Kapitel sechsundzwanzig

Marian

Mittwoch, 3 . November
Seit sechs Tagen vermisst

Die Polizei verstärkt ihre Bemühungen im Krankenhaus. Sie überprüfen die Mitarbeiter, mit denen Nell sich angefreundet hat, mit denen sie zusammengearbeitet oder zu denen sie Kontakt gehabt haben könnte. Sehen nach, ob irgendjemand schon im System ist. Sie suchen nach Hinweisen auf gewalttätiges Verhalten – und versichern uns wieder mal, dass wir uns keine großen Hoffnungen machen sollen. Alle Mitarbeiter werden schon vor dem Bewerbungsgespräch über Access NI überprüft, wo etwaige Vorstrafen sofort auftauchen würden. Und angesichts des vielen Fremdpersonals und der Besucher lässt sich nicht einmal sagen, ob sie überhaupt nach einem Krankenhausmitarbeiter suchen. Es sind Tausende, die dort tagtäglich kommen und gehen. Jeder von ihnen könnte der sein, den wir suchen.

Aber vorerst ist das alles, was sie haben, also muss ich darauf hoffen, dass sie etwas finden – und das schnell. Es ist ein zu großer Zufall, dass Elzbieta auch in dem Krankenhaus gearbeitet hat, weshalb es wahrscheinlich ist, dass das Monster, das die arme junge Frau ermordete, auch Nell hat. Mein Bauch wird hart.

Ich will losgehen und nach ihr suchen. Richtig losziehen und suchen. An Türen klopfen und Nebengebäude überprüfen, mit einem Stock durch überwuchertes Brachland streifen und ihren Namen an jeder Straßenecke rufen, bis ich höre, wie sie antwortet: »Ich komme, Mum!«

Ich will, dass sie zur Tür hereinkommt, rot vor Scham. Ich will, dass sie mir sagt, dass sie niemanden beunruhigen wollte, nur ein bisschen raus; da sei dieses Last-Minute-Angebot gewesen, und sie habe ihr Handy und das Portemonnaie vergessen, was okay sei, weil ihr neuer Freund für alles bezahlt habe …

Ich will mit ihr schimpfen. Richtig schimpfen. Ihr sagen, dass sie egoistisch und unreif sei und wir uns halb zu Tode gesorgt haben und die Polizei nach ihr gesucht habe. Ich will schreien, brüllen, zetern und sie dann in meine Arme nehmen und schluchzen, dass ich dachte, ich habe sie verloren, was der unerträglichste Schmerz meines Lebens gewesen sei.

Ich möchte die Chance, eine Helikopter-Mutter zu sein. Meine lässige Einstellung ablegen, was das Muttersein für ein erwachsenes Kind betrifft, und über jeden Aspekt ihres Lebens wachen. Ich möchte sehen, wie die Anspannung aus Stephens Zügen weicht. Ich will, dass wir uns als Familie hinsetzen und über das reden, was wirklich zählt. Die Risse in unserem Fundament. Die Fehler, die wir gemacht haben. Die Schuld, von der wir alle einen Teil tragen. Ich will, dass wir drei nach vorn schauen. Ich möchte Stephen vergeben, ihn aber gehen und das Leben führen lassen, das er verdient.

Ich möchte ihn von jedweder Pflicht befreien, für mich da zu sein, wenn wir älter werden – einer Pflicht, die noch um ein Vielfaches größer wird durch die Tragödie unserer verlorenen Tochter. Wie können wir uns jetzt voneinander lösen, in dieser Zeit des absoluten Horrors? Was ist, wenn es ihn wütender macht und er diese Wut gegen mich richtet, wie er es früher schon getan hat? »Du bist so ein leichtes Ziel, Marian«, hatte er in einem seiner grausamsten Momente gesagt. »Du besitzt nicht mal die Selbstachtung, für dich zu kämpfen.« Es hatte mich tief getroffen, weil es stimmte. Oder er mich glauben machte, dass es stimmte. Und weil es mich dazu brachte zu denken, dass ich es verdiente, für immer bestraft zu werden, da ich nicht seiner Vorstellung von Perfektion entsprach.

