Die Erleichterung, dass die Tote in der Leichenhalle nicht meine Tochter ist, hält nicht lange vor.
Sie ist immer noch verschwunden. Es gibt nach wie vor keine Spur zu ihr. Keine Aktivitäten auf ihren Bankkarten oder ihrem Handy. Keine Sichtung. Keinen brauchbaren Ermittlungsansatz. »Rob« ist auch noch nicht gefunden.
Und natürlich gibt es jetzt einen ernsteren Fall, mit dem sich die Polizei beschäftigen muss. Die Entdeckung der verkohlten Überreste einer Unbekannten wiegt immer schwerer als eine Vermisste. Das weiß ich.
»Ich kann Ihnen versichern«, sagt DS King, »dass die Suche nach Nell weiterhin Priorität für uns hat. Denken Sie bitte nicht, wir würden unsere Bemühungen jetzt reduzieren.«
»Glauben Sie, was dieser armen Frau passiert ist, hat mit Nells Verschwinden zu tun?«, fragt Stephen. »Könnte dieselbe Person, die dahintersteckt, Nell haben?«
Ich blicke mich um, versuche, die Mienen der Polizisten zu lesen, doch die geben nichts preis.
»Im Moment deutet nichts darauf hin, aber wir schließen auch nichts aus. Und noch besteht Hoffnung, dass wir Ihnen Nell gesund und wohlbehalten wiederbringen«, antwortet DI Bradley zuversichtlicher, als ich mich fühle – oder zumindest überspielt er es gut, falls er Zweifel hat.
Ich bejahe stumm, weil es nichts zu sagen gibt. Wir sind mitten in einem Albtraum, und ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Ich möchte Nell finden und sie im Arm halten, und ich will sie schütteln, weil sie uns dies hier zumutet. Ich will sie fragen, was zum Teufel sie treibt. Ihr erzählen, dass mir speiübel gewesen ist bei dem Gedanken, sie wäre tot und ihr Körper zerstört. Vor allem aber will ich das alles auslöschen. Alles. Ich kann nicht weiter diese extreme Angst, extreme Wut, extreme Trauer und extreme Liebe gleichzeitig aushalten. Es bringt mich um.
Ich frage mich, ob Stephen solche Schuldgefühle hat wie ich. Schuldgefühle, weil sie ausgezogen war und wir sie nicht zu Hause behalten haben, um auf sie aufzupassen. Es ist traurig, dass sich ein Teil von mir fragt, ob ihm der Gedanke überhaupt gekommen ist.
Jetzt steht er da, und ich wünschte, die Dinge wären anders zwischen uns und ich könnte ihm die Hand entgegenstrecken, eine richtige, tröstliche Verbindung finden, nicht nur diesen Anschein von Verbundenheit. Das Gefühl, dass es nicht genug ist. Nicht echt. Früher hat es mich unglaublich traurig gemacht. Jetzt hingegen bin ich irrsinnig wütend auf ihn. Wütend auf seinen sorgenvollen Gesichtsausdruck. Darauf, dass er losgezogen ist und Milch gekauft hat. Auf seine überbordende Demonstration von Liebe und Sorge um sie – zu wenig, zu spät, denke ich.
Oh Gott, es könnte wirklich zu spät sein.
»Sie können ehrlich zu mir sein«, sage ich zu DI Bradley und hoffe, dass er es kein bisschen ist. »Was denken Sie? Ich will keine Schönfärberei, und ich weiß, dass Sie einiges wissen. Wie zum Beispiel, dass die ersten vierundzwanzig Stunden entscheidend sind und so. Ich habe genug Krimis gesehen.«
»Um Himmels willen, Marian«, fällt Stephen mir ins Wort. »Die spiegeln doch nicht die Wirklichkeit. Wir sind hier nicht in einer Folge von CSI .«
Ich verspanne mich. Ich bin nicht dumm. Ich will ihn anschreien, dass ich nicht dumm bin, dass etwas an dem, was in diesen Filmen zu sehen ist, wahr sein muss.
