Zuerst ist er froh, als Doire nichts mehr schreibt. Er denkt, dass seine Nemesis vielleicht von etwas im realen Leben abgelenkt wird. Etwas, das ihn von seiner wachsenden Obsession mit Incel-Foren abhält. Immerhin ist das durchaus möglich. Erlebt er das nicht selbst gerade mit Natalia?
Sie macht nicht alles auf der Welt besser, beschert ihm aber ein besseres Gefühl, was seinen Platz darin betrifft. Dank ihr denkt er, dass er kein Niemand ist. Vor allem aber gibt sie ihm das Gefühl, sichtbar zu sein. Ihm ist aufgefallen, wie sie lächelt, wenn er sie ansieht. Er hat sogar einmal mitbekommen, dass sie in der Teeküche auf ihn gewartet hat, nur damit sie ihm Hallo sagen konnte, bevor sie ihren Becher ausspülte und auf das Abtropfgestell stülpte. Sie hatte ihm einen Becher mit frischem Tee gereicht, genau wie er ihn mag, weil sie schon registriert hatte, dass er nur einen Schuss Milch und zwei Würfel Zucker nimmt. Es sind die Kleinigkeiten, die zählen.
Vielleicht, ganz vielleicht hat Doire jemanden wie Natalia gefunden. Jeden Abend überfliegt er die Foren nach weiteren Videos – überprüft, ob Doire etwas hochgeladen hat, und hofft, dass nichts da ist. Und jedes Mal, wenn er sieht, dass nichts Neues online gestellt wurde, atmet er erleichtert auf.
Fünf Tage lang herrscht Ruhe, aber dann erscheint eine Nachricht in seinem Eingang – und der Betreff lautet: »Bereit für das Spiel?«
Schon bevor er sie öffnet, weiß er, dass es nicht gut wird. Da ist etwas Dunkles, das spürt er, und es wird auf dieses Forum von wütenden Männern losgelassen. Mehr noch, auf nichts ahnende Frauen draußen in der Welt. Doch zuerst wird es Frauen in Derry treffen, denn er weiß, dass Doire hier ist. Frauen wie Natalia – die nicht kalt und hasserfüllt sind. Die sich nicht wie Jade für ein Geschenk Gottes ans Universum halten. Frauen, die fürsorglich und rücksichtsvoll sind.
Hiermit will er nichts zu tun haben. Und er fragt sich, ob er Doire wieder blockieren soll – einfach seinen Account dichtmachen; dann könnte er so tun, als hätte es diese erbärmliche Phase seines Lebens nie gegeben. Dass alles nur ein Ausrutscher gewesen ist. Eine Art kurzer Nervenzusammenbruch vielleicht. Ein Verhalten, das nur als »untypisch« beschrieben werden könnte.
Aber er weiß, dass er das nicht kann. Er mochte einige doofe Sachen gemacht haben, aber er war nicht doof. Er weiß durchaus, dass es klüger ist, den Feind zu kennen. Und für ihn besteht kein Zweifel, dass Doire sein Feind ist. Sie sind nicht gleich. Könnten sie niemals sein. Doires Seele ist dunkler.
Er klickt die Nachricht an und sieht, dass es sich um ein langes und zweifellos irres Geschwafel handelt. Schweren Herzens beginnt er zu lesen.
Du wirst total sauer auf dich sein, dass du nicht gleich mit eingestiegen bist, Alter. Das wird episch! Ich meine, alle Welt wird darüber reden. Wahrscheinlich auch schreiben. Eine Fernsehserie draus machen oder einen Film. Das hier sind meine fünfzehn Minuten Ruhm, aber die werden länger gehen als fünfzehn Minuten. Ich habe das Durchhaltevermögen, weiterzumachen.
Nicht wie du. Weglaufen und sich verstecken, wenn alles real wird. Hast du echt was verändern wollen, oder bist du nur voller Scheiße? Haha! Beantworte das nicht. Wir beide kennen die Antwort.
Vielleicht hältst du dich für was Besseres als mich. Ist es das? Gehörst du zu den Leuten, die andere mit gerümpfter Nase angucken? Denkst du, dass du so verdammt besonders bist, weil Leute dein piefiges Hashtag geteilt haben? Oder bist du vielleicht neidisch, weil ich die größeren Eier habe? Weil ich das hier dahin bringen kann, wo es sein soll?
Und ich werde es so weit bringen, dass die Leute aufmerksam werden. Richtig aufmerksam. Dass sie kapieren, dass wir keine Witze machen. Dass Männer zu lange verarscht und von Feministinnen kastriert worden sind, die meinen, wir müssen uns schon schuldig fühlen, weil wir mit einem Schwanz geboren wurden.
