Kapitel elf

Er

Zwei Monate zuvor

Es fiel ihm ein, als er in der Nacht darauf im Bett lag und nicht schlafen konnte. Den ganzen Tag hatte es an ihm genagt und ihn noch reizbarer als sonst gemacht. Mindestens zweimal hatte er sich Sprüche à la »Kopf hoch!« angehört, und es hatte ihn seine gesamte Kraft gekostet, nicht jeweils mit »Leck mich!« zu antworten. Das wäre nicht gut gekommen. Man hätte ihm Mobbing, sexuelle Belästigung oder irgend so einen Bockmist vorgeworfen.

Ehe er zur Arbeit ging, hatte er in den Chatforen herumgelesen und versucht, seine anschwellende Wut auf jene zu ignorieren, die ihn der Lüge bezichtigten. Die Foren waren faszinierend. Durch sie betrachtete er die Welt auf völlig neue Art und Weise. Er hatte das Gefühl, dass er dieses bohrende Empfinden, falsch in der Welt um ihn herum zu sein, endlich benennen konnte. Das Leben richtete sich mehr und mehr gegen Männer aus. Von ihm wurde erwartet, stark und maskulin zu sein, aber Gott bewahre, dass er zu maskulin war. Gott bewahre, dass seine Männlichkeit ins Toxische kippte.

Nur, dass niemand zu wissen schien, wo die Grenze verlief. Weinen, aber keine Gefühle zeigen. Für sich selbst einstehen, aber kein Bully sein. Führungsstärke zeigen, aber auf Frauen hören. Dazu das konstante Männer-Bashing. Männer sind nutzlos. Männer sind dumm. Männer fangen Kriege an. Männer wissen nicht, wie sie ihre eigenen Kinder versorgen. Männer sind wütend. Alle Männer sind Vergewaltiger. Alle Männer sind sexistisch.

All das, all diese Erfahrungen tanzen durch seinen Kopf, als ihm eine Idee kommt, wie er allen beweisen kann, dass sie, was ihn betrifft, falschliegen.

Leute wollen Beweise. Und die liefert er ihnen mit Freuden. Er kann die GoPro benutzen, die er sonst zum Radfahren mitnimmt, und alles aufzeichnen. Es online stellen, damit sie es sehen. Dann können sie es nicht mehr abstreiten.

Er möchte in die Luft boxen. Es ist so simpel, dass er nicht versteht, warum er nicht früher darauf gekommen ist. Vielleicht brauchte er bloß genug Ruhe. Es musste ihm in den frühen Morgenstunden einfallen. Würde er glauben, dass noch irgendwer um diese Zeit draußen unterwegs wäre, würde er aufstehen, sich anziehen und sofort auf die Jagd gehen.

Aber er weiß, dass alle Welt schläft. Deshalb muss er bis nach der Arbeit warten. Was frustrierend ist, aber er kann es als Motivation nutzen, um den Arbeitstag so gut wie möglich zu überstehen. Es wird ihm den nötigen Wumms geben, den er braucht, um seine Kollegen auszuhalten. Um zu überleben, dass er in seine Schranken verwiesen wird. Dass ihn seine Chefin herumkommandiert, die nur ein paar Jahre älter ist als er und – jede Wette! – nicht halb so gut in dem Job wie er. Aber natürlich war sie es, die zu seiner Vorgesetzten befördert wurde. Die Quoten müssen stimmen, Verdienst hin oder her.

Er merkt, wie seine Stimmung wieder sinkt, und atmet tief durch. Nein, in dieses negative Denken verfällt er nicht. Er konzentriert sich darauf, sein Video zu drehen, es hochzuladen und auf die Likes zu warten, die danach hereinströmen. Er weiß, dass sie kommen, genau wie er weiß, dass es Lob geben wird. Die Leute auf dieser Website sind wütend. Sie wollen etwas, das sich wie ein Sieg anfühlt. Und er weiß, dass es für sie einer sein wird, weil er das für ihn schon ist.

Er muss nur diesen Arbeitstag durchstehen, dann kann er allen zeigen, dass er nicht bloß ein trauriger Fall ist, der allein in seinem Zimmer hockt und sich Geschichten ausdenkt. Er ist jemand, der Respekt verdient.

Um kurz nach halb neun am nächsten Abend tauscht er seine Kleidung gegen eine schwarze Jeans und einen anthrazitfarbenen Pullover. Weil es kalt ist, zieht er seine dunkelblaue Daunenjacke über, setzt seine schwarze Beanie auf und nimmt Handschuhe mit. Trotz des dunklen Outfits glaubt er nicht, dass er komisch auffallen wird. Vielen Männern ist nicht danach, sich in Regenbogenfarben zu kleiden, wenn sie spazieren gehen. Den meisten, tippt er.

