Kapitel zweiundzwanzig

Marian

Mittwoch, 3 . November
Seit sechs Tagen vermisst

Ich habe geschlafen. Dank sechs Milligramm Diazepam. Wahrscheinlich habe ich zu gut geschlafen, aber zum Glück traumlos. Im Bett höre ich Stephens langsamen, tiefen, rhythmischen Atem. Er schläft noch. Ich frage mich, ob er auch Diazepam genommen hat. Bestimmt nicht. Tabletten sind nicht sein Ding. Er hält sie für eine Krücke, ein Eingeständnis von Schwäche. Sogar jetzt noch, nehme ich an.

Julie-Anne, eine meiner ältesten Freundinnen, war mit einem Blister der magischen Pillen vor unserer Tür erschienen, die sie uns aus ihrem Bestand »lieh«. Es war zu spät, um ein Rezept von meinem Arzt zu bekommen. Stephen hatte mir einen Vortrag gehalten, dass es verboten sei, verschreibungspflichtige Medikamente untereinander auszutauschen, und wir schon genug andere Sorgen hätten, ohne uns mit den Tabletten von jemand anderem auszuknocken, während eine Polizistin im Haus war.

Ich habe ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren, aber nicht so höflich. Ich hatte überlegt, sie zu verstecken, falls er auf die Idee käme, eine zu nehmen, bevor er sich hinlegt, doch ich bin ja nicht herzlos.

Julie-Anne hat mich so fest wie sonst nie umarmt, und ich habe an ihrer Schulter geschluchzt, als könnte ich nie mehr aufhören.

»Meine Mammy hat eine geweihte Kerze angezündet«, flüsterte sie. »Ich soll dir von ihr ausrichten, dass sie für dich und für Nell betet.«

Ich lächelte matt. Ach ja, Julie-Annes Mammy und ihre geweihten Kerzen! Die sind in unserer Gruppe legendär. Bekannt dafür, in so gut wie jeder Situation Wunder zu wirken. Ich glaube allerdings nicht, dass sie jemals derart hart auf die Probe gestellt wurden.

Ich habe Julie-Anne auf einen Tee nach drinnen eingeladen, aber sie schüttelte den Kopf. »Du bist völlig erschöpft, kannst dich kaum auf den Beinen halten. Nimm eine von denen hier und leg dich hin. Du nützt Nell nicht, wenn du nichts mehr auf die Reihe bringst. Aber melde dich, wenn du irgendwas brauchst, egal wann.«

Ich liebe Julie-Anne. Wirklich. Nur kann sie eigentlich nichts tun. Doch obwohl sie sich nutzlos vorkommen muss, macht sie alles, was sie kann – zündet Kerzen an und liefert Medikamente –, und das gefällt mir.

Ich muss den Arzt anrufen und ihn um ein Rezept bitten, damit ich Julie-Anne ihre Tabletten zurückgeben kann. Es ist leichter, sich auf kleine Aufgaben zu konzentrieren, als ich hier im Bett liege, statt auch nur zu probieren, die großen zu erfassen. Außerdem ist mein Kopf noch vernebelt. Ich fühle, wie der Horror meines verschwundenen Kindes an mir nagt, aber es ist, als lauerte er hinter einem Schleier, irgendwo, wo mein Gehirn ihn erkennt, aber nicht richtig fühlt.

Das wird kommen. So viel weiß ich. Langsam wird mir bewusst, dass ich nicht nur gut geschlafen habe, sondern auch niemand mich zwischendurch geweckt hat. Keiner ist da gewesen, um mir zu sagen, dass sie Nell gefunden haben. Ich bin nicht zu einer Polizeiwache oder in ein Krankenhaus gefahren worden, um sie in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, dass ich sie liebe.

Widerwillig hole ich Luft, zähle ein und aus. Langsam. Langsam. Wenn mich niemand geweckt hat, um mir mitzuteilen, dass sie gefunden wurde, heißt das, dass auch keiner hier war, um mir mitzuteilen, dass sie tot ist. Sie könnte immer noch da draußen sein.