Guck dir all die Leute an, die uns auslachen und uns verurteilen. Die werden alle bald ihre Lektion lernen. Sie werden einsehen, dass es nicht unsere Schuld ist. Und sie werden sehen, dass sie auch Schuld trifft. Vor den Konsequenzen kommen die Taten, mein Freund, und man erntet, was man sät.
Du hättest Teil von dem sein können. In die Geschichte eingehen. Vielleicht willst du das Spiel auch spielen – wenn du siehst, wohin es führt. Wenn du siehst, was ich mache. Aber dann wird es zu spät sein. Du wirst zu spät sein. Du hast die Fähre verpasst, Alter!
Oder vielleicht, wenn ich es recht bedenke, habe ich Mitleid mit dir. Schließlich bin ich dir was schuldig. In gewisser Weise hast du es ja angefangen. Du hast das Feuer entfacht und es für den Rest von uns dagelassen, damit wir es weiter am Brennen halten. Aber nur, wenn du nett fragst. Oder bettelst. Ja, das ist es … Ich hätte gern, dass du bettelst, Teil dieser Revolution zu sein. Guck mal, wer jetzt die Macht hat, was?
Du wärst ja nicht du, würdest du auf Knien um eine zweite Chance flehen. Ha! Ist nur ein Witz – aber vielleicht auch nicht. Vielleicht gebe ich dir hier einen klitzekleinen Hinweis. Du wirst es wissen, wenn ich es bin. Jeder wird es wissen, wenn ich es bin.
Erinnerst du dich an diese Bücher, wo jeder sich das Abenteuer selbst aussuchen konnte und jede Wahl zu einem anderen Ende geführt hat? Ich habe die früher geliebt. Bin immer wieder zurück zu den Geschichten und habe das Ende geändert, wenn ich es nicht mochte. Das mache ich jetzt. Ich ändere das Ende. Und die Mädchen – die suchen aus, wie es endet. Sie wissen es bloß nicht.
Sie wissen nicht mal, dass sie Teil eines Spiels sind. Das ist das Beste daran, schnallst du das? Sie denken, dass sie in all den Jahren gewonnen haben, spielen mir aber direkt in die Hände. In unsere Hände.
Er liest die Nachricht immer wieder und denkt darüber nach, wer der Mann sein könnte. Er fragt sich, ob es ernst ist oder dieser Typ, wie man in Derry sagt, nur »große Klappe und nix dahinter« ist. Die gibt es hier zuhauf: Leute, die lautstark herumtönen, aber nichts vorzuweisen haben.
Er weiß, dass er sich etwas vormacht, wenn er denkt, dass dieser Mann nichts tut. Doire hat schon gehandelt und sich vorgestellt, dass er grünes Licht hat, alles zu tun, was er will. Er hat schon das Video geschickt und es im Forum gepostet, von dem armen Mädchen, das er am Haar zu Boden gerissen hat.
Weil er das Bier nicht mehr verträgt, das er angefangen hat, stellt er die Flasche auf den Fußboden und überfliegt das Forum. Sucht nach Hinweisen, was Doire als Nächstes plant. Gäbe es doch nur einen Weg, ihn aufzuspüren, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken! Ihm fällt nichts ein, jedenfalls nicht jetzt, solange sich seine Gedanken noch überschlagen.
Er klickt sich durch Doires Posts, um zu sehen, was der inzwischen veröffentlicht hat. Da könnten Hinweise sein. Er könnte die nächste Phase des Spiels aufhalten – worin immer die bestehen mag. Was er sieht, zusammen mit der Nachricht eben, überzeugt ihn davon, dass Doire ein Soziopath ist. Andererseits, denkt er in dem verzweifelten Versuch sich einzureden, dass kein Grund zur Sorge besteht, weisen die meisten Männer in dieser dunklen Nische des Internets soziopathische Züge auf. Was nicht hieß, dass sie danach handelten – sie lassen einfach ihren Frust raus. Hatte er das nicht auch getan? Er hatte ja niemanden richtig verletzt und auch nicht gegen ein Gesetz verstoßen.
Sein Bauch verkrampft sich, als er wieder die Threads in dem Forum liest. Es ist, als würde er sie aus einer neuen Perspektive betrachten, von einem Winkel aus, in dem seine Wut verpufft ist. Und er erkennt, dass diese Threads über Frustration hinausgehen. Sie sind voller Hass. Anders kann man es nicht ausdrücken. Brutaler, ehrlicher, roher Hass. Und dort, inmitten der lärmenden Menge, ist Doire, der einige seiner finstersten Fantasien beschreibt und für seine Kreativität gepriesen wird. Er ist dort und verspricht den anderen Usern, dass etwas Großes kommt.