Er liebt mich nicht, und ich liebe ihn nicht. Nicht mehr. Jedenfalls nicht genug. Nicht auf die richtige Art. Aber so, wie mir die Courage fehlt, für mich zu kämpfen, fehlt sie ihm, um zu gehen. Sollten all der Kampf und die Courage dafür aufgewendet werden, in einer Welt ohne unsere Tochter zu existieren, wie können wir dann jemals den Bruch vollziehen, den wir brauchen?

Ich möchte ihm sagen, dass es vorbei ist. Dass wir beide mehr verdienen. Der Schmerz von einst ist verblasst – untergegangen in dem Wissen, dass das, was uns nun bevorsteht, schlimmer als alles ist, was wir uns gegenseitig antun könnten. Untergegangen in der Angst, dass es irgendwie unsere Schuld war, weil wir nicht zugegeben haben, welcher Graben sich vor langer Zeit in unserer Ehe aufgetan hat.

Wie wäre es gewesen, hätten wir nicht auf diesem Pulverfass von Verletzungen und Schuldzuweisungen gelebt? Vielleicht wäre Nell dann nicht so früh ausgezogen. Sie wäre noch unter unserem Dach, und ich hätte für ihre Sicherheit sorgen können. Vielleicht wären wir jetzt nicht in dieser Lage. Säßen nicht in diesem furchtbaren Raum – einem Konferenzraum in einem Hotel im Stadtzentrum. Eintönig in seiner Schlichtheit. Der lange Tisch mit den vier Stühlen ist ein surrealer Anblick. Pop-up-Banner mit den Logos und den Kontaktdaten des Police Service of Northern Ireland liefern den passenden ernsten Hintergrund.

Da ist ein Bild von unserer Tochter, stark vergrößert auf einer Staffelei. Unter ihrem Namen steht eine Telefonnummer, die Leute anrufen können, wenn sie Informationen haben. Ich starre das Foto an, versuche, mir jedes Detail ihres Gesichts einzuprägen: die Fältchen in ihren Augenwinkeln; die Sommersprossen auf ihrer Nase; die winzige Narbe auf ihrer linken Wange von einer Windpockeninfektion in der Kindheit. Ich sehe ihre blauen Augen mit den grauen Sprenkeln und dem sanften Grünschimmer an. Jetzt sind sie so deutlich, weil ich sie vergrößert direkt vor mir habe. Ich blicke zu ihrem leicht schief stehenden Schneidezahn – nicht schief genug, um die Zahnspange für weitere zwölf Monate zu rechtfertigen, aber doch so, dass er sie als Nell ausweist. Ich verdränge den Gedanken an Elzbieta Kowalski und dass man ihre Identität anhand des Zahnschemas festgestellt hat.

Vor dem Bild der in einem Moment eingefrorenen Nell denke ich an all die Versionen dieser wunderschönen Person, die ich gekannt habe. Das winzige Baby. Das wissbegierige und zum Drama neigende Kleinkind. Das schüchterne Schulkind. Mein Mädchen. Die junge Frau, die mit Clodagh bei einem Glas Wein kicherte, als sie erfahren hatten, dass ihre Bewerbungen für den Krankenpflegekurs angenommen worden waren. Die junge Frau, die mir sagt, dass es in Ordnung sei, ihn zu verlassen. Eine junge Frau, die der Welt so viel zu bieten hat. Ich frage mich, was Stephen sieht, wenn er das Bild betrachtet.

DS King ist sehr sanft mit uns gewesen, nachdem Ingrid Devlin barsch das Betreten unseres Hauses verwehrt worden war. Sie hat uns erzählt, dass Elzbieta Ausländerin gewesen ist – eine Studentin aus Polen –, die zum Reinigungspersonal des Altnagelvin Hospital gehörte. Elzbieta war vierundzwanzig, und sie war schön. Makellos. Gewissenhaft.