Und an seinen Vans ist ein weißer Streifen, also ein kleines Zugeständnis an helle Kleidung. Er zieht sich nicht so an, weil er im Schatten lauern, sondern weil er es bequem haben will, nicht auffallen und nicht frieren.

Den Tag über hatte er gründlich überlegt, wohin er geht. Es muss irgendwo sein, wo die Chance besteht, dass eine Frau allein unterwegs ist. Vielleicht sogar ein bisschen angeheitert von einem Feierabenddrink. Das könnte gut sein, weil es ihm einen zusätzlichen Vorteil verschaffen würde. Und das Spiel ein bisschen unterhaltsamer machen würde. Wenn er ehrlich ist, hilft es auch, sein Gewissen zu beruhigen. Geht heutzutage eine Frau aus, betrinkt sich und wandert alleine nach Hause, obwohl sie glaubt, dass alle Männer furchtbar und Sexualstraftäter sind, ist es irgendwie ihre Schuld, oder? Bettelt sie nicht geradezu darum? Ihm ist bewusst, dass es nicht politisch korrekt ist, das zu sagen, aber das macht es nicht weniger wahr.

Er beschließt, durch die Waterloo Street zu streifen, die in Derry für ihre vielen Pubs bekannt ist. Da gibt es sogar einen Taxistand, also kann ihm keine Frau, die von dort allein loszieht, ohne in ein Taxi zu springen, wo sie sicher wäre, einen Vorwurf machen, weil er ihre Blödheit ausnutzt.

Schließlich will er ihr gar nichts tun. Ihr bloß Angst einjagen. Ihr zeigen, wie dumm sie gewesen ist. Wenn man es recht bedenkt, also wirklich darüber nachdenkt, tut er ihr einen Gefallen. Sie dürfte es sich zweimal überlegen, so ein dämliches Risiko noch einmal einzugehen. Immerhin könnte sie das nächste Mal weniger Glück haben.

Da er weiß, dass er vielleicht eine Weile warten muss, bis er die Richtige sieht, fragt er sich, ob er auf ein Pint ins Peadar O’Donnell’s gehen soll. Er kann dort an der Bar sitzen und sich umschauen, welche Frau für ihn interessant wäre. Andererseits ist es ein kleiner Pub, und es besteht die Gefahr, dass er erkannt oder von den Überwachungskameras aufgenommen wird.

Nein, er bleibt draußen, außer Sicht von irgendwelchen Kameras, und wird die Vorfreude auskosten, bis es so weit ist. Mit der GoPro startbereit in seiner vorderen Jackentasche, die Linse direkt über dem Tascheneingriff, beobachtet er die Tür. Er sieht eine Gruppe Mädchen, vielleicht Anfang zwanzig, die lachend und untergehakt in die Bar gehen. Eine von ihnen blickt in seine Richtung, und er fragt sich, ob sie ihm zulächelt oder vielleicht Hallo sagt. Er sieht gleich, dass sie nicht sein Typ ist, aber auch nicht abstoßend hässlich.

Noch besser würde sie aussehen, wäre ihr Haar nicht ganz so stark toupiert und ihr Rock nicht ganz so kurz. Eines steht fest: Sie ist sehr viel selbstbewusster, als sie sein sollte. Dennoch würde sie es notfalls tun. Ihr Blick begegnet seinem, und sie öffnet den Mund, hält an und stoppt so auch ihre beiden Freundinnen, die wie Hyänen lachen.

Er zieht die Augenbrauen hoch, fragt sich, ob er ins Hellere treten soll. Hallo sagen. Sich vorstellen. Schließlich heißt es doch so schön, Gott sei mit denen, die sich bemühen. Aber nein, er darf sich nicht von seinem Vorhaben ablenken lassen. Jede Hoffnung, dass dieses künstlich gebräunte Püppchen mit dem aufgeplusterten Haar auch nur ein Wort mit ihm wechselt, reicht nicht annähernd an das High heran, das ihn erwartet, wenn er seiner Online-Gemeinschaft beweist, dass er nicht gelogen hat.

Und jede Überlegung hat sich ohnehin erledigt, als die Frau etwas sagt.

»Oi, du dreckiger Arsch!«, lallt sie. »Verpiss dich, du gruseliger Drecksack.« Ihre Stimme ist furchtbar, wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. Näselnd. Gewöhnlich. Billig.

