Kapitel dreißig

Er

Donnerstag, 4 . November

Er steigt in seinen Wagen und dreht mit zitternder Hand den Zündschlüssel herum. Er will weg von all dem hier. Von diesem Haus, dieser Straße und dem, was ihm heute Nachmittag bevorsteht.

Oh Gott, bei dem Gedanken bekommt er kaum Luft. Er hatte sich gerade noch zusammenreißen können, als Natalia ihn anrief. Er musste sich weiter professionell verhalten, durfte sich nicht verplappern – dabei wusste er, dass jetzt die Zeit gekommen war, eine Riesenentscheidung zu fällen.

Entweder verurteilt er sich selbst zu einem Leben voller Schuld, weil er nichts gesagt hat – wohl wissend, dass er bereits Blut an den Händen hat und es möglicherweise mehr würde, bevor dies alles vorbei wäre. Oder er ist ein Mann und gibt alle Informationen weiter, die er hat; einschließlich der vernichtenden Beweise gegen ihn selbst.

Es war schon schlimm genug, als er das Video sah, das auf Facebook die Runde machte – von dem Marian Sweeney wollte, dass alle es sich ansehen. Er glaubte, in Ohnmacht zu fallen, als er sein Werk erkannte. Und er wollte kaum glauben, dass er das Foto von der lächelnden Nell, das die Sweeneys der Polizei überlassen hatten, nicht mit dem verängstigten Gesicht zusammenbrachte, das er eines Abends auf seiner Pirsch aufgenommen hatte. Die Furcht hatte ihr Gesicht verwandelt, und in dem Moment, als ihm das klar wurde, meinte er, er müsste sich übergeben. Aber er hatte es, weiß der Himmel wie, geschafft, sich zusammenzureißen. Nur hatte er da ja auch noch geglaubt, es gäbe einen Ausweg, bevor er seine ganze Welt in Brand steckte.

Er hatte gedacht, Ingrid Devlin ein paar Informationen zu geben, wäre genug. Dass sie einen Ansatz fände, wie sie seinen Namen raushalten könnte. Aber das war blöd von ihm gewesen.

Doire schien nicht ruhiger zu werden; eher schien ihn seine neue Berühmtheit zu befeuern. Für die Männer in den Incel-Boards ist er ein Idol, und die Frauen von Derry sollten sich vor ihm fürchten.

Er hat kaum geschlafen, seit Elzbieta Kowalskis Leiche gefunden wurde und er Doires prahlenden Post gesehen hat. Hat mit sich gerungen und ist sogar gegenüber Natalia schroff gewesen – hatte das Telefon verflucht, als sie anrief, um ihm etwas von den Vorgesetzten in der Arbeit auszurichten.

Und heute Morgen, als er Nell Sweeneys Mutter vor Kummer heulen sah, musste er an sich halten, um nicht aus dem Raum zu laufen. Marian Sweeney, stellt er sich vor, ist im Alltag eine recht beeindruckende Frau. Er hatte sie in dem Raum erlebt, vor Angst und Erschöpfung von Sinnen, wie sie vor ihm zusammenbrach. Fürchtete, dass alles, was sie von ihrer Tochter wiederbekommen würde, deren verkohlte Überreste wären. Er hatte gedacht, dass er schon gebrochene Menschen gesehen hätte, aber dies hier war eine völlig neue Dimension. Eine Mutter so am Boden, so frustriert von ihrer Unfähigkeit zu erleben, ihrem Kind zu helfen. So voller Furcht, dass sie es nie wiedersehen würde.

Er kann Marian Sweeney nicht sagen, dass sie sich keine Sorgen machen soll. Weil er besser als irgendwer sonst weiß, wie schlimm es steht und wie übel es wahrscheinlich noch wird. Er weiß, dass es für Doire ein Spiel ist. Eines, das online von unzähligen anderen verfolgt wird. Und die anderen dürsten nach Blut wie die Römer damals im Colosseum. Er weiß, dass Doire glaubt, er würde für das Richtige kämpfen. Dass er ein politisches Statement abgibt, indem er ein aggressives Manifest gegen Feminismus und toxische Männlichkeit verfasst. Deshalb weiß er, dass Marian Sweeneys Ängste berechtigt sind.

Am besorgniserregendsten ist, dass er genau weiß, zu welchem soziopathischen Wahnsinn Doire fähig ist. Er wird nicht aufhören. Ihm wird nicht langweilig werden, geschweige denn wird er seinen Irrsinn erkennen. Doire blüht auf, und je mehr Resonanz er bekommt, desto wagemutiger wird er werden.

Als er in seinem Wagen sitzt, ist ihm speiübel. Er wollte zwar Frauen begreiflich machen, dass auch sie die Folgen ihres Handelns aushalten müssen – dass sie richtig miese Entscheidungen treffen können –, doch jetzt muss er sich denen seiner eigenen Taten stellen.

Als sein Telefon läutete – er hatte sich inzwischen ein neues zugelegt –, war er froh gewesen, dem Gewitter zu entkommen, das sich im Sweeney-Haus zusammenbraute, hatte jedoch nicht erwartet, dass am anderen Ende noch ein weit größeres lauerte. Er sollte nicht ins Krankenhaus und weiter Mitarbeiter befragen und Kameraaufzeichnungen ansehen, wie er gedacht hatte. Er sollte zum Belfast International Airport fahren, die Kowalskis abholen und sie in die Rechtsmedizin begleiten, wo ihnen gezeigt würde, was von einem kleinen Smaragdring übrig war – und alles, was von ihrer Ältesten noch vorzeigbar war.

