Harry Styles schlängelt sich um meine Beine. Er spürt offensichtlich, dass etwas los ist, und hat sich in den letzten Tagen meistens oben unter dem Bett in Nells früherem Zimmer verkrochen. Heute jedoch scheint er mir mit erschreckender Regelmäßigkeit um die Beine zu streichen.
Ich sollte ihn hochheben. Ich sollte ihn in meine Arme nehmen, ihn streicheln und ihm vielleicht ein wenig Huhn aus dem Kühlschrank holen, wie ich es normalerweise tun würde. Aber ich will nicht mal an ihn denken. Ich möchte ihn nicht in meiner Nähe, wie er sich an mir reibt und immer wieder erbärmlich maunzt. Ich will diesen dummen Kater nicht in meinem Raum, auch sonst nichts und niemanden. Ausgenommen Nell.
Was ich mir von dem Fernsehaufruf erwartet habe, weiß ich selbst nicht. Vielleicht lauter Anrufe und eine Rettungsaktion. Derry ist eine Kleinstadt, wird uns immer gesagt. Eine Stadt, die sich wie ein Dorf anfühlt, in der jeder über jeden Bescheid weiß. Wo man nichts tun kann, ohne dass der Rest der Welt davon erfährt.
Bis auf zwei junge Frauen entführen und mindestens eine von ihnen umbringen, wie es scheint.
Da ist er, mein finsterster Gedanke. »Mindestens«, denn wenn derjenige, der Nell hat, es einmal konnte, lässt sich unmöglich sagen, ob er es nicht ein zweites Mal kann oder getan hat. Wir könnten nach weiteren verkohlten Überresten suchen, ohne es zu ahnen.
Meine Lider sind schwer vom Schlafmangel, aber ich will die Augen nicht schließen. Da laufen keine glücklichen Szenarien in meinem Kopf ab. Meine Tagträume sind keine tränenreichen Wiedervereinigungen, sondern der Boden der Welt, der unter mir wegbricht. Von meiner Tochter – der größten Liebe meines Lebens –, die mir genommen wird, ohne dass ich irgendetwas dagegen tun kann. Es gibt keine Tür, an die ich klopfen und um Gnade betteln kann. Da ist niemand, den ich anflehen kann, sie gehen zu lassen. Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe die Rolle der pflichtbewussten Ehefrau und Mutter gespielt und im Fernsehen geweint, damit es jeder sieht. Keiner weiß, dass es unechte Tränen waren. Tränen, die ich vorgespielt habe. Es war nicht so, dass ich nicht hätte weinen wollen. Natürlich wollte ich weinen. Aber hätte ich mich gehen lassen und die Tränen geweint, die ich tatsächlich in mir fühlte, hätte ich gebrüllt und geschrien wie ein waidwundes Tier, und keiner hätte ein Wort von dem verstanden, was Stephen und die Polizisten sagten.
Nicht, dass sie schrecklich viel gesagt hätten. Die Bilder übernahmen das Reden – zwei lächelnde junge Frauen in der Blüte ihres Lebens. Es ist unerträglich, darüber nachzudenken, doch ich kann an nichts anderes denken.
In meinem Kopf herrscht Nebel von zu wenig Schlaf. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht die Hälfte der Zeit halluziniere. Wie prophezeit, steht vor dem Haus eine Traube von Reportern, während wir nun drinnen sind. Die Vorhänge sind zugezogen, als fände hier eine Totenwache statt. In diesem Halblicht zu sitzen macht den Tag noch surrealer.
Stephen spricht mit Heather. Der große, schlaksige Polizist – DC Black – ist auch da. Er sitzt mir gegenüber in einem Sessel, der zu klein für ihn wirkt. Der Mann besteht aus lauter rechten Winkeln, und ich erinnere mich, wie ich dasselbe über Nell gesagt hatte, als ich schwanger war. Sie hat immerzu in meinem Bauch getreten, geboxt und gezappelt und mich mit ihren winzigen Knochen so heftig bearbeitet, dass ich sie von außen fühlte. Ich konnte zuschauen, wie sich die Wölbungen von rechts nach links bewegten, wenn sie sich wild entschlossen streckte und ihren Platz in der Welt einforderte.
