Er ist begeistert, aber nicht überrascht, als das Video schon in den ersten Stunden Hunderte von Views hat. Und noch schöner ist, dass sich einer der Leugner von gestern Abend entschuldigt.
»Du bist echt ein starker Typ, Mann«, hat seine gesichtslose Nemesis geschrieben. Das genügt ihm. Er weiß, dass es nicht immer genug sein wird – das erkennt er ziemlich schnell. Dieses High, vom Posten des Videos über das Lesen der Kommentare, die ihm zujubeln, bis hin zu der Entschuldigung, ist super, wird ihm aber nicht ewig reichen.
Nächstes Mal würde er gerne weitergehen. Es besser machen. Dafür sorgen, dass er nicht von betrunkenen Schlampen angepöbelt wird, die von einer Bar in die nächste torkeln. Und ein bisschen näher an die Frau herankommen, die er jagt.
Jagen scheint ein ganz gutes Wort dafür zu sein. Es passt.
Er fragt sich, ob er es wagen kann, sie zu berühren. Wie könnte das gehen? Er müsste etwas bei sich haben, vielleicht einen Lippenstift, den er aus Jades Zimmer klaut. Seine Beute antippen, beobachten, wie sie sich umdreht, die Augen weit aufgerissen vor Schreck und Angst, ihr Mund ein perfektes »O« – eines, bei dessen Vorstellung allein schon sein Schwanz zuckt und er sich ausmalt, wie sie vor ihm kniet.
Macht ihn das zu einem Perversen? Abnorm? Dass es ihn erregt? Nein. Erregung ist normal. Sie ist eine biologische Reaktion. Die lässt sich nicht immer kontrollieren. Er sagt ja nicht, dass er sich jemandem aufzwingen würde. Er ist kein Vergewaltiger. Aber Fantasien haben darf er.
Alles, was er will, ist, jemanden berühren. Sie fragen, ob sie ihren Lippenstift verloren hat. Dabei Jades nuttigen roten Lippenstift vor ihrem Gesicht hin- und herschwenken. Beobachten, wie sie den Kopf schüttelt und weggeht. Er will bloß ihren Gesichtsausdruck. Ein momentaner Ausdruck von Angst, aus der Nähe, in Reichweite. Nah genug, um zu sehen, wie sie den Mund leicht öffnet und sich ihre Pupillen weiten.
Er weiß schon, dass alles Hin- und Herüberlegen überflüssig ist, denn er wird es tun. Und er wird das Video posten, und die anderen Poster in dem Chatroom werden ihn erst recht legendär finden. Es ist nur die Frage, wie bald.
Er blickt wieder zu dem Post, sieht, dass die Likes mehr werden. Da ist ein Abweichler unter ihnen. Jemand, der sich hinter einem Avatar von Austin Powers und dem Nick BigMan versteckt.
Ich weiß nicht, Bro. Das hat megagruselige Vibes. Du weißt nicht, wem du folgst und womit die es zu tun haben können. Warum jemanden nur für Likes traumatisieren?
Einen Moment lang stockt er. Er fragt sich, ob BigMan (was für ein erbärmlicher Username) recht hat. Geht es ihm nur um Likes? Ist es ein Trauma?
Er sieht, wie die anderen ihn verteidigen und auf BigMan eindreschen. Dies ist kein Forum für »Sensibelchen«. Jeder, der hierherkommt, weiß, worauf er sich einlässt – sie wissen, was sie in den dunklen Nischen des Darknets tun. Ein Ort, an dem Männer wie er frei sagen und machen können, was sie wollen. Und es gibt hier weiß Gott Schlimmeres als seine Fantasien.
Er liest die Antworten.
HymenBreaker: Du bist so eine Pussy. Trauma? Er geht bloß in ihrer Nähe. Männer dürfen in der Nähe von Frauen gehen! Das haben sie uns noch nicht genommen. Lass dir ein Paar Eier wachsen oder uns echte Männer in Ruhe.
UppaReds: Frauen wollen alles haben. Gleichwertig behandelt werden, aber nein, geh ja nicht in ihrer Nähe, sonst werden sie traumatisiert? Hau ab, BigMan.
Truth4 Life: Irgendwo muss man anfangen, sich zu wehren. Wer heult hier rum wegen dem ganzen Trauma, das wir als Männer durchmachen, weil uns sämtliche Rechte gestohlen werden?
