Kapitel siebenundzwanzig

Er

Dienstag, 2 . November
Ein Tag zuvor

Die Arbeit ist brutal gewesen. Könnte er einfach einpacken und nie wieder hingehen, er würde es tun. Er erwägt sogar ernsthaft, einfach das Nötigste in seinen Rucksack zu stopfen und abzuhauen. Er könnte irgendwo neu anfangen und diesen ganzen erbärmlichen Mist hinter sich lassen.

Seit gestern hat er nicht mehr als eine Stunde am Stück geschlafen. Ihm ist klar, dass er dem allen ein Ende setzen muss und dass er die Macht hat zu verhindern, dass es noch weitergeht. Er kann es beenden, bevor noch jemand verletzt wird. Das hat er heute gesehen, und er wird die dunkle Wolke über seinem Kopf nicht los.

»Alles okay?«, hat Natalia ihn kurz vor Feierabend gefragt.

Er hatte sie angeschaut und nicht gewusst, wie er ihr ehrlich antworten sollte, wollte sie aber auch nicht belügen. Also hatte er den Kopf geschüttelt. »War ein harter Tag, und ich habe Kopfweh. Ich denke, wenn ich ein bisschen schlafe, geht es mir besser«, hatte er geantwortet. Was die Wahrheit war. Leider wusste er, dass die Chance auf Schlaf gleich null war.

Doire hat Wort gehalten. Er hat sein Spiel angefangen und dafür gesorgt, dass die Leute hinschauen werden.

Er hatte gehofft, dass er sich irrte. Aber als er von der Frau hörte, deren Überreste gefunden worden waren – der Körper bis zur Unkenntlichkeit verbrannt –, wollte er kotzen. Er wusste instinktiv, dass Doire dahintersteckte.

Es passierte.

Mit einer bleiernen Furcht in der Magengrube loggt er sich wieder ins Forum ein. Er ist sich ziemlich sicher, wenn Doire, was er vermutet, hinter dem abscheulichen Fund steckt, wird er unmöglich die Klappe halten können. Leute wie er lechzen nach Aufmerksamkeit, und hatte er nicht gesagt, dass es ihm darum gehe, wahrgenommen zu werden? Er will berühmt sein oder berüchtigt, auf jeden Fall in Erinnerung bleiben.

Hätte er ihn doch nur ernster genommen, die richtigen Schritte ergriffen, anstatt nur seinen Ordner vollzupacken mit IP -Adressen und Screenshots von Hetzkommentaren. Er hätte etwas für diese arme junge Frau bewegen können. Vielleicht, denkt er, kann er immer noch etwas tun. Es wird eine zweite junge Frau vermisst. Kann Doire sie auch haben?

Das Forum sollte es ihm verraten. Er geht die Posts durch – die User sind völlig aufgedreht. Es hat sich offenbar herumgesprochen, und da, mittendrin und eindeutig hofhaltend, ist seine Nemesis, die sich in der neu gewonnenen Aufmerksamkeit suhlt.

Eine ist schon mal im Sack. Das Spiel läuft, Jungs! Ich habe einer von ihnen eine Lektion erteilt, die keine von denen so schnell vergessen wird.

Ich habe ihr so viele Chancen gegeben, und sie hat immer wieder dumme Entscheidungen getroffen. Hätte sie sich an die Regeln gehalten, könnte es ganz anders sein. Manche Leute wollen es einfach nicht lernen, oder?

Tut mir leid, dass ich die letzten Tage nichts zu ihr gepostet habe. Wie ihr seht, wollte ich erst mal alles lupenrein hinkriegen. Und ich war mir nicht sicher, wie es laufen würde. Sie hätte mich überraschen können.

Sie war ja ein kluges Mädchen, müsst ihr wissen. Auch sexy. Und ihr Akzent? Der hat mich so richtig scharf gemacht!

Ihr erster Fehler war, mir eine Abfuhr zu erteilen, als ich sie auf einen Drink einladen wollte. Hätte sie sich anders entschieden oder wäre dabei auch bloß nett gewesen, wäre es anders ausgegangen. Aber sie hat mich mit diesem abfälligen Blick angesehen, als würde sie sich für besser als mich halten. Warum denken so viele Frauen, dass sie besser sind als wir? Was ist aus dem Respekt geworden?

Es wird Zeit, dass wir uns den zurückholen – mit allen Mitteln, die nötig sind. Das war eine der gebrochenen Regeln, deshalb blieb mir keine andere Wahl, als sie mir vorzunehmen. Das hat sie sich selbst zuzuschreiben. Regeln sind Regeln. Die sind nicht verhandelbar. Nicht in diesem Spiel.

Und da hat sie sich gegen mich gewehrt, versteht ihr? Sie war temperamentvoller, als ich gedacht habe. Das muss ich ihr lassen. Wäre sie nur höflich und brav gewesen, hätte es anders für sie laufen können. Aber dieses dreckige kleine Luder hat mich angespuckt! Sie wollte einfach nicht hören. Die Regeln sind die Regeln, was bedeutet, dass ich gezwungen war, sie zu bändigen. Es war der verflucht größte Antörner meines Lebens, Jungs – nicht, dass sie es zu schätzen wusste, wenn ihr versteht, was ich meine …

Es steht alles geschrieben – Taten haben Konsequenzen. Das habe ich ihr gesagt, und sie hat mich ausgelacht. Noch ein Fehler.

