Kapitel dreiundzwanzig

Er

Drei Wochen zuvor

Die nächste Nachricht kommt fünf Tage später. Von einem anderen Usernamen. Doire92 hat sich anscheinend in Doire69 verwandelt.

Er hat nicht erwartet, noch einmal von ihm zu hören, nachdem er den Account wie einen faulen Apfel gesperrt hatte, aber da war er wieder in seinem Eingang.

Alter,

ich weiß nicht genau, was da passiert ist, aber ich konnte dir nicht wieder schreiben. Schräg, oder?

Eine Panne in der Matrix oder so. Aber diese Nachricht müsste durchkommen. Ich habe mich gefragt, ob du noch mal über meinen Vorschlag nachgedacht hast. Es wäre klasse, sich zusammenzutun. Ich bin schon draußen gewesen und habe es getan. Willst du das Video sehen? Das war der Hammer! Was für ein Kick. Jetzt verstehe ich, warum du das machst. Da kommt das Blut in Wallung, was? Du hättest das Gesicht des Mädchens letzte Nacht sehen sollen. Ich bin total nah rangekommen, ohne dass sie mich gehört hat. Sie hatte diese Ohrstöpsel drin – echt genial.

Ich konnte an ihrem Pferdeschwanz ziehen. Sie hat sich fast in die Hose geschissen, hat sich umgedreht und eine Hand gehoben, als wollte sie mich schlagen. Dieses winzige Ding. Als hätte sie eine Chance, LOL . Ich habe ganz unschuldig getan, und als sie weggegangen ist, war es, als würde sie gar nicht kapieren, was eben passiert ist.

Der Link ist unten. Ich stelle es bald ins Forum.

Sieh es dir an und sag mir Bescheid, wenn du mitmachen willst. Im Ernst, Alter, wir könnten erreichen, dass sich dieser Mist viral verbreitet. Die Leute werden noch in Jahren davon reden. #IchhabedieMacht

Mit einem mulmigen Gefühl klickt er den Link an, den Doire geschickt hat. Er ist ein wenig zittrig, weil ihm unbehaglich dabei ist. Bisher ist es ein guter Tag gewesen. Er hatte in der Pause mit Natalia in der Teeküche gesessen, und sie hatten sich unterhalten. Er war nicht unsicher gewesen oder ausgeflippt. Das Gespräch war relativ leicht. Sie hatten über Arbeitskram geredet. Und dann noch ein bisschen über Fernsehen. Was sie zuletzt auf Netflix gesehen hatten. Sie mag auch True Crime und die amerikanische Version von The Office . Und etwas an ihrem Gesichtsausdruck hatte ihn auf den Gedanken gebracht, dass es ihr nichts ausmachen würde, wenn er es mit ihr zusammen ansähe.

Natalia ist schön. Und feminin, aber nicht nuttig. Sie flirtet nicht mit jedem und zieht sich nicht an, als wollte sie durch die Clubs ziehen. Sie ist gesittet, ja, das ist das Wort. Gesittet und respektvoll. Bei ihr denkt er, dass die Aussicht, Liebe zu finden, nicht mehr so düster ist, wie er geglaubt hat. Nicht alle Frauen spielen Spielchen. Natalia würde es nicht.

Er ist seit Tagen nicht mehr auf der Jagd gewesen. Der Wunsch nach diesem besonderen High ist weniger stark. Er besucht immer noch in die Foren und liest die Nachrichten. Und er kostet das Lob noch ein wenig aus, aber vielleicht nicht ganz so sehr wie vorher. Mehr Leute machen es. Und mehr treiben es weiter, so wie Doire69 . Zu weit, findet er. Es bewegt sich in Richtung der kranken Fantasien, die er einst hatte. Natalia würde ihn hassen, könnte sie in seinen Kopf sehen. Sie darf niemals erfahren, dass jener Teil von ihm existiert.

Er hat das Gefühl, mit ihr würde etwas Besonderes passieren, und das will er nicht gefährden. Er hat eine zweite Chance bekommen. Er weiß, dass er Glück hat. Die meisten Leute, die sich seine Videos anschauen, haben keine Ahnung, wer oder wo er ist, und bis jetzt glaubte er, die Kontrolle darüber zu haben, wie sich die Dinge entwickeln. Für ihn war immer klar gewesen, wo die Grenze verlief. Er ging davon aus, dass er entscheiden könnte, wann er sich zurückziehen und die Sache beenden müsste.

Aber jetzt ist sie größer als er, und er merkt, dass ihm die Kontrolle entgleitet. Wenn er sie nicht kontrollieren kann, kann er sie auch nicht in Grenzen halten.

Er steht auf und schenkt sich einen Drink ein, bevor er sich wieder hinsetzt und auf Play drückt.

Eine dunkle Straße. Sieht wie die Magazine Street aus, die parallel zur historischen Stadtmauer verläuft, im Zentrum. Sogar im schwachen Licht der Straßenlaternen erkennt er die Kopfsteinpflasterstraßen und den Hang hinunter zum Tower Museum.

