sie neue Leute kennengelernt hat, die sie treffen will. Aus dem Krankenhaus, aber sie hat mir nie erzählt, wen. Wenn ich nachgefragt habe, hat sie gesagt, dass ich nicht eifersüchtig sein soll. Es würde mir nicht stehen, hat sie gesagt.« Clodagh wird ein bisschen rot. Ich bringe kein Wort heraus.

»Dann war sie einige Male über Nacht weg, ohne es vorher zu sagen. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber entweder nahm niemand ab oder es sprang sofort die Mailbox an. Letztlich ist sie immer wieder nach Hause gekommen. Manchmal am Vormittag oder am Nachmittag. Oder ich habe sie bei der Arbeit in der Kantine gesehen. Da wirkte sie ein bisschen fertig. So war sie sonst nie, aber, na ja, wir sind jung, und ich dachte, sie entwächst mir und unserer Freundschaft einfach oder hat eben eine verrückte Phase. Ich dachte, sie kriegt sich wieder ein.«

»Ich ahne ein Aber«, sage ich und versuche bereits, dieses Bild von Nell mit dem der jungen Frau zu vereinbaren, die ich kenne und liebe.

»Aber sie hat sich nicht eingekriegt. Sie war immer häufiger weg, hat hin und wieder bei der Arbeit gefehlt. Vorletzte Woche ist sie zwei Tage hintereinander nicht zum Dienst erschienen, ohne Bescheid zu sagen. Dafür ist sie schriftlich verwarnt worden.«

Ich fühle, wie ich vor Scham rot werde. Scham wegen des Verhaltens meiner Tochter. Und die Polizei hat schon mit ihren Vorgesetzten gesprochen, weiß vielleicht von der Verwarnung.

»Deshalb habe ich, als sie am Donnerstag nicht nach Hause gekommen ist, gedacht, sie ist wieder mit Freunden unterwegs«, fährt Clodagh fort. »Und ehrlich gesagt war ich echt sauer auf sie, weshalb ich froh war, mal eine Pause zu haben.«

»Warum waren Sie sauer auf sie?«

Clodagh senkt kurz den Blick und sieht wieder zu mir. Dann holt sie tief Luft. Bei diesem Gespräch ist ihr sichtlich unwohl. »Sie hat mir Geld geschuldet«, erzählt Clodagh. »Für die Miete. Sie hat ihren Anteil seit zwei Monaten nicht mehr ganz gezahlt. Genau genommen hat sie so gut wie nichts bezahlt, und ich hatte sie gebeten, die Stromrechnung zu übernehmen, weil sie damit dran war, aber dann kam mit der Post eine letzte Mahnung. Als ich sie gefragt habe, wo das Geld ist, hat sie bloß gelacht und gemeint, ich solle chillen. Sie würde sich was ausdenken, hat sie gesagt. Das Leben sei zum Genießen da, und sie habe Spaß. Ich würde mich benehmen, als sei ich vorzeitig gealtert. Das hat sie in letzter Zeit oft gesagt.«

Ich sehe ihr an, wie verletzt sie ist. Und ich muss gestehen, dass es nicht nach der Nell klingt, die ich kenne. Die ich kannte. Falls ich sie denn überhaupt je gekannt habe. Bis zu diesem Moment habe ich sie jedem, der fragte, als »eine vernünftige junge Frau« beschrieben und bin stolz gewesen auf ihre ruhige, verantwortungsbewusste Art. Ich habe jedem gesagt, dass sie mir in ihrem ganzen Leben nie Probleme gemacht hat und ich solch ein Glück mit ihr habe.

Das lässt sich nicht mit dieser neuen Version von Nell in Einklang bringen, von der Clodagh mir erzählt. Nachlässig mit Zahlungen zu sein, nicht zur Arbeit zu erscheinen, eine Verwarnung zu bekommen. Auf Kneipentouren zu gehen. Und die ganze Zeit dachte ich, sie würde alles wie immer halten.

»Wir haben uns immer öfter in die Haare gekriegt. Na ja, gestritten, Sie wissen schon. Sie fing sogar an, im Haus alles schleifen zu lassen. Nicht mehr ihren Teil der Hausarbeit zu machen. Ich wollte Ihnen das nicht erzählen«, sagt sie. »Aber als sie nicht wiedergekommen ist, und jetzt mit der Polizei, die nach ihr sucht … Ich muss Ihnen das sagen und auch der Polizei.«

»Mit wem ist sie ausgegangen?«, frage ich.

Clodagh zuckt mit den Schultern. »Zuerst waren es einige Schwestern aus der Arbeit, dann Freunde von ihnen. Und ein paar Tinder-Dates. Leute, die ich nicht kenne. Sie hat nie Namen genannt. Es hieß immer nur ›meine Freunde dies … meine Freunde das‹. Ich weiß nicht, ob sie etwas damit zu tun haben, dass sie nicht nach Hause gekommen ist, aber es könnte sein. Vielleicht ist sie bei denen.«

Ein Moment der Hoffnung. Vielleicht ist sie nur auf einer sehr langen Sauftour. Jetzt bin ich sauer auf Clodagh, weil sie mir das gestern Abend nicht erzählt hat. Die Polizei hätte mit ihren Freunden von der Arbeit reden können, vielleicht herausgefunden, mit wem sie unterwegs gewesen ist, vielleicht sogar Nell gefunden.

Dies hier hätte vorbei sein können, bevor es angefangen hatte.

»Verraten Sie mir die Namen«, sage ich und angle mein Telefon aus der Tasche. »Rufen wir DS King an, damit sie dem nachgeht.«

»Bekomme ich Ärger?«, fragt Clodagh. »Wenn sie Nell finden. Komme ich dann in Schwierigkeiten? Weil ich die Zeit der Polizei verschwendet habe?«

»Wenn wir sie finden, sorge ich dafür, dass Sie keinen Ärger bekommen«, verspreche ich, obwohl mir bewusst ist, dass ich das nicht entscheide. Ich tippe die Nummer ein, die DS King mir gestern Abend gegeben hat, und nicke Clodagh zu, als es am anderen Ende zu klingeln beginnt.

»DS King, hier ist Marian Sweeney. Ich bin bei Clodagh, Nells Freundin. Sie hat mehr Informationen für Sie. Darf ich Sie an sie weiterreichen?«

»Ja, sicher«, antwortet DS King, und ich gebe Clodagh das Telefon. Dann höre ich zu, wie sie der Polizistin erzählt, dass meine Tochter in den letzten paar Monaten komplett entgleist ist. DS King muss das Schlimmste von mir denken. Von der Mutter, die ihre Tochter überhaupt nicht kennt.

Ich weiß nicht, was sie getan hat, wozu sie fähig ist oder in welche Schwierigkeiten sie sich gebracht haben könnte. Erdrückende Schuldgefühle mischen sich mit tiefer Enttäuschung über meine Tochter. Sie hat mich aufs Übelste enttäuscht.