Jetzt lege ich wieder die Hand auf meinen Bauch, als könnte ich jene Gefühle erneut heraufbeschwören, wenn ich nur lange genug an sie denke.
»Ich geh dann besser mal«, sagt DC Black, und ich blinzle, versuche, mich auf ihn zu fokussieren. »Schließe mich dem Team im Krankenhaus an. Wir hoffen sehr, dass die Überwachungskameras etwas aufgenommen haben, das eine Verbindung zu Miss Kowalski und Nell herstellt.«
»Sie haben beide da gearbeitet«, sage ich. »Das ist die Verbindung. Um das herauszufinden, brauchen Sie keine Überwachungskameras.«
Er rutscht verlegen auf seinem Sessel herum und macht Anstalten, aufzustehen. »Ja, natürlich«, stammelt er, »aber wir versuchen zu ergründen, ob es jemanden gab, mit dem sie beide zu tun hatten oder zu dem sie Kontakt hatten. Wenn wir eine von ihnen sehen, wie sie das Krankenhaus mit jemandem betritt oder verlässt, könnte das ein Hinweis sein.«
Ich schüttle den Kopf. Das kommt mir wie eine sagenhaft kleine Stecknadel in einem sehr großen Heuhaufen vor. Buchstäblich Tausende betreten und verlassen täglich das Krankenhaus – Mitarbeiter, Patienten, Lieferanten, Taxifahrer …
»Uns läuft die Zeit davon«, sage ich. »Ich kann es fühlen. Uns läuft die Zeit davon, und alles, was wir tun können, ist, uns Aufnahmen von Überwachungskameras anschauen und mit ihren Freunden und Kollegen sprechen. Denselben Freunden und Kollegen, die uns gestern und vorgestern schon nichts sagen konnten.«
Ich klinge heiser. Und ich weiß, dass ich zu schnell und ein bisschen zu laut rede. Mir scheint mein Halt in der Realität zu entgleiten, und dieser verfluchte Kater reibt sich immer noch an meinem Bein. Ich widerstehe dem Impuls, ihn wegzukicken. Auch dem, etwas kaputt zu schlagen, zu schreien und alles zu zerstören. Ich denke, es ist schiere Erschöpfung, die mich davon abhält. Der Kater wird froh sein. Und so, wie DC Black aussieht, ist er es wohl auch.
»Marian.« Heathers ruhige Stimme ist kurz vor ihr im Raum. »Ich weiß, dass es sehr hart ist, aber Sie müssen uns glauben, dass wir alles tun, was wir können, um Ihnen Ihre Tochter zurückzubringen.«
Ich nicke. »Ich bezweifle nicht, dass Sie sie mir zurückholen«, sage ich langsam blinzelnd – meine blutunterlaufenen Augen sind so trocken, dass ich das Schaben der Lider auf meinen Augäpfeln spüre. »Die Frage ist nur, in welchem Zustand sie dann sein wird. Was ist, wenn sie wie Elzbieta ist? Was, wenn ich ihre Hand nicht halten oder sie nicht auf die Stirn küssen kann? Was ist, wenn nur noch wenige Überreste von ihr zurückkommen?«
»Marian!« Stephen ist laut, und ich zucke zusammen, bevor ich mich zu ihm umdrehe. »Ich will nicht, dass du so redest. Nie. Hast du verstanden? Ich will nicht, dass du sie aufgibst, und ich finde es verdammt falsch, dass sie für dich schon tot ist, wenn der Rest von uns alles tut, was wir nur können, um sie zu finden.«
Seine Worte dringen durch den Nebel in meinem Kopf. »Der Rest von uns.« Denkt er, ich tue nichts? Hat er wirklich das Gefühl, ich wäre fähig, nichts zu tun, wenn mein Kind da draußen und in Gefahr ist? Wut steigt in mir auf. Ich spüre, wie sie wächst und sich bereit macht, aus mir herauszubrechen. Ich denke daran, dass ich so viel von meinem Leben damit verbracht habe, alles, was ich kann, für alle anderen zu tun, um ihnen das Leben zu erleichtern. Um keine Umstände zu machen. Damit alle so komfortabel durchs Leben gehen wie möglich. An all die Wut und den Schmerz, die ich vergraben habe. Und ich will schreien, dass es seine Schuld ist, nicht meine.
