Kapitel dreizehn

Marian

Dienstag, 2 . November
Seit fünf Tagen vermisst

Heather kann uns nicht viel sagen. Es ist eine Leiche. Weiblich. Mehr nicht. An ihrer Stelle würde ich auch auf die leitenden Beamten warten, damit sie den üblen Teil übernehmen. Der dürfte in ihrer Gehaltsklasse nicht abgedeckt sein.

Ganz gleich, wie oft wir sie fragen, wo die Leiche gefunden wurde, was sie anhatte oder wie alt die Tote zu sein scheint, Heather sagt immer nur, sie weiß es nicht. Ja, wir nerven sie. Und mir ist klar, während wir sie das erste bis dritte Mal fragen, dass sie keine neuen Informationen haben kann. Aber das hält uns nicht vom Fragen ab.

Ich denke, dass ich diese unmöglichen Fragen stellen muss. Wenn ich aufhöre zu reden oder mir anhöre, wie sie sagt, sie weiß es nicht, wenn nur noch ein Moment vergeht, in dem nicht gesprochen wird, lande ich im Kopf an anderen Orten.

Entsetzlichen Orten.

Was ist dieser Toten zugestoßen, die meine Tochter sein könnte? In welchem Zustand ist die Leiche? Ist sie von Wunden übersät? Hängt sie an einem Baum? Ist sie bei einem dieser blöden, tragischen, unvorhersehbaren Unfälle umgekommen? Wurde sie schlimm verletzt – im Leben durch einen Wüstling oder im Tod durch Tiere, die sich an ihrem verwesenden Fleisch gütlich getan haben?

Vor meinem geistigen Auge taucht das Bild von einer graugrünen Leiche auf, über die Insekten krabbeln und durch sie hindurch, und ich renne zur Spüle, um mich heftig zu übergeben.

Ich fühle eine Hand auf meinem Rücken, die ihn sanft reibt. So wie ich es bei Nell gemacht habe, als sie klein und krank war und den Trost ihrer Mutter brauchte. Ich weiß nicht, ob es Stephen oder Heather ist, und es ist mir egal. Ich will nur, dass es Nell ist.

»Ich weiß, dass ich Ihnen Unmögliches abverlange«, erklärt Heather, »aber wir sollten abwarten, was DI Bradley zu sagen hat.«

»Die schicken doch nicht die hohen Tiere vorbei, wenn sie Zweifel haben, dass die gefundene Tote unsere Tochter ist.« Stephens Stimme klingt hohl und raspelnd. Als könnte er nicht genug Luft in die Lunge bekommen, um normal zu atmen. Ich bin wütend auf ihn, weil er noch den letzten Hoffnungsschimmer fahren lässt, den wir haben. Und wütend, weil es so einleuchtend ist und ich nicht anders kann, als auch jegliche Hoffnung zu verlieren.

Heather widerspricht ihm nicht. Sie antwortet nur, dass dieser DI Bradley, dieser Oberboss, den wir bislang noch nicht gesehen haben, mehr wissen wird. Es steht ihr nicht zu, irgendwelche Informationen preiszugeben, die er uns überbringt.

»Aber ich habe recht, oder?«, fragt Stephen wütend, wenn auch beängstigend ruhig. Er gibt auf. »Warum sollte so ein hochrangiger Polizist herkommen, um uns dasselbe zu erzählen, was Sie uns eben gesagt haben? Er muss sich zweifelsfrei sicher sein.«

Heather wirkt, als wäre ihr nicht wohl in ihrer Haut, was ich ihr nicht verüble. Fast tut sie mir leid, bis ich mich daran erinnere, was hier vor sich geht. Und es erwischt mich wie eine mächtige Flutwelle, die auf den Strand kracht. Es werden noch eine Million dieser Wellen über mich hereinbrechen, bis sie mich komplett weggespült haben.

»DI Bradley ist ein guter Polizist. Einer unserer Besten, und er mag es, direkt an seinen Fällen dran zu sein. Ich glaube, er hatte sowieso vor, heute zu Ihnen zu kommen, aber dies beschleunigt die Sache natürlich.«

»Es beschleunigt die Sache natürlich« ist eine sehr elegante Art zu sagen: »Diese Suche könnte schon vorbei sein, noch ehe sie richtig angefangen hat.«

Inzwischen bibbere ich, obwohl es nicht kalt ist. Heather sieht sich um, blickt zum Sofa im Wintergarten, der von der Küche abgeht, und dem dunkelroten Überwurf, der über die Sofalehne drapiert ist. Blitzschnell holt sie den und legt ihn mir um die Schultern, bückt sich und reibt meine Arme. Ich will schreien. Mir ist nicht kalt, aber ich kann nicht aufhören zu zittern. Mein ganzer Körper verfällt in einen so heftigen Krampf, dass mir die Zähne klappern.