Ich nehme mein Handy und blinzle, bis ich die Uhrzeit entziffern kann. Es ist kurz nach sieben. Auf meinem Display sind Benachrichtigungen, aber keine mit der Information, die ich brauche. Keine ist von Nell. Ich tippe eine kurze Nachricht in die WhatsApp-Gruppe meiner Freundinnen, danke ihnen für ihre Besorgnis, bitte sie aber, mir nicht mehr zu schreiben. Ich ertrage es nicht, jedes Mal zusammenzuzucken – bei jedem Ping eine Mischung aus Hoffnung und Angst zu empfinden, gefolgt von einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Ich sage ihnen, dass ich sie informiere, sobald es Neuigkeiten gibt. Dann schicke ich den Text los, kopiere ihn und sende ihn an alle anderen WhatsApp-Gruppen auf meinem Handy. Ich logge mich bei Facebook aus. Bei meiner Arbeits-E-Mail. Bei allem, was ich nicht brauche, damit mein Handy frei für den Anruf ist, auf den es ankommt.

Als ich die Decke zur Seite schiebe, umfängt mich die kalte Morgenluft. Die Heizung ist nicht angesprungen, und das Schlafzimmer ist wie ein Eisschrank. Ich frage mich, ob Nell friert, bevor ich den Kopf schüttle, als könnte ich so die schmerzlichen Fragen loswerden.

In der Küche kämpfe ich mit dem Thermostat, bis er endlich surrt und mit einem Klicken angeht. Ich stelle den Kessel auf. Mir fällt auf, dass die Wäsche, die ich vor zwei Tagen angestellt hatte, noch in der Maschine ist. Ich fülle neues Waschpulver ein und wasche sie noch einmal. Mit dem weißen Rauschen erwacht das Haus zum Leben.

Ich schalte das Radio ein, gerade rechtzeitig zu den Nachrichten um halb acht. Natürlich kommt als Erstes die Meldung von der Leiche, und auch wenn ich weiß, dass es so sein muss, ärgert es mich. Was nützt die Meldung denn jetzt noch? Sie macht die arme Seele nicht wieder lebendig. Alle sollten nach Nell suchen.

Sie ist erst die fünfte Meldung in einem »Und außerdem …«-Clip, der nicht länger als zehn Sekunden dauert.

Die Polizei bittet die Öffentlichkeit um ihre Mithilfe bei der Suche nach der vermissten Nell Sweeney. Die zweiundzwanzigjährige Krankenschwester wurde seit Donnerstagabend nicht mehr gesehen.

Das ist es. Es ist alles, was sie bekommt. Ich schalte das Radio aus. Wenn es sein muss, gehe ich heute selbst ins Krankenhaus und rede mit einigen dieser neuen Freunde von ihr. Sollen sie mir – einer verängstigten, aber entschlossenen Mutter – erzählen, dass sie nichts wissen. Sollen sie mir sagen, dass es ihnen leidtut, sie aber nicht helfen können. Mal schauen, ob sie dreist genug sind, meinen Schmerz aus der Nähe zu sehen und nicht zu blinzeln. Jemand muss etwas wissen. Das müssen sie schlicht. Sie könnten wissen, wohin dieser »Rob« verschwunden ist.

Ich frage mich, ob die Polizei mir den Namen des Taxifahrers sagen würde. Oder für welche Firma er fährt. Ich könnte hingehen und auch mit ihm sprechen. Wurde er überprüft? Sind sie sicher, dass er sie nicht belogen hat? Ich weiß nicht, ob ich ihn so schnell abgehakt hätte, wie es die Polizei getan hat. Ich werde Heather nach seinen Kontaktdaten fragen, wenn sie kommt, sofern sie kommt. Sofern sie nicht bei der Familie der armen ermordeten Frau sitzt, Hände hält und sich bemüht, deren Schmerz zu lindern.

Ich blicke mich um, was ich tun kann, denn ich muss mich beschäftigen. Ich kann nicht wie ein Zombie herumsitzen und nichts machen außer denken. Soll ich zur Arbeit gehen? Es könnte eine gute Ablenkung sein, aber mir wird klar, dass es wahrscheinlich zusätzlichen Stress bedeuten würde. Kollegen, die mich fragen, wie es mir geht. Die mich voller Mitleid ansehen. Jedes Mal zusammenfahren, wenn das Telefon klingelt. Mit Kunden umgehen, die hereinkommen und fragen, ob »diese kleine Nell Sweeney« mit mir verwandt ist. Bei dem Gedanken erschaudere ich.