Mir wird bewusst, wie lange ich mir schon die Schuld gebe. Weil ich nicht genug für ihn bin, weshalb er sich wieder und wieder anderweitig umsehen musste. Weil ich meinen Schmerz nicht vollständig verbergen und dazu schweigen konnte. Weil ich nicht mutig genug war, um wegzugehen. Weil ich es hier so unerträglich machte, dass ich meine Tochter wegschieben musste, damit sie nicht wie ich lernen musste, sich um ihren Vater herum wie auf rohen Eiern zu bewegen. Weil ich sie freigeben musste, bevor ich bereit dazu war.
Ich hatte mich so sehr angestrengt, unser Zuhause behaglich zu machen. Ich hatte versucht, es irgendwie hinzubekommen. Und es war Stephen, der mir ein Hindernis nach dem anderen in den Weg legte und sein Leben lebte, ohne sich darum zu scheren, dass er mich zerstörte und unsere Tochter vertrieb.
Zuerst spreche ich ruhig. »Wie kannst du es wagen?«, frage ich beinahe flüsternd.
Ich sehe, wie er die Stirn runzelt und kaum merklich den Kopf zur Seite neigt, als könnte er nicht recht glauben, was ich da sage, noch dazu vor zwei Police Officers. Er öffnet den Mund, aber ich bin noch nicht fertig, und meine Wut wächst weiter.
»Wie kannst du es verdammt noch mal wagen?«, frage ich nun lauter. Streng. Selbstsicher.
Seine Wangen röten sich. Mein Ausbruch ist ihm peinlich, deshalb tut er, was er in Situationen wie dieser immer macht: Er versucht, meine Gefühle kleinzureden. Mich als Hysterikerin hinzustellen.
»Marian, du bist müde und emotional …«, sagt er und hebt eine Hand, um mir zu bedeuten, dass ich den Mund halten soll.
Wenn er denkt, dass ich jetzt aufhöre, irrt er sich gewaltig.
»Ich bin müde und emotional?«, wiederhole ich, und wie ich es schaffe, ihn nicht anzuschreien, ist mir schleierhaft. »Natürlich bin ich verflucht müde und emotional. Unsere Tochter ist höchstwahrscheinlich von einem Mörder entführt worden. Sie könnte tot sein. Welche emotionale Reaktion erwartest du von mir, Stephen? Soll ich kein Theater machen? Oder meine schlimmsten Ängste nicht zugeben? Oder dich nicht wegen deiner Arroganz und deinem Bullshit zur Rede stellen? Wie kannst du es wagen, dazustehen und mir zu sagen, dass alle anderen tun, was sie können, und damit zu implizieren, ich täte es nicht? Ja, wie kannst du? Wie kannst du es wagen anzudeuten, dass ich hysterisch bin oder aufgebe? In den letzten zweiundzwanzig Jahren hat es bei Gott reichlich Gelegenheiten gegeben, in denen ich hätte hysterisch werden und aufgeben können, und keine von denen hatte mit unserer Tochter zu tun oder würde es je. Sie ist mein ganzes Leben – verstehst du? Nein, das bezweifle ich. Die größte Liebe deines Lebens bist du, du selbstsüchtiger, selbstgefälliger Scheißkerl!«
Harry Styles schießt unter das Sofa, um vor meiner Stimme in Deckung zu gehen. DC Black sieht gequält aus und als wollte er direkt zu dem Kater unters Sofa fliehen.
