Kapitel einundzwanzig

Nell

Montag, 1 . November
Seit vier Tagen vermisst

Ich glaube, es sind vier Tage. Vielleicht fünf. Es ist schwer, ein Gefühl für die Zeit zu behalten, aber das ist der erste Tag, an dem ich allein an diesem Ort bin.

Elzbieta war bis gestern hier. Nicht, dass ich sie gesehen hätte, aber ich habe sie gehört. Ich hörte sie in der ersten Nacht – oder am ersten Tag. Als ich in dieser … dieser … Zelle aufgewacht bin. Ich hatte angefangen zu schreien, an den Wänden gekratzt, versucht, mich zu befreien. Da hatte ich die Stimme von irgendwo im Gebäude gehört.

»Hier kann dich keiner hören«, sagte sie mit einem heftigen Akzent, und ihre Stimme kam mir bekannt vor. »Ich habe tagelang gerufen.« Ihr Tonfall klang resigniert. »Er ist der Einzige, der herkommt, und er kommt, wann er will.«

Mir wurde klar, woher ich sie kannte. Sie hatte monatelang auf derselben Station wie ich gearbeitet, und jetzt waren wir beide hier. Am ersten Tag haben wir geredet – bevor er gekommen ist. Sie hat mir erzählt, wie er sie entführt hatte. Da hatte es keine Einladung zum Abendessen gegeben. Er hatte sie schlicht in seinen Wagen gezwungen. Mit brutaler Gewalt und Drohungen. Sie hat mir erzählt, dass er gesagt hat, er wäre enttäuscht von sich. Dass er es nicht richtig hinbekommen hat. Dass er das Spiel genau richtig spielen muss. Das ist alles, worüber er redet, erzählte sie mir. Sein Spiel und seine Regeln. Wie ihn sein Spiel berühmt machen wird. Wie er ihr erzählt hat, dass es uns auch berühmt machen wird. Dass unser Opfer für einen größeren Zweck wäre.

Mir war das Blut in den Adern gefroren.

Aber Elzbieta war stark. Obwohl ich wusste, dass sie Angst haben musste, war sie verdammt knallhart. Sie war so entschlossen, hier lebend rauszukommen. Dass wir beide es lebend rausschaffen. Wir müssten nur mitspielen, sagte sie zu mir. Wenn wir mitspielten und nicht gegen die Regeln verstießen, verschafften wir uns genug Zeit, um einen Weg nach draußen zu finden.

Aber an dem ersten Tag, als wir miteinander geredet haben, war uns nicht bewusst, dass wir die Regeln schon gebrochen hatten. An dem Abend bekamen wir nichts zu essen. Das war unsere Strafe. Es war die Folge unseres Handelns, sagte er zuerst zu mir, und danach hörte ich, wie er es beinahe Wort für Wort zu Elzbieta sagte. Sein Timbre war streng, autoritär und troff vor Abscheu. Nächstes Mal würde es schlimmer, sagte er. Dann würde jemand verletzt.

Wir wagten nicht, noch einmal miteinander zu reden. Allerdings sangen wir manchmal eine Songzeile oder redeten laut mit uns selbst, weil wir wussten, dass die andere uns hört – kleine Botschaften der Hoffnung. Kleine Tropfen Mitgefühl. Ich hatte mich an sie geklammert.

Ohne sie, ohne Elzbieta, ist es übler. Die Stille ist so viel beängstigender, weil ich jetzt allein bin. Ganz allein.

Das Einzige, woran ich mich festhalte, ist die Hoffnung, dass es ihr gut geht. Ich weiß, dass das wahrscheinlich sehr naiv von mir ist. Oder nicht naiv, sondern eine Überlebenstaktik. Ich muss glauben, dass es ihr gut geht, weil nichts sonst einen Sinn ergibt.

Letzte Nacht hat er sie von hier weggebracht. Ich hörte seine tiefe Stimme, als er im Zimmer nebenan mit ihr sprach. Und ich hörte sie weinen – aber es schienen Freudentränen zu sein. Falls sie frei ist, weiß ich, dass sie versuchen wird, Hilfe für mich zu finden. Die könnte jeden Moment kommen. Ich muss bloß Geduld haben. Ich muss mich nur benehmen und mich bemühen, keinen Ärger mit ihm zu bekommen.

Er verrät mir nicht, was die Regeln sind. Ich habe ihn gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass ich sie zumindest kennen sollte. Er hat nur gezwinkert und sich mit dem Finger an den Kopf getippt, um mir zu verdeutlichen, dass alles in seinem Kopf ist. Nur darauf komme es an. Er halte es für unnötig, mir etwas zu verraten. Würde ich die Regeln kennen, sei es kein Spaß, sagt er.

