Kapitel sechzehn

Er

Fünf Wochen zuvor

Er beschließt auszuziehen. Er hat mit seinen Online-Freunden über alles geredet, und sie haben ihn ermutigt, es alleine zu versuchen. Sie haben gesagt, dass Jade eine Kontrollschlampe ist, die Cormac wahrscheinlich an den Eiern hat. Lass sie in der Scheiße sitzen. Pack einfach deinen Kram und geh. Such dir was Besseres zum Wohnen. Du brauchst nicht das übrig gebliebene Zimmer in einer WG . Du bist besser als die beiden, hat Truth4 Life geschrieben.

Dreh nicht durch, sondern zahl es ihnen heim!, ist von UppaReds gekommen. Die beste Rache ist ein gut gelebtes Leben. Tritt die in die Tonne, Alter. Zieh weiter. Deren Scheiß brauchst du sowieso nicht. Sag Bescheid, wann die Einweihungsparty ist. Wir kommen mit Schnaps und Weibern.

Da sind noch andere Antworten, alle mit derselben Botschaft. Alle machen ihm Mut auszuziehen, und ihm wird klar, dass er genau das will. Er hatte bisher in WG s gewohnt, weil er dachte, es wäre gut, Gesellschaft zu haben. Er glaubte, so länger an den glücklichen Erinnerungen seiner Studienzeit festhalten zu können, als sich alle zu Schüsseln mit Spaghetti Bolognese und billigem Wein am Tisch trafen und über ihren Tag redeten. Er hatte sich Wochenendpartys ausgemalt. Intellektuelle Gespräche. Das Knüpfen unzerstörbarer Bande. Aber offensichtlich war es nicht so gekommen.

Das ganze Arrangement hatte nur bewirkt, dass er sich mies fühlte – schlecht und entmannt. Jade benahm sich gern, als gehörte ihr alles. Nörgelte herum, dass er nicht ausreichend auf Sauberkeit achtete, und lehnte seine Spaghetti rundweg ab. Sie war permanent auf Diät oder aß außer Haus. Oder sie und Cormac aßen zusammen und gaben seine Schichtzeiten als Grund an, warum sie ihn ausschlossen.

»Ich muss früh am Abend essen«, sagte sie. »Ich kann nicht warten, bis du zu Hause bist, weil du so oft erst spät kommst. Bleibst länger auf der Arbeit, um noch irgendwas fertig zu machen.«

Er hatte erwähnt, dass sie wenigstens etwas für ihn aufheben und in die Mikrowelle stellen könnte, aber da hatte sie bloß gelacht. »Netter Versuch«, sagte sie und zeigte beim Grinsen ihre perfekt weißen Zähne. »Aber ich bin nicht deine Sklavin oder deine Mum. Du kannst dir selbst was machen!«

Er hatte Cormac angesehen und auf Unterstützung gehofft. Doch der lachte auch. »Das muss ich dir lassen«, hatte sein Mitbewohner gesagt. »Du hast echt Eier!«

»Keine Sorge«, hatte Jade lachend gemeint. »Ich passe auf, dass der Dosenöffner draußen liegt, damit du dir deine Baked Beans auf Toast machen kannst. Und ich pinne ein paar Speisekarten von Lieferdiensten an den Kühlschrank.«

Danach hatte er sie gehasst. Und jetzt hasste er sie noch mehr. Seine Online-Freunde hatten recht – ohne die beiden war er besser dran. Sollten sie sich doch zu Tode vögeln, es interessierte ihn nicht. Er würde nicht mehr da sein, um es zu sehen. Und die Miete war nächste Woche fällig. Falls sie glaubten, sie würden einen Teil von ihm bekommen, hatten sie sich geschnitten.

Am nächsten Tag waren sie beide arbeiten, als er seine Sachen packte, aus Trotz den Dosenöffner einsteckte und ging. Er entschied, in ein Hotel zu ziehen, bis er eine Wohnung gefunden hatte. Er hatte Ersparnisse. Genau genommen hatte er sogar eine Menge gespart. Er arbeitete viel, ging aber selten aus. Er könnte sich etwas suchen, neben dem sich sein bisheriges Zuhause noch schäbiger ausnahm als ohnehin schon.

Er würde tun, was seine Online-Freunde ihm vorgeschlagen hatten, und sich seine eigene Fickbude einrichten. Jetzt war es Zeit, wieder da rauszugehen. In die Szene. Es gab weiß Gott genug Schlampen wie Jade – die willig die Beine breit machten, wenn für sie ein billiges Abendessen und das Taxigeld für die Heimfahrt dabei raussprang. Er wollte nicht mit ihnen ausgehen. Ihm war egal, ob sie ihn benutzten, denn er würde es mit ihnen nicht anders halten. Doppelt so viel.

Vielleicht könnte er eine Kamera in seinem Schlafzimmer installieren. Falls er irgendein nuttiges Mädchen auf eine kurze Nummer mit nach Hause nähme, könnte er es filmen und hochladen. »HymenBreaker«, der sich bei dem Usernamen eindeutig für eine Art Alphamännchen hielt, beweisen, dass er keine »Pussy« war.

Er fühlte sich besser, als er in sein Hotelzimmer eingecheckt, ein paar Sachen ausgepackt und sich beim Zimmerservice kaltes Bier und einen Hamburger bestellt hatte. Es war ziemlich paradiesisch, nicht Jades nerviges Lachen zu hören oder Cormac lauschen zu müssen, wie er über irgendein Sportereignis jubelte. Nur er, ein großes, superweiches Bett und das Hotel-WLAN .