»Die ersten zweiundsiebzig Stunden sind wichtig«, sagt DS King. »Aber wir wissen nicht sicher, seit wann Nell vermisst wird. Es ist möglich, dass sie irgendwann zu Hause gewesen ist und Clodagh nur nichts davon weiß. Wir müssen mit dem arbeiten, was wir sicher wissen, und das ist, dass sie gestern nicht zur Arbeit gekommen ist und es seit Donnerstag keine Bewegung auf ihren Konten gab. Also wird unser nächster Schritt sein, ihren Fall bei der Vermisstenstelle als dringlich einzustufen. Aber vergessen Sie bitte nicht, dass es keinen Beweis gibt, dass Nell etwas Schlimmes zugestoßen oder sie zu Schaden gekommen ist. Es ist möglich, dass sie freiwillig irgendwohin verschwunden ist – und den Schilderungen nach hat sie in jüngster Zeit neue Kontakte geknüpft.«
»Ich denke nicht, dass Mutmaßungen nützlich oder klug sind«, bemerkt DI Bradley mit einem erbosten Blick zu DS King, die prompt in sich zusammenzuschrumpfen scheint. »Versuchen wir, uns auf die Fakten zu konzentrieren, die uns hoffentlich zu ihr führen.«
»Natürlich, tut mir leid«, sagt DS King. »DI Bradley hat vollkommen recht.« Sie ist rot geworden, und für einen Moment habe ich Mitleid mit ihr. Schließlich bin ich es gewesen, die eine dumme Frage gestellt hat, wohl wissend, dass sie mir keine klare Antwort geben können.
Ich nicke, weil mir nichts mehr einfällt, was ich sagen könnte. Und ich bin jetzt müde. Die schlaflose Nacht holt mich ein. Der Drang, alles mit Tiefschlaf auszublenden, überkommt mich wieder. Doch wäre es nicht ein kompletter Verrat an meiner Tochter, in einen erholsamen Schlaf zu sinken, während sie wer weiß wo ist? Zu was für einer Mutter macht mich das?
»Marian?« Heathers Stimme dringt durch den Nebel in meinem Kopf, und ich blinzle in ihre Richtung. »Ich weiß, dass es furchtbar sein muss, aber wir alle tun, was wir können. Sie sehen erledigt aus. Warum ruhen Sie sich nicht ein bisschen aus? Ich bin hier und wecke Sie, falls sich etwas ergibt.«
Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich will wach bleiben.«
Heather hockt vor mir und redet mit mir wie mit einem Kind. Dabei nimmt sie meine Hand. »Wir könnten noch einen langen Weg vor uns haben. Sie tun Nell keinen Gefallen, wenn Sie sich jetzt auspowern. Sie müssen ausgeruht sein, damit Sie uns so gut wie möglich helfen können, sie zu finden.«
Ich nicke, aber meine Glieder sind zu schwer, um sich zu bewegen. Das Gewicht von all dem lastet jetzt auf mir, und ich weiß, wenn ich das zulasse, wird es mich vollkommen erdrücken. Und wir sind erst, wie Heather sagt, am Anfang eines langen Weges. Ich weiß nicht, ob ich es ertrage. Ich möchte lauthals schreien. Ich will sie beschimpfen und von ihr hören, dass es Nell gut geht. Das brauche ich so dringend wie die Luft zum Atmen.
Ich habe schon gehört, wie Leute sagten, sie hätten das Gefühl zu zerbrechen, aber ich habe es nicht verstanden. Bis jetzt. Jetzt kommt es mir vor, als würde ich Stück für Stück auseinanderbrechen. Ich kann ohne Nell nicht sein.
Ich will nicht ohne sie sein.
»Marian«, sagt Heather. »Lassen Sie uns nach oben gehen. Sie werden sich ein bisschen stärker fühlen, wenn Sie etwas geschlafen haben.«
Ich tue, was mir gesagt wird. Nicht, weil ich es will, sondern weil mir die Kraft fehlt, ihr zu widersprechen.