Kapitel siebenunddreißig

Nell

Donnerstag, 4 . November
Seit sieben Tagen vermisst
17 Uhr

Es ist dunkel draußen. Glaube ich. Durch den Spalt unten in der Tür dringt kein Licht mehr herein. Andererseits habe ich inzwischen jedes Zeitgefühl verloren. Ich kann nicht mehr zwischen fünf Minuten und fünf Stunden unterscheiden. Heute Morgen hat er mir nichts zu essen gebracht, sodass ich vor Hunger ganz schwach bin. Es ist bitterkalt, und ich höre den Wind durch die winzigen Risse im Mörtel pfeifen. Ich glaube, dass ich meine gesamte Energie für den Versuch aufgebraucht habe, mich warm zu halten, einfach weiter zu existieren. Ich sollte jetzt bereit für ihn sein, mich vorzeigbar gemacht haben. Doch ich habe kaum die Kraft, mich zu bewegen. Meine Gelenke schmerzen vor Kälte.

Aber ich habe getan, was ich konnte. Ich habe mich darauf konzentriert, wie nett es sich anfühlte, trockene Sachen anzuziehen. Ja, das Kleid riecht noch muffig, aber verglichen mit meinem eigenen Modergeruch ist es beinahe angenehm. Vor Erschöpfung bin ich eingeschlafen, nachdem ich mich mit eiskaltem Wasser notdürftig gewaschen und mich umgezogen hatte. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe, doch es fiel mir schwer, wieder aufzuwachen. Ich bin so entsetzlich müde.

Im Traum war ich zu Hause bei meinen Eltern. Ich lag auf dem Sofa, den Kopf auf dem Schoß meiner Mutter – so wie ich als Kind gern gelegen habe. Sie spielte mit meinem Haar, glättete und streichelte es und erzählte mir, wie sehr sie mich liebt. Ich war umfangen von Sicherheit und bedingungsloser Liebe. Das waren gute Zeiten, erkannte ich. Die letzten paar Monate, als ich rausging und Abenteuer außerhalb meiner Komfortzone suchte, waren nicht das gewesen, was ich wirklich wollte. Ich bin mit meinem Leben zufrieden gewesen, fühlte mich angekommen. Und dann fing diese kleine Stimme an zu sagen, dass Angekommen-Sein langweilig ist. Redete mir ein, ich würde am Ende das Gefühl kriegen, gefangen zu sein. Ich dachte an meine Mutter, deren Lebensfreude unter der Oberfläche brodelte und die nie die Chance erhalten hatte, zu glänzen. Ihr Licht wurde von meinem Vater gedämpft, und sie war zu ängstlich, aufzubegehren und zu gehen.

Jetzt will ich nur noch wieder bei ihr sein. Mit ihr auf dem Sofa sitzen und wissen, dass wir alles getan haben, was wir konnten, um uns gegenseitig zu retten. Es gibt so vieles, was wir gemeinsam machen können. Dinge, über die wir geredet haben, zu denen wir aber nie gekommen sind. Eine Shoppingtour nach London – »nur wir Frauen«. In eine Lesegruppe gehen. Solche trivialen Sachen, die jetzt so herrlich klingen. Ich würde alles für jenes Leben geben. Alles, um wieder Zeit mit Clodagh zu verbringen. Doch ich verdränge diese Gedanken, denn die Trauer, weil ich vielleicht nie etwas davon kann, überwältigt mich sonst.

Eddie hat keine Andeutung gemacht, was passieren wird, wenn er kommt. Ich weiß nicht, was er vorhat, außer natürlich, mich berühmt zu machen. Ich frage mich, ob er mir die Kette abnimmt. Falls er mich von hier wegbringt, wie er es mit Elzbieta getan hat, habe ich vielleicht eine Chance zu fliehen. Wenn ich vorsichtig bin und mich konzentriere, erwische ich vielleicht den Moment, in dem er einen Fehler macht, den ich nutzen kann. Denn eines weiß ich mit absoluter Sicherheit: Sollte ich hierbleiben, an diesen Fußboden in einer Zelle ohne Ausgang gekettet, bin ich tot. Und dann wird es für meine Mutter und mich zu spät sein. Wir wären beide nicht mehr zu retten.

Ich bibbere jetzt, und das nicht nur vor Kälte. Ich habe Angst. Ich würde alles darum geben, um irgendwo anders zu sein. Ich bin kein religiöser Mensch, habe nie richtig an Gott geglaubt, nicht mal als Kind, aber heute habe ich gebetet.

Und ich habe Elzbieta gebeten, über mich zu wachen und mir zu helfen, wenn sie kann. Falls sie da oben irgendwelchen Einfluss hat, hoffe ich, dass sie mir vergibt, weil ich ihr nicht helfen konnte, aber auch etwas tun kann, das mir hilft.

Ich horche auf, als ich einen Hubschrauber höre. Zuerst ist es leise, sodass ich mich frage, ob ich mir das nur einbilde. Alles ist ziemlich surreal. Doch das Geräusch kommt näher, und nun erkenne ich, dass ich es mir nicht eingebildet habe. Ich weiß, dass er nah ist, so nah, dass er beinahe über mir sein könnte, und ich schreie und rufe so laut ich kann, obwohl ich es nicht darf. Obwohl ich weiß, dass Eddie zuhören könnte und es eindeutig gegen die Regeln verstößt. Obwohl ich alles für mich so viel schlimmer machen könnte. Aber was habe ich denn noch zu verlieren? Mir fällt nur eine Art ein, wie dies hier ausgeht, und die ist nicht gut.

Ich frage mich, ob der Hubschrauber einen Wärmesensor oder eine Art Richtmikrofon hat. Die haben doch so was, nicht wahr? Ich bin mir sicher, dass ich das irgendwo gelesen habe. Vielleicht können sie mich in diesem Höllenloch aufspüren und kommen mich holen. Ich hoffe es, denn die Alternative ist undenkbar.

Tränen brennen in meinen Augen, als ich höre, wie sich das Schlagen der Rotorblätter entfernt. Der Hubschrauber fliegt weiter. Vielleicht hat er gar nicht nach mir gesucht. Vielleicht strengt man sich nicht sonderlich an, mich zu finden, ungeachtet dessen, was in der Zeitung steht. Oder sie jagen falschen Spuren nach. Oder etwas …

Nein, das darf ich nicht denken. Auch wenn die Hoffnung schwindet, muss ich versuchen, mich an sie zu klammern. Ich muss glauben, dass alles gut wird. Wieder schreie ich, so laut ich kann – so laut, dass ich zu spüren glaube, wie die Muskeln in meinem Hals reißen. Meine Brust schmerzt, aber das Geräusch wird leiser.

Und mir bleibt nichts anderes übrig, als auf Eddie zu warten.