Hätte ich die Regeln gekannt, ich hätte niemals mein Handy mit ins Bad genommen, als ich zum Dinner bei ihm zu Hause war. Wie er sagt, würde ich jetzt mein Leben normal weiterleben, hätte ich einfach mein Handy in meiner Tasche gelassen. Wir könnten sogar ein zweites Date planen, sagt er. Ich hätte nicht mal eine Ahnung, wie er wirklich war.

Ich hatte mein Handy nur mit ins Bad genommen, weil mir klar wurde, dass niemand wusste, wo ich war. Clodagh würde wahrscheinlich denken, dass ich bei Rob war – ich war noch nicht dazu gekommen, ihr zu erzählen, dass sich die Geschichte schon wieder erledigt hatte. Dass er nichts Ernstes wollte. Stattdessen war ich meinem blöden, waghalsigen und offensichtlich defekten Instinkt gefolgt.

Ich habe mich immer für einen vernünftigen Menschen gehalten. Eventuell zu vernünftig. Das jedenfalls sagt Mum. »Mach nicht dieselben Fehler wie ich«, hat sie einmal gesagt, nachdem sie beim Abendessen zwei Gläser Wein getrunken hatte. »Binde dich nicht zu früh. Und leb dein Leben. Unternimm was!«

Sie sah so traurig aus. Ich wollte sie anschreien, dass sie ihr eigenes Leben leben sollte. Mir ginge es prima. Aber ihre Worte hatten an mir genagt, genauso wie die Trauer in ihren Augen. Meine Mutter führt ein ruhiges, anspruchsloses Leben und unterwirft sich meinem Vater. Ihre Ehe ist sehr unausgewogen. Und für mich wünscht sie sich mehr.

Sie wünschte sich mehr für mich. Wieder überkommt mich die Angst. Es kann sein, dass ich sie nie wiedersehe. Sie wird sich solche Sorgen machen, weil ich verschwunden bin. Falls sie es überhaupt weiß. Lieber Gott, lass Clodagh nicht glauben, dass ich irgendwo durchfeiere!

Dieser Wahnsinn der letzten Monate hat einen Keil zwischen uns getrieben. Ich wollte doch nur ein bisschen leben. Wollte rebellieren. Ich schätze, ich wollte meinem Dad damit eins auswischen, der meine Mutter nie strahlen ließ.

Ich liebe ihn, aber ich hasse ihn auch. Meinen Dad. Meine Sehnsucht nach ihm jetzt ist greifbar. Ich will, dass er hier reingestürmt kommt, mich anbrüllt, weil sie sich beide meinetwegen zu Tode gesorgt haben, und mich zu seinem Wagen bringt, damit wir in herrlicher Stille nach Hause fahren können. Ich will Hausarrest bekommen, obwohl ich zweiundzwanzig bin. Ich will ein kleines Leben mit meiner Mutter und meinem Vater, mich bei Clodagh entschuldigen. Die Zeit zurückdrehen und alles ändern.

Aber ich kann es nicht. Genauso wenig, wie ich aus diesem Zimmer kommen kann. Das bestimmt er. Ich bin seiner Gnade ausgeliefert. Und ich bin so wütend auf mich selbst, dass ich kaum atmen kann. Meine Brust ist zu eng, mein Hals zu wund, mein Schmerz zu stark.

Ich dachte, ich wüsste, wie ich auf mich aufpasse. Ich dachte, ich hätte meine Lektion gelernt. Ich hatte beschlossen, weniger Risiken einzugehen, nachdem mich dieser Psycho gejagt hat, seine Kamera vor meinem Gesicht schwenkte, als ich mich umdrehte und ihn zur Rede stellte. Sein Blick hat mir Angst gemacht. Mir war klar geworden, dass ich blöde gewesen war, und wofür? Für Freunde, denen es allein darum ging, »drauf zu sein«? Für Rob und seinen schillernden Lebensstil mit edlen Weinen, großartigem Sex und harten Drogen, bei denen ich das Gefühl hatte, neben mir zu stehen.

Die ganze Sache hat mich völlig panisch gemacht, und ich hatte mir vorgenommen, in Zukunft extra vorsichtig zu sein.

Ich wollte bloß Clodagh anrufen. Das war der einzige Grund, weshalb ich mein Handy an dem Abend mit ins Badezimmer genommen hatte. Es war ziemlich angespannt gewesen zwischen uns, und ich wollte ihr Bescheid geben, dass es mir gut ging und ich von jetzt an wieder mehr Zeit für uns freischaufeln würde. Der Reiz, all mein Geld beim Ausgehen zu verplempern und dann die Miete nicht mehr zu haben, hatte sich abgenutzt.