Sie alle haben gute Argumente, findet er. Man muss sich wehren. Wenn er an diese Flittchen denkt, die zu dem Pub torkelten und es wagten, ihn zu beschimpfen, wird ihm das klar. Er war es nicht, der sich provozierend angezogen hatte. Er war es nicht, der sich so betrunken hat, dass jeder es ausnutzen konnte. Er war es nicht, der laut auf der Straße fluchte und Fremde mit Kraftausdrücken bedachte. Er war nicht unheimlich gewesen. Er hatte nur vor einem Pub gestanden.
Er tippt eine Antwort: Dem stimme ich zu. Wir müssen anfangen, uns zu wehren. #IchhabedieMacht
Und die Likes strömen herein. Einer von den Admins des Forums postet, dass er »BigMan« gesperrt hat, weil er »den Raum nicht respektiert« und er »entweder mit uns ist oder gegen uns«.
Er geht in die Küche und holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Das hat er verdient. Er ist von einem wohligen Kribbeln erfüllt. So wohlig sogar, dass er, als Cormac mit Jade aus dem Pub kommt und sie ein bisschen zu laut lachen und reden, nicht gleich in seinem Zimmer verschwindet. Er trinkt was mit ihnen. Lacht ein wenig. Plaudert ein wenig. Hat beinahe das Gefühl, zu ihnen zu passen. Er merkt, wie sein Selbstvertrauen wächst. Das ist sein neues Ich, stellt er fest. Nein, kein neues Ich, sondern er ist der, der er immer sein sollte.
Nach drei Bieren zieht er sich zurück. Endlich ist er gechillt genug, dass er schlafen kann. Er lächelt, als er seine drei leeren Flaschen in die Küche zur Recyclingtonne bringt. Er schaltet den Geschirrspüler ein, wischt die Arbeitsplatte ab und schaltet das Licht aus. Als er an der Wohnzimmertür vorbeikommt, hört er die Stimmen drinnen, die nach wie vor etwas zu laut sind.
»Ich dachte schon, er bleibt den ganzen Abend hier sitzen«, sagt Jade.
Cormac lacht.
Obwohl ihm klar ist, dass er weggehen und nicht wieder lauschen sollte – weil er ja weiß, dass nichts Gutes dabei herauskommt –, bleibt er stehen und hört zu.
»Er kann einem leidtun«, sagt Cormac. »Er hat ja nicht direkt Freunde im Überfluss, oder? Geht zur Arbeit, kommt nach Hause und macht sonst kaum was. Er geht nie aus, bringt nie jemanden mit nach Hause. Keine Freundin, keinen Freund …«
»Ich glaube, er ist bloß schüchtern«, meint Jade, und da ist eine weiche Note in ihrer Stimme, die sich wie Balsam auf die Wunden legt, die Cormac ihm eben zugefügt hat.
»Ach, hör auf«, erwidert Cormac. »Er wohnt seit einem Jahr hier und hatte noch nie einen einzigen Freund zu Besuch. Das ist doch nicht normal. Mit dem stimmt etwas nicht. Meinst du nicht auch?«
»Ich versuche ja bloß, ihn nicht gleich abzustempeln«, sagt Jade.
»Weil du zu weich bist. Warum kannst du nicht zugeben, dass er unheimlich ist? Noch dazu egoistisch. Diese Nummer neulich mit der Musik, als wir beide versucht haben zu arbeiten, war typisch für ihn.«
»Ja, ich weiß ja«, erwidert Jade. »Aber er ist nicht nur übel. Er ist ordentlich, und als Entschuldigung hat er uns neulich das indische Essen hingestellt.«
»Du bist zu weich«, wiederholt Cormac. »Der Mann ist ein Irrer, und es wird immer schlimmer mit ihm.«
Dann tritt Stille ein, bis Jade wieder etwas sagt. »Du hast recht, aber vielleicht versauen wir es uns lieber nicht mit ihm. Wir wollen ja nicht mit einem Pferdekopf im Bett aufwachen oder feststellen, dass alle Türen und Fenster verriegelt sind.«
Sie lacht, und Cormac lacht mit.
Das Geräusch versetzt ihm einen Stich, der jeden einzelnen Nerv trifft. Er denkt wieder an den Post von Truth4 Life. »Irgendwo muss man anfangen, sich zu wehren.« Vielleicht muss er hier und jetzt anfangen. Er holt tief Luft, um sich zu wappnen. Er will es richtig hinbekommen, mit der größtmöglichen Wirkung.
Er macht die Wohnzimmertür auf und beobachtet, wie die Lachfalten in ihren Gesichtern verschwinden und sie rot werden.
»Achtet nicht auf mich«, sagt er und betritt das Zimmer. »Ich habe nur mein Buch vergessen.« Er blickt zu dem Regal, in dem einige Wälzer stehen. Von denen liest er gerade keinen, aber das wissen sie ja nicht. Er geht es lässig an.