Er wird in der ersten Reihe sitzen, Zeuge ihrer Trauer sein, und er weiß nicht, ob er ihnen in die Augen wird sehen können.

DC Mark Black, der unabsichtlich die Pforten der Hölle aufgestoßen und »Doire« hindurchgelassen hat, weiß, was er getan hat. Er kann nicht mit den Kowalskis zusammensitzen, weil er um seine Rolle beim Tod ihrer Tochter weiß, und er will nicht miterleben, wie die Sweeneys denselben Horror durchmachen.

Sein Appell an Doires gute Seite blieb unerhört, vermutlich weil der Mann gar keine besitzt. Ingrid Devlin an Bord zu holen – die er seit Jahren mit Polizeiinformationen versorgt –, hat nichts gebracht. Er hätte es ahnen müssen, denn viel hatte er ihr ja nicht gegeben. Jetzt fragt er sich, ob er ihr die ganze Story erzählen soll. Wird sie die Klappe halten, was ihn betrifft, wenn er sie direkt zu dem Forum und diesem Psychopathen führt?

Nein. Dazu liebt sie eine gute Story viel zu sehr. Es ist ausgeschlossen, dass sie einen PSNI -Officer decken würde, der einen Stalking-Trend losgetreten hat, der zu Entführung und Mord führte.

Er hat keine Wahl. Er ist in die Enge getrieben und kann nur verhindern, dass noch jemandem dasselbe wie Elzbieta passiert, indem er sich ins sprichwörtliche Schwert stürzt. Mit zitternden Händen entsperrt er sein Handy und scrollt durch seine Kontakte zu DS Kings Nummer. Sie wird es genießen, denkt er verbittert. Hat sie nicht immer Distanz zu ihm gewahrt, als hätte sie von Anfang an gewusst, dass er beschädigte Ware war?

Er atmet tief durch und hört, wie es bei ihr dreimal klingelt, bis sie sich brüsk und sachlich meldet.

»Mark«, sagt sie, und sein Name von ihren Lippen klingt wie ein erschöpfter Seufzer. »Wie ich höre, fährst du nach Belfast. Ich weiß, dass es sich echt unsensibel anhört, aber versuch, dich nicht zu lange von ihnen aufhalten zu lassen. Wir brauchen dich hier. Ich weiß nicht, wie wir bei der gegenwärtigen Personaldecke all das abarbeiten sollen. Man sollte meinen, die würden uns mehr Ressourcen geben.«

»DS King«, sagt er, »kannst du jemand anderen nach Belfast schicken?«

»Oh, Scheiße, echt jetzt, Mark«, beginnt sie, »du weißt, dass wir niemanden haben. Constable Williams wäre die offensichtliche Wahl, aber du weißt, dass Heather bei den Sweeneys bleiben muss. Vor allem nach dem Debakel mit diesem Facebook-Video.«

Er unterbricht sie, weil er sagen will, was er sagen muss, bevor ihn das bisschen Mut auch noch verlässt.

»Ich habe neue Informationen zu dem Fall. Und zu dem Facebook-Video«, sagt er, und seine Stimme bricht nur ganz wenig. Und zu seiner großen Schande denkt er, dass er jedoch tatsächlich zusammenbrechen könnte.

»Was? Was hast du?«, fragt seine Vorgesetzte hörbar gereizt.

»Es ist vielleicht besser, wenn wir uns auf der Wache treffen und darüber reden«, antwortet er. »Und wenn DI Bradley dabei ist.«

»Oh Mann, kannst du nicht einfach zur Sache kommen? Ich muss wirklich hier sein, kann nicht zurück zur Wache fahren und mir irgendwelche Krümel ansehen, die du hast.«

Ihre Worte und die Verachtung in ihrer Stimme lassen ihn zusammenfahren. In einem hatte er die ganze Zeit recht, nämlich dass DS Eve King eine Bitch erster Güte ist. Das hat nichts mit Misogynie zu tun, sondern ist einfach eine Tatsache, denkt er.

»Es sind mehr als ein paar Krümel«, sagt er, und ein Teil von ihm ist auf perverse Weise froh, dass er mehr Informationen besitzt, als sie ihm bei diesem Fall jemals anvertrauen könnte. »Wenn du auch nur die Chance haben willst, Nell Sweeney zurückzuholen, triffst du mich in zwanzig Minuten auf der Wache.« Mit diesen Worten legt er auf. Sie wird wütend sein, denkt er. DS King ist keine Frau, die gern Befehle annimmt, insbesondere nicht von einem Officer, der rangmäßig unter ihr steht. Sie könnte ihn hierfür offiziell verwarnen, aber das bereitet ihm keine Sorgen. Er weiß, dass ihm viel, viel Schlimmeres blüht als eine Verwarnung.

Sein Herz pocht laut, als er den Zündschlüssel umdreht, sich wappnet und auf den Weg zur Strand Road PSNI Station macht, wo er eine Granate auf das werfen wird, was an Gutem in seinem Leben noch übrig ist.