»Marian«, höre ich Stephens Stimme, die so besorgt um mich klingt wie seit Jahren nicht. »Geht es dir gut?«

»Es ist der Schock«, antwortet Heather. »Heißer, süßer Tee könnte helfen.«

»Aber die Milch …«, sagt Stephen. »Ich hole welche.«

»Mr Sweeney, ich finde nicht, dass Sie in der Verfassung sind, Auto zu fahren. Ich kann welche bringen lassen.«

Aber natürlich tut Stephen, was er in einer Krise immer tut. Er schnappt sich seine Jacke und seine Schlüssel und geht sowieso. Ich bin zu verloren in meinem Bibbern, um ihn zurückzurufen. Meine Atmung ist jetzt komisch, zu verkrampft, zittrig. Kleine Züge, die ich in meine Lunge zu zwingen versuche. Meine Lippen kribbeln, und mir ist schwindlig.

Ich bin mir bewusst, dass Heather sich bemüht, mich mit ihrer Stimme in einen Atemrhythmus zu bekommen. Damit ich langsam und tief Luft hole. Eine Erinnerung schleicht sich in meinen Kopf. Nell, die so neben mir hockt wie Heather jetzt und ihre warmen Hände auf meine legt. »Atme einfach, Mummy«, sagt sie. »Guck mich an, atme mit mir.« Sie konnte mich in meiner Panik immer beruhigen. Hat immer die Zeichen erkannt, wenn ich abzudrehen drohte. Oh Gott, ich habe ihr so viel Verantwortung zugemutet, als sie noch so klein war!

Ich erlaube mir zu glauben, dass Heather meine Tochter ist. Dass es Nell ist, die ich jetzt höre, genau wie früher. Dass sie mir meinen Atem zurückholt, damit die verschwommenen schwarzen Ränder meines Bewusstseins verschwinden und ich wieder im Hier und Jetzt bin.

Ich höre die Stimme meiner Tochter. »So ist es gut, Mummy. Du machst das klasse. Alles okay. Es wird alles wieder gut.«

Viel zu schnell wird daraus: »So ist es gut, Mrs Sweeney. Einatmen und Ausatmen. Zählen Sie mit mir.« Nell ist fort, schon wieder.

»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, sage ich zu ihr. »Wie soll ich das tun? Jemandem zuhören, der mir erzählt, dass mein Kind tot ist, und dann versuchen zu begreifen, dass sie nicht mehr da ist? Es ist falsch. Das ist nicht richtig.«

Vielleicht weiß sie nicht mehr, was sie sagen soll, denn Heather reibt nur stumm meine Hand. Beruhigt mich mit ihrer Berührung. Das muss ein schrecklicher, beschissener Job sein. Bei jemandem zu sitzen, dessen Welt zusammenbricht. Angeschrien oder vollgeweint zu werden; die Verzweiflung zu erleben, die mit dem Verlust einhergeht.

Ich blicke auf. Ihre Augen sind von diesem seltsamen Ton, der weder Braun noch Grün ist, sondern irgendwo dazwischen, und mit goldenen Sprenkeln. Nell hat blaue Augen. Ein kühles Blau. Beinahe Grau. Als Teenager hatte sie eine Phase, in der sie genervt davon war. Blau ist »langweilig«, erklärte sie mir. Sie wollte grüne Augen haben, smaragdgrüne.

»Tut mir leid«, sage ich zu Heather. Mehr nicht. Ich nehme an, dass sie weiß, was ich meine. Dass mir die Panikattacke leidtut. Dass mir Stephens Unhöflichkeit und sein Rausstürmen leidtun. Dass mir alles leidtut.

»Sie müssen sich für nichts entschuldigen«, antwortet sie.

Weil sie nicht alles weiß. Sie hat keine Ahnung, dass ich meiner Tochter gesagt habe, sie solle ausziehen. Ihr Leben leben. Nicht wieder zu Hause einziehen und sich von den Spannungen zwischen ihrem Vater und mir erdrücken lassen. Zu der Zeit hielt ich es für das Richtige. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es hierzu führen würde; und jetzt werde ich es mir wohl niemals vergeben.