Die Gestalt ist klein, schmal und hat die Schultern in einem grauen Wollmantel nach vorn gebeugt. Sie ist vielleicht sechs Meter von der Kamera entfernt. Sie trägt eine beige Baskenmütze, einen Schal, einen kurzen Rock und eine dicke schwarze Strumpfhose. Die Kamera nähert sich ihr, doch sie wird nicht schneller oder wechselt die Richtung. So geht das Spiel nicht. Das Ziel ist, in ihre Köpfe zu kommen – Angst vor einem Angriff zu erzeugen. Kein tatsächlicher Angriff. Es fühlt sich falsch an.

Auf dem Bildschirm sieht er eine Hand nach einem schimmernd schwarzen Pferdeschwanz greifen, und sein Bauch verkrampft sich, weil dieses arme Mädchen keine Ahnung hat, was kommt. Es ist nicht das Katz-und-Maus-Spiel, das er angefangen hat. Das hier könnte man nie und nimmer als »harmlosen Spaß« bezeichnen. Er empfindet keine Vorfreude, sondern Furcht, als sich eine von einem Handschuh verhüllte Hand um das Haar legt. Was Doire als »Ziehen« bezeichnete, ist viel mehr. Er reißt das Mädchen nach hinten, dass es stolpert, hinfällt und mit einem fiesen Knall auf dem Pflaster landet. Und immer noch hält er ihr Haar in der Hand. Er zieht an ihm, wickelt es um seine Hand, sodass er ihren Kopf nach hinten biegt, als er über sie gebeugt ist und ihr direkt ins Gesicht blickt. Obwohl die Aufnahme eher dunkel ist, kann er erkennen, dass ihre Augen weit aufgerissen sind vor Angst und sie mit den Händen nach Halt auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster sucht. Dazu hört man schweres Atmen und ihr Weinen und Flehen.

Dann ist es genauso schnell vorbei, wie es begonnen hat – zum Glück. Ihr Kopf wird losgelassen und mit solcher Wucht nach vorn gestoßen, dass er gegen ihre Knie knallt, die sie aufgestellt hatte, um sich wieder aufzurichten. Die Kamera schwenkt herum, Doire geht weg, rennt die Straße hinauf, und aus seinem schweren Atmen wird Gelächter. Es ist ein so kaltes, manisches Lachen, dass ihm das Blut in den Adern gefriert.

Dieser Mann ist gefährlich. Auf eine Weise gefährlich, wie er es nie sein könnte. Und jetzt fühlt es sich richtig übel an. Er weiß, dass er Mist gebaut hat, und er hat keinen blassen Dunst, wie er sich da rausziehen soll – oder, wichtiger noch, dafür sorgen, dass Doire nicht noch mehr Schaden anrichtet.

Er kippt seinen Drink, Jack Daniels mit Coke, und hofft, der Alkohol wirkt schnell. Als er die Augen schließt, ist da das Mädchen, das Gesicht verzerrt von blanker Angst. Es trifft ihn hart, dass er nie begriffen hat, wie falsch es war, wenn er es tat. Nicht, dass er jemals so weit gegangen wäre. Nicht, dass er jemals jemanden physisch verletzt hätte. Es ging immer nur um das Spiel. Er ist nicht so übel wie Doire, nicht in derselben Liga. Doire tritt nicht für Männer ein; er ist ein Sexualstraftäter. Aber nach diesem Video weiß er, dass das, was er getan hat, falsch war.

In diesem Moment pingt eine neue Nachricht. Doire ist zurück.

Na, hat es dir gefallen? Genial, oder? Ich hätte noch mehr Spaß mit ihr haben können, wäre niemand in der Nähe gewesen. Aber ich hatte Stimmen gehört, wahrscheinlich oben auf der Mauer, und ich riskiere nichts. Ich habe schon mal gesessen, und ich fahre nicht wieder ein. Wir müssen uns echt mal treffen. Ich kann dir von meiner Idee für ein ganz neues Spiel erzählen. Sag mal, hast du je überlegt, eines von den Mädchen zu behalten? Kannst du dir das vorstellen?

Nee, ist ein Scherz.

Aber lass uns mal reden.

Mit einem miesen Gefühl lädt er das Video herunter. Vielleicht braucht er es noch. Er weiß, dass er es zur Polizei bringen müsste, aber das würde bedeuten, seine eigenen Vergehen zuzugeben. Dann gäbe es kein Zurück mehr. Absolut keines.

Er wünscht sich inständig, er hätte das hier nie angestoßen. »Ich habe die Macht«? Soweit er sehen kann, hat er keine Macht mehr. Doire mit seinem »Scherz«, der wahrscheinlich kein Scherz ist, hat ihm mit dieser einen kleinen Nachricht sämtliche Macht genommen.