Gibt es ein Protokoll hierfür? Was, wenn sie nie zurückkommt und wir sie nie finden? Gibt es eine feste Grenze, wie lange Eltern um ein Kind trauern dürfen, das vielleicht tot ist oder vielleicht auch nicht? Wird man irgendwann von mir erwarten, dass ich einfach mein Leben lebe, als hätte sich nichts geändert?

Jetzt gerade weiß ich, dass ich ein bisschen Dampf ablassen muss, deshalb beschließe ich, mich anzuziehen, in meine Wanderstiefel zu schlüpfen und rauszugehen. Zum Naturschutzgebiet Bay Road und von da am Fluss entlang. Dort wird es ruhig sein, wenn ich mich beeile. Ich kann da sein, bevor der Verkehr über die Foyle Bridge richtig losgeht, weil alle zur Schule und zur Arbeit wollen. Am Fluss zu sein, wird mich hoffentlich erden. Ich brauche etwas, das mich stabilisiert, denn ich fühle mich gefährlich nahe an einem Zusammenbruch.

Ich nehme einen Pullover und eine Jeans aus dem Korb mit sauberer Wäsche auf dem Trockner und ziehe mich in der Waschküche an. Socken leihe ich mir von Stephen, weil von meinen keine hier sind und ich ihn nicht wecken will. Ich will nicht mit ihm reden, ihm nichts erklären oder Fragen beantworten. Er soll mich nicht fragen, ob es Neuigkeiten gibt, sodass ich den Kopf schütteln und »Nein« sagen muss.

Ich nehme mir mein Handy und meine Schlüssel und gehe in einem Tempo los, das ich wahrscheinlich in fünf Minuten bereuen werde. Als mein Handy zu läuten beginnt, erstarre ich mitten auf dem Gehweg, weil die einzigen Anrufe, mit denen ich jetzt noch rechne, wichtige sind. Ich hole tief Luft, bevor ich auf das Display blicke, wo Julie-Annes Name aufleuchtet. Ich will schreien, doch mir ist klar, dass Julie-Anne nur anrufen würde, wenn es unbedingt sein muss. Mein Herz schlägt schneller – vielleicht, ganz vielleicht ist Nell bei ihr aufgekreuzt und …

Ich versuche, das Gespräch anzunehmen, doch die Handschuhe machen meine Fingerspitzen verdammt nutzlos auf dem Touchscreen. Fluchend streife ich einen ab, tippe unten aufs Display und hoffe, es ist noch nicht zu spät.

»Ist sie da?«, frage ich. »Ist sie zu dir gekommen?«

Zunächst ist alles still, und in der Stille rauschen mir hundert verschiedene Szenarien durch den Kopf, von denen nur sehr wenige gut sind. Wäre sie dort, gäbe es keine Pause. Das Ja würde sofort kommen, und ich würde zu ihr rennen – ja, rennen, auch wenn ich alles andere als fit bin –, um mein Kind in die Arme zu schließen …

Ich bin mir nicht sicher, was schlimmer ist: die niederschmetternde Erkenntnis, dass sie natürlich verdammt noch mal nicht dort ist, oder das schlechte Gewissen, weil ich Julie-Anne, dieses sanftmütigste aller sanftmütigen Wesen, in die Situation bringe, mir das sagen zu müssen.

»Tut mir leid«, antwortet sie, und ich kann den Schmerz in ihrer Stimme hören. »Und entschuldige, dass ich anrufe, aber ich habe etwas gefunden. Na ja, nicht ich, sondern Mia, auf Facebook. Es ist ein Video von Nell. Und sie wird gejagt oder so.«

»W-was?«, stottere ich. »Was meinst du mit gejagt? Welches Video?«

»Ich denke, du musst dir das ansehen, und ich denke, du musst es auch der Polizei zeigen. Es … es ist nicht schön.«

Ich fühle, wie Adrenalin in Wogen durch meine Adern rauscht, sich mit jedem Herzschlag weiter aufbaut und schiere Angst in meinen Kreislauf pumpt. Ich will sie fragen, was sie meint, was genau sie gesehen hat und warum das verflucht noch eins auf Facebook ist. Doch ich kann nicht sprechen. Ich kann einfach keine Worte formen.