Ihr seht, es ist nicht meine Schuld gewesen, aber ich habe es getan. Und ich habe es genossen. Mein kleines Spielzeug. Ich hätte sie gerne mit euch geteilt. Ihr hättet sie sicher auch genossen. Vielleicht habt ihr alle Lust auf das Spiel? Ich könnte euch dazu einladen – wenn ihr auch nach den Regeln spielt.

Er starrt auf den Computerbildschirm, und an die Stelle seiner Furcht tritt Übelkeit. Der Mann ist wahnsinnig. Er hat so gut wie zugegeben, dass er für den Tod der Frau verantwortlich ist, die jetzt in der Leichenhalle des Altnagelvin Hospital liegt und auf den Transport zur Rechtsmedizin in Belfast wartet. Genau davon redet der. Fluchend entscheidet er, auf den Thread zu reagieren, auch wenn er weiß, dass seine Antwort in dem Meer von Reaktionen untergehen könnte, die jetzt seinen Monitor füllen. So viel Aktivität hat es lange nicht in diesem Forum gegeben – eventuell noch nie.

Leute bitten um mehr Details. Um Bilder. Gibt es ein Video? Was meint er mit »im Sack«? Doire ist den Schreibenden zufolge »eine Legende«, »ein Held«, »ein Gott«. Aber keiner von ihnen kennt die ganze schaurige Realität dessen, was er getan hat. Er ist schlau genug gewesen, keine identifizierbaren Details zu posten. Das Forum ist gut moderiert – tief im Darknet versteckt vor den neugierigen Augen jener, die zu sehr darauf bedacht sind, dass alles unbedingt legal bleibt.

Geht es um die Leiche, die heute in Nordirland gefunden wurde?, tippt er. Er versucht, es allgemein zu halten. Doire soll nicht erraten, wer er ist, aber er möchte sichergehen. Er will ihn dazu verführen, noch mehr zu prahlen. Vielleicht einige Details zu verraten.

Es kommt keine Antwort. Er beobachtet, wie sich das Bild regelmäßig aktualisiert, und es erscheinen überhaupt keine weiteren Posts mehr von Doire. Ohne Frage muss er die Informationen nehmen, die er hat, und sie jetzt gleich der Polizei übergeben. Bevor noch jemand verletzt wird. Diese Sweeney wird schließlich immer noch vermisst.

Sein Handy liegt neben ihm auf dem Sofa. Mit nur einem Anruf könnte er einen Prozess in Gang setzen, der dieses blöde Spiel, worin immer es bestehen mag, beendet. Während er auf den Bildschirm schaut, versucht er, all seinen Mut zusammenzukratzen und genau das zu tun.

Er nimmt sein Telefon, entsperrt es mit seinem Fingerabdruck und holt tief Luft, bevor er seine Liste gespeicherter Nummern durchgeht und überlegt, was er sagen soll.

»Also, da ist dieser Typ im Internet, und, nein, ich kenne seinen richtigen Namen nicht. Oh, es ist auch im Darknet. Woher ich davon weiß? Ach, na ja … ich habe nur … Hören Sie, da ist ein Kerl online, der hasst Frauen. Hasst sie richtig, und … ja, ich weiß, das trifft auf so ziemlich jeden Mann auf Twitter zu, aber das hier ist nicht Twitter, und dieser Typ ist aus der Gegend. Er ist hier. Er prahlt damit, etwas Großes zu tun, will Frauen eine Lektion erteilen. Ich habe diese Videos …«

Er kann das Gesicht seiner Chefin vor sich sehen. Wie sie die Augenbraue hochzieht, weil sie nichts anderes von ihm erwartet hat, als dass er ein trauriger Fall ist, der im Darknet abhängt und mit Incels über toxische Männlichkeit plaudert und darüber, warum Feminismus ein böses Wort ist.

Und in dem Moment ist er hin- und hergerissen. Dieses Spiel ist doch nicht so leicht, und er weiß nicht, was richtig ist. Nein, das stimmt nicht. Er weiß, was das Richtige wäre. Und es ist das Einzige, was er tun sollte .

Er kann sich nur nicht dazu durchringen.

Vielleicht ist er doch so ein Schwächling, wie er befürchtet. Vielleicht sind es gar nicht all die Frauen, die ihn die ganze Zeit verspotten. Vielleicht ist es keine weibliche Stimme in seinem Ohr, die ihn spät in der Nacht wegen seiner Fehler verhöhnt, von denen es viele gibt. Vielleicht ist die lauteste Stimme von allen seine eigene.

Frustriert schleudert er sein Handy an die Wand und schaut zu, wie es zersplittert und auf den Boden fällt. »Scheiße!«, schreit er ins leere Zimmer. »Verfluchte Scheiße.«