Er saß auf dem Bett und scrollte durch sein Telefon zu den Chatforen, wo ein Haufen Benachrichtigungen auf ihn warteten. Viel mehr als sonst. Viel mehr, als er jemals erwartet hätte. Mit einer Mischung aus Begeisterung und Nervosität klickte er sie an. Und riss die Augen weiter auf.

Es war etwas geschehen, das er nicht vorhergesehen hatte. Da waren mehrere Threads, jeder mit zahlreichen Antworten. Jeder begann mit einem begeisterten Post von Leuten, dass sie nicht anders konnten, als seine Technik selbst auszuprobieren, um zu sehen, ob sie dasselbe High empfanden wie er. Und anscheinend taten es die meisten.

Ihr hättet ihr Gesicht sehen sollen, schrieb ein Poster mit einem lachenden Emoji dahinter.

Für mich ging es um Kontrolle. Ich wusste, dass ich weggehen würde, aber sie nicht. Es war ein Rausch. Da war Macht, schrieb ein anderer.

Ich mache es definitiv wieder. Und ich nehme es auf, damit ich es mir hinterher ansehen kann. Dieses High will ich behalten, schrieb ein Dritter.

Sein kitschiges Hashtag, das er, ohne groß nachzudenken, eingerichtet hatte, begann, auf der Website zu trenden. #IchhabedieMacht war, wie ein Poster sagte, ein » Schlachtruf für alle Männer, denen es reicht« .

Ein Schlachtruf? Ihm gefiel, wie das klang. Er mochte das Gefühl, er stünde hinter einer Bewegung und Frauen würde Angst gemacht. Aber nicht zu viel. Daran war nichts verkehrt, sagte er sich. Ihm konnte man nicht die Schuld an der jahrelangen Unterdrückung der Frauen und den Verbrechen gegen sie geben, die dazu führten, dass sie Angst vor Männern hatten, die allein dieselbe Straße langgingen wie sie.

Er eröffnete einen neuen Thread, weil er seine Sicht mitteilen wollte. Die Leute sollten erfahren, warum nichts falsch an dem war, was sie taten, und dass Männer, wenn sie nicht anfingen, für sich selbst einzustehen, sich ebenso gut gleich die Eier abschneiden und Ohrringe draus machen könnten.

Er dachte an Jades selbstgefälliges Lächeln. Ihre Selbstherrlichkeit. Sie hielt sich für besser als er, und das zerfraß ihn innerlich.

Es ist okay, wenn Frauen Stellung beziehen. Frauen sagen, sie würden wegen Männern nicht ihr Verhalten ändern. Sie werden gehen, wo sie wollen, anziehen, was sie wollen, sich benehmen, wie sie wollen. Männer müssen lernen, dass das nicht heißt, dass eine Frau jemals »darum bettelt«. Aber was ist mit uns? Haben wir darum gebettelt, als Triebtäter angesehen zu werden, nur weil wir allein dieselben Straßen entlanggehen? Sollen wir uns wegen unserer Größe schämen? Unserer Macht? Unserer Stärke? Das alles ist ein biologischer Teil von dem, wer wir sind – wir können das nicht ändern. Wir sollten genauso wenig zu zweit gehen müssen wie Frauen. Ich habe genug davon, an die zweite Stelle gedrängt zu werden. Ich habe genug davon, dass mir das Gefühl gegeben wird, irgendwie abartig zu sein, weil ich ein Mann bin.

Er drückt auf »Senden« und postet es online. Und während er anfängt, die Antworten zu lesen, die hereingeflutet kommen, sieht er das erste Video, das nach seinem hochgeladen wurde. Eine dunkle Straße erscheint auf dem Bildschirm. Den Soundtrack bilden fernes Verkehrsrauschen und schweres Atmen. Schritte. In einiger Entfernung sieht er eine einsame Gestalt, die weggeht. Die Kamera rückt näher, bevor er erkennt, dass es sich um eine Frau handelt. Sie trägt eine rote Pudelmütze und einen schwarzen Dufflecoat, unter dem unten ein Schottenrock hervorblitzt. Schwarze Strumpfhose, hohe Absätze. Sie hat die Hände in den Taschen vergraben. Er beobachtet, wie die Kamera noch näher rangeht und das Atmen des mysteriösen Mannes dahinter noch schwerer wird. Die Frau blickt kurz nach hinten, wird schneller und wechselt die Straßenseite.

Es ist ein sehr leises, kaum wahrnehmbares Lachen von dem mysteriösen Kameramann zu hören, bevor er hinter ihr die Straße überquert. Er wird schneller, bis er nah genug ist, dass man hört, wie angestrengt ihre Atmung geworden ist. Die Furcht steigt in Wolken von ihrem Mund in die Nachtluft auf.

Sie beschleunigt noch mehr, bis sie so schnell läuft, wie es auf ihren hohen Absätzen möglich ist. Der Kameramann wird auch noch eine Weile schneller, bis er leises Schluchzen von der Frau vor ihm hört. Dann bleibt er stehen, lässt sie weiterlaufen und dreht sich um. Seine Kamera fängt die Straße ein, die er eben langgekommen ist. »Genial«, haucht er in einem Newcastle-Akzent. »Verdammt genial.« Und er lacht, bevor der Bildschirm schwarz wird.

In seinem Hotelzimmer in Derry hebt er, der das alles in Gang gesetzt hat, sein kaltes Bier an die Lippen und stellt fest, dass er sich seit Jahren nicht mehr so entspannt – und so mächtig und respektiert – gefühlt hat.

Und er verspürt den Drang, rauszugehen und es wieder selbst zu tun.