Eddie hatte bereits gesagt, dass er es hasste, wenn Leute gemeinsam aus waren und ihre Abende damit verbrachten, auf ihre Handys zu glotzen, statt sich richtig zu unterhalten. Die Art, wie er es sagte, war mir unheimlich. Es gab eine Menge an Eddie, was mir Unbehagen bereitete. Das hatte es früher nie – wenn wir zusammen bei der Arbeit waren. Aber in seinem Haus gab er richtig gruselige Schwingungen von sich. Ich wollte keinen Aufstand machen, deshalb hatte ich mir geschworen, ich würde mit ihm essen, höflich sein und danach so schnell wie möglich verschwinden.

Aber wie es der Zufall wollte, konnte ich nicht mal mit Clodagh reden, ihr eine Textnachricht schicken oder auf die Mailbox sprechen.

Der Empfang in seinem Haus war grottenschlecht, und als ich herumging, um wenigstens einen Balken zu bekommen, hatte er an die Badezimmertür gehämmert und gefragt, ob alles okay sei.

Da war etwas an seiner Stimme und dem heftigen Klopfen gewesen, bei dem mir eiskalt geworden war. Aber natürlich war es zu dem Zeitpunkt schon viel zu spät.

Der erste Tag war der schlimmste. Er musste etwas in mein Glas getan haben, denn ich weiß, dass ich nicht annähernd genug gekippt hatte, um betrunken zu sein. Trotzdem konnte ich die Augen nicht offen halten. Über Stunden wusste ich nicht, was real und was ein Traum war. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich zu mir gekommen bin und versucht habe, richtig wach zu werden, ehe ich wieder weg war.

Es war, als würde ich aus einem tiefen, dunklen Loch krabbeln wollen, und jedes Mal, wenn meine Hand nach oben in die frische Luft griff, verlor ich den Halt in der Realität wieder und fiel zurück nach unten. In all den Stunden zwischen Halbschlaf und seltsamen Träumen wusste ich tief im Innern, dass etwas sehr falsch war, begriff jedoch nicht, was es war. Alles war unklar.

Es war wie ein wiederkehrender Traum, in dem ich verzweifelt zu telefonieren versuchte, aber nicht konnte. In dem ich mich jedes Mal verwählte, wenn ich die Nummern eintippte, oder sie sich bewegten und zu etwas anderem wurden. Meine Panik wuchs mit jedem gescheiterten Versuch, doch als ich schließlich wach wurde, war da kein Gefühl von Erleichterung, wie es gewöhnlich so einem frustrierenden und stressigen Traum folgt. Denn in der wachen Welt war nichts okay.

Ganz und gar nichts war okay.

Ich habe lediglich verschwommene Erinnerungen an das Dinner und dass etwas komisch war. Etwas zerbrach. Es könnte mein Glas gewesen sein. Wie ich mich auf ein Sofa legte, weil mein Nacken schmerzte. Ich erinnere mich, dass er in einem komischen Winkel gebogen war und mein Schädel pochte. Jemand war über mir. Nein, auf mir. Er. Eddie.

Ich habe ihn so viele Male angefleht. Jedes Mal, wenn die Tür aufging und ein Tablett mit Essen hereingeschoben wurde. Wenn er reingekommen ist, über mir stand und mich gefragt hat, ob ich schon bereit bin, brav mitzuspielen. Ich habe gebettelt. Ich habe geschrien, geschmeichelt und geweint. Ich habe versucht, einen Hauch von Menschlichkeit zu finden – etwas von dem schüchternen Mann, mit dem ich auf der Arbeit geplaudert hatte. Von dem ich glaubte, er wäre harmlos.

So harmlos, dass ich zustimmte, am Donnerstag zu einem spontanen Dinner zu ihm zu kommen. Ich weiß nicht mal, warum ich zugesagt habe. Eddie ist nicht mein Typ. Ist er jetzt nicht, war er da nicht und wird er nie sein.

Ich schätze, ich war wütend auf Rob; Clodagh und ich hatten Stress, und die Arbeit war hart gewesen. Dennoch war es eine schlechte Idee. Mein rationales Ich weiß, dass sie blöd war, aber er hat gesagt, es wäre nur ein Essen unter Freunden. Bloß Kollegen, die ein Glas Wein trinken, ein selbst gekochtes Essen genießen, und ich hätte doch eh nichts anderes vor?