Er unterdrückt den Wunsch, ihr zu sagen, dass er sie nicht mal mit einem Drei-Meter-Stab anfassen würde, der vorher sterilisiert wurde. Die Erniedrigung brennt in ihm, als sie weitergeht und ihre Freundinnen lachen und jubeln, als wäre sie eine moderne Suffragette, deren unflätige Worte eben das Patriarchat niedergestreckt haben.

Doch seine Erniedrigung schlägt schnell in Wut um, die wiederum seine Entschlossenheit befeuert, sich seine Macht zurückzuholen. Als die Tür zur Bar wieder aufgeht und eine Frau allein heraustritt, die sich nervös in beide Richtungen umschaut, fühlt er ein Kribbeln.

Verglichen mit dem Tramp vorher nimmt sie sich mausgrau aus. Sollte er wetten, würde er sagen, dass sie direkt von der Arbeit kommt. Der graue Hosenanzug und die schwarzen Pumps verraten, dass sie in einem Büro arbeitet. Sie hat eine schlichte schwarze Handtasche bei sich, trägt einen Wollmantel und eine blassrosa Mütze über dem glatten blonden Haar. Sie sieht traurig aus, fast verletzlich. Und sie ist die ideale Gelegenheit.

Er schaltet seine GoPro ein und beginnt, ihr die Straße hinunter zu folgen, beobachtet, wie sie an dem Taxistand unten an der William Street vorbeigeht. Fürs Erste bleibt er gut zwanzig Schritte hinter ihr; ihm ist bewusst, dass sein Atem schwer klingt, weil er aufgeregt ist. Adrenalin flutet seine Adern, und er geht schneller, die Hände tief in den Taschen vergraben. Er pfeift gerade laut genug, um sicher zu sein, dass sie ihn hört, und stellt erfreut fest, dass sie nun auch ein bisschen schneller wird.

Also beschleunigt er mehr, sodass sich der Abstand zwischen ihnen verringert. Sie blickt sich um, und er sieht die Angst in ihren Augen. Sogar im Dunkeln und bei Regen ist sie deutlich zu erkennen. Er schaut nach unten, geht weiter. Sie überquert die Straße, und er bleibt noch einige Schritte lang auf seiner Seite. Sie soll sich in Sicherheit wähnen, denken, dass er ihr doch nicht folgt.

Und dann geht er über die Straße, fast auf einer Höhe mit ihr. Nah genug, dass er die kleinen Wolken ihres Atems sehen und das leichte Stocken darin hören kann. Sie greift in ihre praktische Handtasche und holt einen Schlüsselbund hervor, mit dem sie klimpert, als würde das reichen, um ihn abzuwehren.

Da will er wirklich loslachen. Es entwickelt sich exakt so, wie er gehofft hat. Da ist ein winziger Schrei – ein unwillkürlicher Ausdruck, wie viel Angst sie hat. Und er hat, was er braucht, denkt er. Er hat genug getan.

Wieder tritt er vor, sodass er fast neben ihr ist, da dreht sie sich zu ihm um. Sie ist nicht wütend wie die erste Frau. Nicht bereit, ihm mit ihren Schlüsseln die Augen auszustechen.

»Bitte«, sagt sie zittrig. »Tun Sie mir nichts!« Sie weint.

Eine Sekunde lang bringt es ihn ins Stocken, denn das hat er nicht erwartet.

Er blickt in ihre vor Furcht weit aufgerissenen Augen.

»Ich gehe nur zu meinem Wagen«, sagt er. »Ich wollte Ihnen keine Angst machen.«

Sie starrt ihn an, und er bleibt stehen, hebt eine Hand. »Sorry«, sagt er. »Ich gehe einen anderen Weg, falls das hilft.«

Sie nickt, spricht aber nicht, sondern dreht sich wieder um und läuft weiter, immer noch schnell. Die Furcht hat sie niedergedrückt, denn ihre Schultern sind gebeugt und beben unter ihrem schweren Atem. Die Nachtluft trägt ihm ein einzelnes Schluchzen zu.

Er wartet, dass ihn Schuldgefühle überkommen. Eigentlich müsste er sich mies fühlen, weil er diese junge Frau zum Weinen gebracht hat, aber das tut er nicht.

Wenn überhaupt, fühlt er sich noch stärker als beim letzten Mal. Er hat mehr Macht. Diese Angst war anders. Sie war real. Kam von innen. Und sie war – und ist – berauschend.

Er tippt auf seine GoPro, kann es nicht erwarten, nach Hause zu kommen und seinen Fang online zu stellen. Der wird es den Arschlöchern zeigen, denkt er mit einem triumphierenden Grinsen. Der wird es ihnen verdammt noch mal zeigen!