»Was ist so witzig?«, fragt er beiläufig, dabei lachen sie gar nicht mehr. »Hab ich da etwas von einem Pferdekopf gehört?« Er gibt sich vollkommen ahnungslos, sieht abwechselnd Jade und Cormac an. Jade schafft es nicht mal, seinem Blick standzuhalten, und schaut nach unten.
»Wir haben nur Quatsch geredet«, antwortet Cormac. »Blödsinn.«
»Wer sich die Kante gibt, redet dummes Zeug«, murmelt Jade.
»Klar, aber ihr müsst euch doch erinnern. Ich meine, ihr habt das eben erst gesagt. Ich konnte euch hören, als ich in der Küche und danach im Flur war. Über jemanden, der unheimlich ist?«
Natürlich weiß er, dass er jetzt gerade unheimlich ist. Und er genießt es. Er liebt es, wie sie sich winden. Es ist ein riesiger Trost, dabei will er ihnen eigentlich nur sagen, dass sie ihn mal können. Nein, das stimmt nicht ganz. Was er tatsächlich am liebsten machen würde, ist, ihnen das arrogante Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen – ganz gleich mit welchen Mitteln.
Er ist kein gewalttätiger Mann, aber Ausnahmen gibt es immer.
»Ich habe Cormac von einem der Forscher an der Uni erzählt. Echter Schleimer. Total unheimlich«, sagt Jade, aber sie kann ihn weiterhin nicht ansehen. Er ist nicht blöd und weiß, dass das typisch für Lügner ist. Und er weiß, was er gehört hat.
Um spaßeshalber den Druck ein wenig zu erhöhen, setzt er sich aufs Sofa. »Echt? Erzähl mal. Bei solchen Leuten musst du aufpassen.«
Jade schüttelt den Kopf. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Er tatscht einen einfach nur ganz gerne mal an.«
»Notierst du dir das jedes Mal, wenn er was macht? Es ist wichtig, das zu dokumentieren.« Er weiß, dass er gut darin ist, den verständnisvollen Zuhörer zu geben. Verdammt, er ist ein guter Zuhörer. Und auch ein anständiger Mensch. Nicht unheimlich. Er war es nicht, der gelogen hat. Er nutzt lediglich ihre Unehrlichkeit aus.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es so ernst ist«, sagt Jade.
Es ist an der Zeit, Cormac Druck zu machen. »Sag du es ihr, Cormac, dass sie das aufschreiben muss. Ich bin mir sicher, dass Cormac oder ich gerne mal hingehen und ein Wörtchen mit ihm reden würden. Vielleicht ist es sogar besser, wenn es von mir kommt, meinst du nicht auch, Cormac?«
Endlich sieht Cormac ihn an. »Wenn Jade findet, dass es nicht so ernst ist, ist es das auch nicht.«
»Sexuelle Belästigung ist richtig ernst«, widerspricht er. »Ich denke wirklich, dass du es eskalieren solltest, Jade.«
Er kostet das Unbehagen der beiden aus.
»Vielleicht«, sagt sie.
Er fragt sich, ob er die Schraube ein bisschen weiter anziehen soll. »Da sollte es kein Vielleicht geben. Was ist, wenn er es bei der falschen Person versucht? Was habt ihr noch gesagt? Jemand könnte mit einem Pferdekopf im Bett aufwachen oder mit abgeschlossenen Fenstern und Türen?«
Weder Cormac noch Jade geben einen Ton von sich.
Er fängt an zu lachen. »So war’s, jetzt erinnere ich mich. Ihr habt gesagt, er ist unheimlich und noch dazu egoistisch. Komisch ist allerdings, dass es sich, so wie ihr geredet habt, fast anhörte, als würde er hier wohnen und nicht irgendein Forscher an der Uni sein.«
Seine Mitbewohner sehen sich an. Er ist der Einzige, der lacht, und es ist ein scharfes, verbittertes Lachen.
»Hör mal, wir haben nur Quark geredet«, sagt Jade. »Das war nicht so gemeint. Wir haben getrunken, und du weißt ja, dass ich im Moment so unter Druck stehe, wegen der mündlichen Prüfung, und Cormac stresst die Arbeit. Wir haben ein paar Drinks gehabt und …«
»Keine Sorge«, sagt er. »Ist ja keiner zu Schaden gekommen.« Seine Worte passen nicht zu seinem Tonfall, der trieft vor latenter Wut. Dies hier ist noch nicht vorbei. Sie sollten sich Sorgen machen. Und es ist reichlich Schaden angerichtet.