»Es ist ja nicht so, dass du mich nicht kennen würdest«, hat er gesagt. »Ich bin wohl kaum ein Axtmörder.«

Dämlich, wie ich bin, habe ich mit ihm gelacht und ihm geglaubt. Ich dachte, ich würde ihn kennen. Eddie, der so harmlos schien. Der mir half, wenn ich eine Patientenakte herausziehen musste oder eine Reha arrangieren. Der verlässliche Eddie aus der Verwaltung, der oft auf die Station kam. Der sich immer Zeit nahm, kurz zu quatschen.

Ich bin so doof gewesen. Wäre ich doch bloß vorsichtiger gewesen. Hätte ich nur Nein gesagt. Hätte ich mir doch eine Ausrede ausgedacht, dass ich nach Hause müsste und einiges mit Clodagh klären.

Gott, ich vermisse sie! Mir fehlt meine beste Freundin. Ich vermisse ihre Fähigkeit, das Richtige zu sagen und zu tun. Mir fehlt ihre Vernunft. Ich wünschte mir bei Gott, ich wäre zu Hause und sie würde mir einen großen Becher heißen Kakao reichen und sagen, dass alles gut wird. Dass ich in Sicherheit bin.

Ich bin nicht in Sicherheit. Dieser Gedanke raubt mir für einen Moment den Atem. Mir ist bewusst, dass ich in großer Gefahr schwebe. Auch wenn ich hoffe, dass Elzbieta entkommen ist, tue ich es vor allem, um mich zu trösten, weil ich es nicht fertigbringe, über die Alternative nachzudenken. Ich darf mir nicht erlauben zu denken, dass dieses ganze kranke Spiel schon gegen mich entschieden und es letztlich egal ist, was ich weiß und was nicht. Es wird so oder so gleich enden. Er wird mich nicht einfach gehen lassen, denn ich kenne ihn – sein Gesicht, seinen Namen, seinen Arbeitsplatz.

Ich ziehe die Knie an meine Brust und umschlinge sie fest mit den Armen, um ein wenig Trost zu finden. Es ist bitterkalt und so klamm. Ich spüre die Feuchtigkeit in der Luft, die schwer auf meiner Brust liegt und durch meine Kleidung dringt, sich in den Schmutz und Staub unter meinen Fingernägeln und auf meiner Haut setzt. Ich fühle, wie sich die klamme Kälte und der Staub Schicht für Schicht in mich eingraben.

Die Wände bestehen aus nackten rauen Betonschalsteinen. Meine Hände sind blutig geschürft, meine Fingernägel abgebrochen und teils ausgerissen von den unnützen Versuchen, mich durch den Mörtel um die rauen Steine herumzugraben, um eine Schwachstelle in den Spalten dieses Grabs zu finden.

Ich nehme an, dass ich in einem halbfertigen Haus bin, einem Bungalow vielleicht? Ich höre keine Schritte in einem Treppenhaus, wenn er kommt. Es gibt zwei Türen in diesen Raum. Die, die er benutzt, ist mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert, das manchmal klemmt. Dann höre ich ihn fluchen, wenn er mit dem Schlüssel kämpft und will, dass das Ding tut, was es soll.

Ich weiß nicht, was ich mir mehr wünsche – dass er die Tür nicht aufbekommt oder doch. Ich will ihn nicht sehen. Nicht von ihm berührt werden. Aber die Vorstellung, hier verlassen zu werden, ohne herauszukommen, ist Stoff für Albträume. Ich mag die Dunkelheit nicht, vor allem nicht, wenn ich ganz alleine bin.

Die zweite Tür führt in einen winzigen Raum, ein angeschlossenes Bad, in dem zum Glück die Toilettenspülung funktioniert. Eine matte, nackte Glühbirne hängt vom Deckenbalken, die für ein wenig Licht sorgt – nicht genug, um die Dunkelheit in dem größeren Zimmer mit zu erhellen. Ich schätze, dass es bestenfalls eine 40 W-Birne ist, aber für die bin ich schon dankbar.

Da ist eine Lücke für ein Fenster in der Mauer direkt bei mir, aber die ist mit Brettern vernagelt. Ich habe probiert, sie aufzubrechen. Meine Schulter ist geschwollen von den Malen, die ich sie dagegengerammt, mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Bretter geworfen habe, damit sie zersplittert. Nichts hatte sich gerührt, nichts geknackt oder nachgegeben. Ich bin noch immer gefangen.

Das einzige natürliche Licht, das ich habe – wie ich überhaupt zwischen Tag und Nacht unterscheiden kann –, ist der schmale Spalt unten an der Zimmertür, durch die er kommt. Ich muss mich flach auf den Boden legen und den Kopf zur Seite drehen, um ihn zu sehen. Um zu glauben, dass es noch eine Welt außerhalb dieser Mauern gibt. Wenn ich den Kopf im richtigen Winkel drehe, kann ich sogar einen leichten Luftzug spüren.