Es hatte sie niemand als vermisst gemeldet, weil sie wenig unter Menschen ging und eine Woche Urlaub gehabt hatte. Als sie am Montag nicht zu ihrer Schicht erschienen ist, hat ihre Vorgesetzte versucht, sie telefonisch zu erreichen, und ihr eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Sie haben angenommen, dass Elzbieta vielleicht keine Lust mehr gehabt hätte, Krankenhausböden zu wischen, und zurück nach Polen gegangen wäre. Sie habe ziemliches Heimweh gehabt, erzählte DS King uns, und mir blutete das Herz für die junge Frau. Sie würde ihre Heimat nie wiedersehen.

Als die Polizei um Hilfe bei der Identifizierung der jungen Frau bat, deren Leiche gestern gefunden wurde, hatte sich eine ihrer Kolleginnen an einen Police Officer aus dem Team gewandt, das die Krankenhausmitarbeiter zu Nell befragte, und erwähnt, dass auch Elzbieta nicht zur Arbeit gekommen sei.

Dass eine der Stationen, auf denen sie geputzt habe, die Chirurgie sei, wo Nell gearbeitet habe, scheine ein zu großer Zufall zu sein, hat DS King ihnen gesagt. Deshalb haben sie Elzbietas WG einen Besuch abgestattet und erfahren, dass sie auch dort seit Tagen von niemandem gesehen worden sei.

Eine der Mitbewohnerinnen erwähnte, dass Elzbieta erst vor einem Monat eine Zahnfüllung machen ließ, und so konnte die Polizei sie anhand ihres Zahnschemas identifizieren. Ich versuche, nicht an das Telefonat zu denken, das sie mit ihren Eltern in Polen führen mussten – wie entsetzlich es gewesen sein muss.

Stattdessen tue ich alles, was ich kann, um weiter das Bild meiner Tochter anzusehen und nicht das große Foto von Elzbieta auf der anderen Seite des Tisches, auf dem ihr blasses Gesicht von kastanienbraunem Haar umrahmt ist. Ihr Lächeln ist scheu, aber freundlich. Ihre Augen sind leuchtend grün. Sie ist eine sehr schöne junge Frau gewesen, bevor … Ich halte den Gedanken nicht aus. Mir wird übel. Mein Magen ist leer, dennoch fürchte ich, mich jeden Moment übergeben zu müssen, als müsste ich die Trauer aus mir herauswürgen, um nicht in ihr zu ertrinken.

Meine Hand wird gedrückt. Es ist Stephen, der mich zurück in die Gegenwart holt. Zurück zu dem vertrauten Gesicht meiner Tochter und der Hoffnung, dass wir nicht zu spät dran sind und sie wiedersehen werden. Oh Gott, ich muss sie wiedersehen.

»Alles okay?«, fragt Heather, und ich schüttle den Kopf. Es ist eine lachhafte Frage. Wie in aller Welt soll für mich alles okay sein? Aber natürlich weiß Heather das. Sie weiß, dass ich gebrochen bin, und muss lediglich hören, ob das, was wir tun müssen, für mich in diesem Augenblick hinreichend okay ist.

»Geht schon«, sage ich heiser, greife nach dem Glas mit lauwarmem Wasser vor mir und trinke einen Schluck. Mein Mund ist ausgetrocknet und mein Hals rau.

Ich denke an all die Male, die ich Pressekonferenzen der Polizei gesehen habe. Die Aufrufe von weinenden Eltern und Partnern, die ihre verschwundenen Lieben anflehen, nach Hause zu kommen. Immer vorausgesetzt, dass die vermisste Person in der Lage ist, einfach von dort, wo sie sein mag, wegzugehen, in einen Bus zu steigen und heimzufahren. Dass es lediglich einen weinenden Vater oder eine in Tränen aufgelöste Mutter braucht, damit sich ein Kidnapper umbesinnt.