Er hat das Gefühl, in einem selbst gebauten Gefängnis zu stecken, und ist unsicher, was er tun soll. Er beschließt, sofort zu antworten. Doch er muss sich gut überlegen, was er sagt und was er tut. Das Letzte, was er riskieren darf, ist, alles noch schlimmer zu machen.
Allerdings kann er es auch nicht mehr naiv angehen. Er muss auf das Schlimmste gefasst sein, nämlich dass Doire seine Versprechen wahr macht.
Er legt einen Ordner auf seinem Computer an und kopiert die übelsten Passagen aus den Posts in ein Word-Dokument. Er macht Screenshots. Er notiert sich die IP -Adressen von Doires Posts – nicht dass Doire jemals eine Adresse mehrfach benutzt hätte. Und er sucht in Doires Texten und Videos nach Hinweisen, in der Hoffnung, Details zu finden, die dessen Identität verraten.
Noch einmal liest er all die alten Posts, nicht nur von Doire, sondern auch seine, und er fühlt, wie das Bier in seinem Bauch zu brodeln beginnt. Am liebsten würde er sämtliche Dateien, Ordner und Links von seinen Geräten löschen. Er ist sogar versucht, die Festplatte zu zerstören und sich einen neuen Laptop zuzulegen. Ihm ist klar, dass er nicht all seine Internet-Aktivitäten ausradieren kann, aber er kann es schwerer machen, sie aufzuspüren. Er denkt an die Videos, auf denen seine Stimme zu hören ist. Kann man ihn allein daran erkennen? Und was, wenn die Videos mit Aufnahmen öffentlicher Überwachungskameras abgeglichen werden? Wäre er so zu finden? Er ist wütend auf sich selbst, als er begreift, wie dumm er gewesen ist. Wie idiotisch. Er hat alles aufs Spiel gesetzt.
Jetzt weiß er, dass er es irgendwie richten muss, wenn er nicht alles verlieren will: Natalia und alles, was er sich von ihrer gemeinsamen Zeit erhofft, seinen Job, seine Karriere. Nichts ließe sich mehr retten, sollte das hier rauskommen, und er grübelt, wie er es angeht, ohne sich selbst höchst verdächtig zu machen.
Vielleicht kann er ein wenig zur Vorsicht mahnen, denkt er. Da war mal Respekt gewesen. Dieser Doire behauptete, dass er ihn für legendär hielt, also müsste es möglich sein, an diese Seite von ihm zu appellieren – die Seite, die ihn bewundert hat.
Da er so oder so nur noch den Schaden begrenzen kann, beginnt er, seine Antwort zu tippen:
Ich habe deine Arbeit beobachtet. Super gemacht. Du hast diesen Mädchen wirklich eine Lektion erteilt, die sie so schnell nicht vergessen werden. Vielleicht überlegen sie es sich in Zukunft zweimal, bevor sie sich nuttig benehmen und sich für besser als wir halten. Es ist nichts verkehrt daran, sie mal ein oder zwei Gänge runterzuschalten. Oder drei.
Aber falls du meinen Rat willst – und ich sage das nur, weil ich dir helfen möchte –, sei vorsichtig. Ich weiß, dass du deine fünfzehn Minuten Ruhm willst, doch wenn du dir Zeit lässt, es gemäßigter angehst, kannst du tatsächlich etwas bewirken. Keine Eintagsfliege sein, sondern dafür sorgen, dass wir ernst genommen und nicht bloß für irgendwelche Psychos im Internet gehalten werden.
Setz auf eine langfristige Strategie. Für die braucht es Geduld und Planung. Du willst doch garantiert nicht in Schwierigkeiten geraten oder dass alles vorbei ist, ehe es richtig angefangen hat.
Das sage ich dir als Freund.
Er schickt das Ganze ab und lehnt sich zurück. Ob es funktioniert, weiß er nicht, aber er muss Doire dazu bringen, nur lange genug langsamer zu machen, bis er einen Ausweg gefunden hat. Vielleicht kommt Doire zur Vernunft, denkt er. Jeder hat seine Momente des Wahnsinns, seine Bruchstelle. Aber Leute können von dort zurückfinden. Wenn es ihm gelingt, Doire entweder Angst zu machen oder ihn wachzurütteln – oder er an dessen bessere Seite appellieren kann (vorausgesetzt, er besitzt eine) –, wäre alles gut.
Es erschreckt ihn, wie nah er an dem Punkt gewesen ist, von dem es kein Zurück mehr gibt. Manchmal, wenn er mitten in der Nacht aufwacht und Gesichter von Frauen vor sich sieht, im Dunkeln und bei Regen, bleich vor Angst und mit zitternden Stimmen, fragt er sich, ob er jenen Punkt nicht schon überschritten hatte. Dann fällt ihm Natalia ein, ihr süßes Lächeln und wie sie miteinander flirten. Wie sie ihm zuhört. Sie ist rein. So rein und anständig. Sie könnte die sein, die ihn rettet. Ihretwegen möchte er ein besserer Mensch sein.