Ich weiß nie, ob oder wann Eddie kommt. Es kann gleich morgens sein – wenn mich seine Stimme aus einem unruhigen Schlaf reißt, in den ich endlich gefallen war. Am ersten Tag, als ich noch nicht begriff, was los war, war er erst spätabends gekommen. Oder vielleicht frühmorgens, und ich war einfach zu ausgeknipst, um es zu registrieren.

So ausgeknipst, dass er mich von dem warmen Sofa bei ihm zu Hause herbringen konnte. Zu dieser durchgesessenen Liege mit den klammen Kissen und der kratzigen Decke.

Er hat mir gesagt, eine seiner Regeln sei, dass ich ihn immer liebevoll zu begrüßen habe, ganz gleich, um welche Zeit er komme. Ob morgens, nachmittags oder mitten in der Nacht. Dass ich ihn respektieren müsse. Wenn ich es nicht täte, könne er alles ändern. Was ich esse. Was ich trinke. Ob die Glühbirne im Bad bleibt. Ob ich eine Decke bekomme, um mich warm zu halten.

Er bringt mir täglich eine Zweiliterflasche Wasser. Die ist alles, was ich bekomme, um zu trinken und mich zu waschen. Ich habe ein Handtuch, das jetzt an einem Nagel vor sich hin schimmelt, der einfach in die Wand geschlagen wurde. Es wird nie trocken, bleibt einfach klamm. Hier trocknet nichts.

Die einzige Wärmequelle ist ein verrosteter kleiner Gasofen, den er nur einschaltet, wenn er hier ist. Der pustet Hitze und einen ekelerregenden Gasgeruch aus, der nicht gesund sein kann. Trotz der bitteren Kälte bin ich froh, wenn er ihn ausschaltet. Dann schwirrt mir der Kopf nicht mehr, und ich merke, wie ich klarer werde. Wie meine Sinne wacher werden. Was ein Segen und ein Fluch zugleich ist. Ich bin immer schon ein »Frostköttel« gewesen, wie meine Mum sagen würde, dauernd verfroren. Habe direkt an der Heizung gesessen, wenn ich konnte. Doch ich glaube nicht, dass mir jemals so kalt war wie jetzt. Das hier ist eine ganz neue Dimension von Kälte.

Und mitten in der Nacht, als meine Zähne so schlimm klappern, dass ich davon Kopfschmerzen bekomme, fühle ich, wie sich die Kälte um mich wickelt. Dann steht der Gasofen da, lockt mich, ist aber außer Reichweite.

Die Sache ist nämlich die, dass ich hier wie ein Tier angekettet bin. Eine schwere Kette verbindet meinen Knöchel mit einem dicken Eisenriegel im Boden, der dort einbetoniert ist. Ja, ich habe auch schon an dem Beton gekratzt und war da so erfolgreich wie bei dem Mörtel an den Wänden.

Hier ist nichts von meinen persönlichen Sachen. Meine Schuhe nicht, auch nicht meine Tasche. Nicht einmal meine Kleidung. Ich trage einen dünnen, billigen Jogginganzug. Der ist inzwischen schmutzig, klamm und riecht nach meinem Schweiß.

Er gibt mir nur leichtes Plastikbesteck, Pappbecher und Pappteller, wenn er mir Essen bringt, und selbst die nimmt er wieder mit, wenn er geht. Dumm ist er nicht. Das muss ich ihm lassen. Er sorgt dafür, dass ich nichts habe, was sich möglicherweise als Werkzeug oder Waffe benutzen ließe.

Ich kann nur hoffen, dass Clodagh jemanden alarmiert hat, weil ich verschwunden bin. Dass sie nicht stinksauer auf mich ist, weil ich in letzter Zeit die schlechteste Freundin der Welt war, und nicht froh ist, ihre Ruhe zu haben. Dass sie nicht denkt, ich wäre irgendwo mit Freunden unterwegs, die eigentlich keine Freunde sind.

Hoffentlich sucht jemand nach mir, denn den Gedanken, dass dies alles geschieht, ohne dass irgendjemand auf meiner Seite ist, ertrage ich nicht. Ich komme hiermit nicht viel länger klar. Will es nicht. Ich will nur nach Hause. Und ich will meine Mum.

Ich rolle mich auf der Liege zusammen, wickle die Decke fester um mich, als ob das irgendwas bringen würde, und versuche, mich zu erinnern, ob es vier oder fünf Tage sind.