Stephen wird nicht gefallen, was ich sage, doch das ist mir egal. Endlich spreche ich aus, was ich vor Jahren hätte sagen müssen. Ich kehre meine Gefühle nicht mehr unter den Teppich, sodass er das Gesicht wahren kann. In seinen Zügen spiegelt sich eine Mischung aus Scham und Wut. Er ist sichtlich geschockt, dass ich laut geworden bin und ihn vor Heather und DC Black mit einem Schimpfwort belegt habe. Und er blickt mich voller Empörung an.
»Marian und Stephen«, sagt Heather, »ich weiß, dass es eine enorm stressige Zeit für Sie beide ist, aber wir sollten doch versuchen, uns darauf zu konzentrieren, Nell zurückzubekommen.«
Fast sage ich ihr, sie soll sich zum Teufel scheren, verkneife es mir aber. Sie kann nichts dafür, dass meine Ehe seit Jahren nur noch von Pflastern zusammengehalten wird.
»Natürlich«, antworte ich so ruhig, als hätte ich nicht eben die Wut und den Frust von Jahren herausgelassen. »Was kann ich tun? Da ich ja bisher offenbar nicht alles tue, was ich kann …«
Stephen sagt nichts, und ich genieße sein Schweigen. Selbstverständlich werde ich später dafür bezahlen, aber jetzt gerade weiß ich, dass ich durchgedrungen bin.
»Das Beste, was Sie beide tun können, ist, sich auszuruhen. Passen Sie auf sich und auf den anderen auf. Wir hoffen nach wie vor, dass der Fernsehaufruf etwas bringt.«
Ein Handy klingelt – eine blecherne Melodie, die mir bekannt vorkommt, auch wenn ich sie nicht erkenne. DC Black nickt und verlässt das Zimmer, wobei er schon das Telefon ans Ohr hebt. Ich vermute, dass er heilfroh ist, hier rauszukommen.
»Stephen«, sagt Heather, und mir fällt auf, dass sie ihn nicht mehr Mr Sweeney nennt, »wie wäre es, wenn Sie den Wasserkessel aufstellen? Ihre Nachbarin hat vorhin überaus köstliche selbst gebackene Scones vorbeigebracht. Vielleicht könnten wir davon welche zum Tee essen.«
Immer noch stumm nickt mein Mann und tut, worum er gebeten wurde. Heather schaut mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal richtig.
»Ich habe schon Schlimmeres erlebt«, sagt sie ruhig. »Situationen wie diese wühlen vieles auf.«
Ich entschuldige mich nicht und versuche auch nicht abzumildern, was ich gesagt habe. Meine ganze Energie verwende ich darauf, dass ich schlicht weiteratme. »Es könnte das einzig Gute sein, was hierbei rauskommt«, sage ich matt, als DC Black wieder hereinkommt.
»Noch keine nennenswerten Spuren im Krankenhaus«, berichtet er. »Miss Kowalskis Eltern fliegen heute Nachmittag ein. Mir wurde gesagt, dass sie gern herkommen und Sie sehen würden.«
Ich will sie nicht sehen. Nicht, dass es mich nicht interessiert, das tut es sehr wohl. Ich will bloß keine Vorschau auf das, was uns durchaus blühen könnte.
»Sie können Nein sagen«, sagt Heather, aber das Gefühl habe ich nicht.
»Wir treffen sie.« Ich nicke, und mir wird ein bisschen schlecht bei dem Gedanken. »Auch wenn ich nicht weiß, was wir ihnen nützen sollen. Wir haben sie nicht gekannt. Ich glaube nicht, dass Nell je ihren Namen erwähnt hat.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagt DC Black, und wenn ich mich nicht irre, scheint er Mühe zu haben, seine Gefühle im Zaum zu halten.