Er hat sich vom Abgrund wegbewegt und muss daran glauben, dass Doire es auch kann.
Rastlos versucht er fernzusehen. Versucht zu lesen. Versucht, sich in die Arbeit oder weitere Recherche zu diesen blöden Foren zu vertiefen und wie sie überhaupt erlaubt sein können – obwohl allgemein akzeptiert zu sein scheint, dass sich nicht alle Winkel des World Wide Web um Regeln scheren.
Er kann nicht schlafen. Das Bier schmeckt eklig, und ihm ist der Appetit vergangen. Als Natalia ihm textet und nach dem Namen eines Boxsets fragt, das er ihr empfohlen hat, antwortet er so kurz wie möglich. Sie könnte ihn retten, aber was, wenn er innerlich so kaputt ist, dass er sie dabei zerstört? In einer anderen Welt, einer, in der sie ihm nicht zulächelt, wenn er ins Büro kommt, könnte er Doire sein.
Er zuckt zusammen, als eine neue Nachricht auf seinem Computerbildschirm aufscheint. Doire hat geantwortet. In der Hoffnung, dass seine Strategie funktioniert hat, öffnet er die Nachricht – und wünscht sich beinahe sofort, er hätte es nicht getan.
Du sagst mir nicht, was ich machen soll. Du kontrollierst mich nicht. Du kannst es bloß nicht ausstehen, dass das hier jetzt größer ist als deine dämlichen kleinen Videos. Die Leute mögen jetzt mich. Sie hören MIR zu, und du bist kalter Kaffee. Ich muss nichts »gemäßigt angehen«. Ich will alles in Brand stecken. Ganz oder gar nicht, heißt es doch, nicht? Also, wie wäre es, wenn ich aufs Ganze gehe und du einfach zum Teufel?
Ihn wundert wenig, dass Doire ihn blockiert, kaum dass er die Nachricht gelesen hat. Zu gern würde er sich jetzt aus dem Forum verabschieden, aber er weiß, dass er es nicht kann. Etwas Großes wird passieren. Doire giert nach Macht.
Er richtet einen neuen Account ein, damit er sehen kann, was Doire postet, und es dauert nicht lange, bis es erscheint. Eine Art Manifest. Ein Ruf zu den Waffen. Ein »Bleibt dran«.
Den Kopf in die Hände gestützt, fragt er sich, was zum Teufel er losgetreten hat. So weit sollte es nie gehen.
Ich habe genug davon, dass Frauen uns erzählen, wir sind nicht gut genug. Wir sind nicht wichtig, nicht relevant. Mir reicht es, dass Frauen uns alle über einen Kamm scheren. Genug von #MeToo und Frauen, die die Augen verdrehen, wenn wir sagen, dass nicht alle Männer so sind. Wir sind nicht alle pervers. Wir sind nicht alle Unterdrücker. Das ist die Welt, in die wir geboren wurden. Es ist nicht unsere Schuld. Schluss damit, Männern für alles in eurem Leben, was scheiße ist, die Schuld zu geben. Schluss mit den Witzen auf unsere Kosten. Schluss damit, dass ihr uns abschreibt, bevor ihr uns überhaupt kennengelernt habt. Schluss mit der Doppelmoral. Mit der verfluchten Doppelmoral. Sie wollen Gleichheit, aber wenn es hart auf hart kommt, wollen sie immer noch wie verwöhnte Prinzessinnen behandelt werden.
Frauen müssen einsehen, dass sie für ihr Handeln verantwortlich sind. Sie sind für ihre Fehler verantwortlich. Für den Mist, den sie bauen. Und das müssen wir ihnen zeigen. Wir müssen es ihnen klarmachen, bevor von uns nur noch ein Haufen weichgespülter Eunuchen übrig ist.
Ich werde ihnen zeigen, dass ihre Taten Folgen haben. Ich werde ihnen zeigen, dass sie es zu weit getrieben haben. Es liegt bei ihnen, ob sie danach gehen oder nicht. Sie haben die Macht. Wir haben bloß mehr. Wie es sein soll.
Diese viralen Videos? Die waren ein guter Anfang, aber eigentlich sind sie doch Kinderkram. Es wird Zeit, dass die großen Jungs übernehmen. Das ist ein völlig neues Spiel – und wir bestimmen die Regeln.
Macht ihr mit?
Die Bestätigungen kommen schnell und zahlreich. Jetzt lässt es sich nicht mehr aufhalten.