»Marian, es tut mir leid«, bricht Julie-Anne das Schweigen. »Mia hat gesagt, dass mehrere derartige Videos mit anderen Mädchen, nicht mit Nell, die Runde machen. Eine blöde Internet-Challenge oder so – Leuten für Likes Angst machen. Ich bin wütend auf sie geworden, als sie behauptet hat, dass es ganz harmlos sei. Es ist sicher nicht harmlos, wenn deine Tochter verschwunden ist.«

»Kannst du mir den Link schicken?«, frage ich.

»Ich sage Mia, dass sie ihn dir schickt«, antwortet Julie-Anne. »Oder wie wäre es, wenn ich sie rüberbringe? Dann kann sie es dir zeigen.«

Ich hasse mich, weil ich energisch ablehnen will. Ich habe nicht die geringste Lust, mein Patenkind Mia zu sehen, die nur wenige Jahre jünger ist als Nell. Das Letzte, womit ich jetzt gerade umgehen kann, ist, sie bei mir zu Hause, mir gegenüber am Tisch zu haben. Wo Nell sein sollte. Ich will nichts mit jemandem zu tun haben, der nicht mein Kind ist. Aber ich muss dieses Video sehen. Ich will es nicht, aber ich muss. Und die Polizei muss es auch.

»Nein«, sage ich und verkneife mir eine irrationale Antwort. »Nein, das ist nicht nötig. Schickt mir nur den Link. Ich gebe ihn an die Polizei weiter.«

»Ist Stephen da?«, fragt Julie-Anne. »Oder diese Polizistin, von der du mir erzählt hast? Heather, wie hieß sie noch? Bist du im Garten? Es hört sich an, als wärst du draußen. Ich möchte nicht, dass du alleine bist, wenn du dir das ansiehst. Es ist nicht gewalttätig oder so, aber gruselig.«

»Stephen ist hier«, lüge ich. »Und ja, ich bin kurz raus, um frische Luft zu schnappen. Das geht schon, ehrlich. Ich habe Unterstützung. Bitte sie einfach, es mir sofort zu schicken, ja?«

»Mach ich. Mach ich jetzt gleich«, antwortet sie, und noch während ich das Gespräch beende, höre ich, wie sie Mia sagt, dass sie mir den Link schicken soll.

Ich bleibe stehen, wo ich bin. Ein Jogger läuft an mir vorbei, und aus seinem Mund steigen beim Atmen weiße Wolken in die kalte Morgenluft auf. Er schnauft, und seine Wadenmuskeln sind straff. Ich stelle mir vor, dass dies hier zu seiner morgendlichen Routine gehört. Zu seinem normalen Tag.

Das Wort »normal« ist verführerisch. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich je wieder normal fühlen werde.

Einen Fuß vor den anderen zwingend, gehe ich zur nächsten Bank, setze mich hin und starre auf mein Telefon, bis eine Benachrichtigung aufleuchtet. Mia hat den Link geschickt und »Es tut mir leid« davor geschrieben. Als wäre es ihre Schuld.

Es ist eine seltsame Form von Folter zuzuschauen, wie der Bildschirm wach wird. Dieses Video wurde nachts gedreht; bei Regen. Die Kamera ist auf eine Person in der Ferne gerichtet, doch derjenige, der sie hält, braucht nicht lange, um sie einzuholen. Sie – meine Tochter. So gut, wie ich ihr Gesicht kenne, kenne ich auch ihre Statur. Ihren Gang. Die Wölbung ihrer Schultern in ihrem grünen Mantel und den bunten Schal, den ich ihr bei Monsoon gekauft hatte. Sie trägt die dunkle Hose ihrer Schwesterntracht. Und hat den schwarzen Rucksack bei sich. Für einen Moment ist ihr Gesicht zu sehen, als sie nachschaut, wer hinter ihr ist, und ich möchte hingreifen und sie berühren. Ich möchte ihre Haut fühlen, aber sie dreht sich rasch wieder nach vorn und geht schneller. Zu dem Verkehrslärm und dem prasselnden Regen gesellt sich das schwere Atmen desjenigen, der die Kamera hält. Da ist mehr als Anstrengung, denke ich. Da ist auch Erregung.