»Reden Sie nur über Nell«, sagt DI Bradley, und ich blinzle ihn an, als ich mich zu begreifen bemühe, wie unsagbar irrsinnig und beängstigend dies alles ist. »Das Statement, das Stephen vorbereitet hat, ist perfekt. Sie sagen Nell, wie sehr sie geliebt wird. Was für eine großartige Krankenschwester sie ist. Was Sie auch tun, weichen Sie nicht davon ab, lassen Sie sich keine Wut auf den Entführer anmerken – es ist sehr gut möglich, dass die Person, an die Sie appellieren, psychisch labil ist. Ich weiß, dass Sie ihn jetzt gerade umbringen wollen, aber es ist besser, ihn auf Ihre Seite zu ziehen. Wenn es dieselbe Person ist, die Elzbieta entführt hat, wissen wir, dass er zu einem Mord fähig ist. Es ist also sehr heikel.« DI Bradleys »Mord« kriecht mir unter die Haut und scheuert meine Nervenenden wund.

Er hat das hier eindeutig schon gemacht, denn er ist vollkommen unbeeindruckt von den Worten. Seine Tonlage ist tief und beruhigend. Ich frage mich, ob er jedes Mal nach demselben Skript vorgeht.

Wieder spüre ich, dass Stephen meine Hand drückt. Seine ist warm und verschwitzt. Und er umfängt meine ein bisschen zu fest. Wenn Nell nicht zurückkehrt, denke ich, wobei sich mir der Magen umdreht, wird er alles sein, was ich noch habe. Er wird der Einzige sein, der weiß, wie ich mich fühle. Und es ist kein Band, das ich mit jemandem teilen will.

»Ms Devlin wird Ihnen die erste Frage stellen«, sagt DI Bradley mit einem Anflug von Abscheu. Ich habe gehört, wie DS King ihm von Ingrids Spontanbesuch bei uns erzählt und hinzugefügt hat, sie habe alles ihr Mögliche getan, sie aus dem Haus zu halten. Mir schien sie vollkommen höflich, aber was weiß ich schon? Ich bin es ja nicht gewohnt, im Mittelpunkt eines Medienansturms zu stehen.

»Sie ist gründlich vorgewarnt worden, was sie fragen darf und was nicht«, fährt DI Bradley fort. »Die Presse wird ihre Fragen an mich und DS King richten. Sie müssen nichts beantworten. Belassen Sie es bei Ihrem kurzen Statement. Wir werden versuchen, das Ganze so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Wir wollen es in den Abendnachrichten – und all die Journalisten werden den Redaktionsschluss erwischen wollen. Das kommt uns entgegen.«

Ich versuche, mir Gedanken über Ingrid Devlin und all die anderen Journalisten zu machen. Darüber, dass die Pressekonferenz gut verläuft. Nicht darüber, wie viele Leute unsere kummergezeichneten Gesichter betrachten und sich fragen, ob wir etwas verheimlichen. Und erst recht versuche ich, nicht an die Person zu denken, die sie festhält – weil ich tief in meinem Herzen weiß, dass jemand sie entführt hat. Wird er es sich ansehen? Zieht er einen perversen Genuss aus unserem Schmerz? Wird er sie damit verspotten?

»Marian …« Diesmal reißt mich Stephens Stimme in den Raum zurück. Als ich mich zu ihm umdrehe, sehe ich, dass er sich die Hand reibt, mit der er meine gehalten hat, als täte sie weh. Hatte ich sie zu sehr gedrückt? Ich weiß es nicht, murmle eine Entschuldigung, weil es mir so sehr, sehr leidtut. Alles.

»Es wird Zeit«, sagt er, ohne auf meine Entschuldigung zu reagieren. Ich nicke, und wir stehen auf, um nach vorn zu gehen. Jetzt nimmt er nicht meine Hand. Die Welt um uns herum verschwimmt, als die Kameras klicken und sich Stille über den Raum legt. Ich will hier weg. Ich kann das nicht.