Ich will Nell anschreien, dass sie um Hilfe rufen soll. Dass sie ihr Handy herausnehmen, es einschalten und die andere Person auf frischer Tat filmen soll. Ich will sehen, wie sie sich umdreht, die Miene trotzig, und ihm droht, ihm das Knie in den Schritt zu rammen, wenn er noch einen Schritt näher kommt. Ich will ihr zurufen, dass sie auf sich aufpassen soll.

Aber der Moment ist schon vorbei. Das sehe ich. Es ist kein Live-Feed. Es lässt sich unmöglich sagen, wann das Video aufgenommen wurde, außer dass ich ihr den Schal zu ihrem Geburtstag im September geschenkt habe, es also nicht lange her sein kann. Könnte es vom letzten Donnerstagabend sein? Könnte dies die letzte Sichtung meines wunderschönen Mädchens sein?

Ich sitze stocksteif da, während er weiter aufholt, und beobachte, wie sie langsam das Gesicht der Kamera zuwendet, blass und mit weit aufgerissenen Augen. Ihr wunderschönes Gesicht, verängstigt. »Lassen Sie mich in Ruhe!«, ruft sie selbstbewusst. Einen winzigen Augenblick lang bin ich stolz auf sie. Von dem Schwein mit der Kamera ist unverständliches Murmeln zu hören. Ich will ihm wehtun. Wohl noch nie wollte ich jemandem dringender wehtun als ihm.

Dann sehe ich, wie sie schneller wird und sich entfernt, sich noch ein letztes Mal umblickt, und ich will ihr zurufen, dass sie zurückkommen soll. Sie warnen. Ihr nur sagen, dass ich sie liebe.

Der Kaffee, den ich vorhin getrunken habe, steigt in meine Kehle, und ohne Vorwarnung habe ich mich vorgebeugt und mein Magen leert sich. Ob die Tränen von dem heftigen Erbrechen herrühren oder der Trauer um meine Tochter, weiß ich nicht. Was es auch ist, ich lasse sie fließen, bevor ich mich wieder aufsetze. Derselbe Jogger kommt wieder an mir vorbei, immer noch ganz aufs Laufen konzentriert. Sollte er meine Verzweiflung bemerkt haben, lässt er es sich nicht anmerken.

Erneut blicke ich aufs Display und lese die Kommentare unter dem Post. Entsetzt betrachte ich lachende Emojis. Die Gratulationen. Das in Großbuchstaben geschriebene »LEGENDÄR «. Die Versicherung, dass es ein »Riesenspaß« ist. Die strengen Ermahnungen. »Das ist nicht witzig, Jungs. Wie würdet ihr es finden, wenn es eure Tochter, eure Schwester oder eure Ma wäre?«

Ein kurzer, gut gemeinter Post von Mia. »Das ist die Tochter der besten Freundin meiner Mum. Und jetzt wird sie vermisst. Die Polizei sucht nach ihr. Das ist nicht witzig!«

Die kleinen geschockten Emoji-Gesichter unter ihrem Post sind inzwischen schon 283 . Die traurigen sind 400 . Vierundfünfzig Leute haben ein lachendes Emoji angeklickt. Ich tippe ihre Namen an und sehe die erbärmlichen Schweine. Eine traurige Mischung von Männern in Fußballtrikots mit Bierdosen in den Händen und heftig geschminkten und mit Filtern bearbeiteten erfundenen Frauen. Der Spott trieft aus ihren Posts.

Ich werde Heather hierauf ansetzen. Auf diese Arschlöcher, die darüber scherzen und lachen wollen. Wie werden sie sich fühlen, wenn die Polizei bei ihnen vor der Tür steht?

Ich sehe nach, ob ich herausbekomme, wer das Video hochgeladen hat, und finde mich auf einer ewig langen Liste von Links und schlecht geschriebenen Kommentaren wieder. Bis ich eine Montage von Clips finde. Unterschiedliche junge Frauen, unterschiedliche Ausdrücke von Angst. Ein Clip nach dem anderen. Bei manchen erkenne ich, dass sie in Derry aufgenommen wurden. Bei anderen sind mir die Straßen fremd. In der Ecke oben rechts steht das Hashtag #IchhabedieMacht.

Was zum Teufel stimmt mit dieser Welt nicht?