Kapitel achtunddreißig

Er

Donnerstag, 4 . November
17 :30 Uhr

Mark Black ist angespannt. Er hat versucht, die richtigen Worte zu finden, mit denen er zumindest mit Doire ins Gespräch kommen kann. Aber er muss es hinbekommen, ohne zu enthüllen, dass er Polizist ist und die Polizei von der Website und den Posts weiß.

Ihm ist klar, dass dies am ehesten gelingt, wenn er Doires Ego schmeichelt. Ihn zu einem Alphamännchen erhebt. Und tief in seine finstersten Gedanken eintaucht – um die Wut und den Schmerz wiederzufinden, die in ihm waren, als das alles angefangen hat. Die muss er reaktivieren, damit Doire sich ihm öffnet.

Und das alles, während Eve King neben ihm steht und jede seiner Bewegungen überwacht. Sie vertraut ihm nicht mehr, was er ihr nicht verdenken kann. Auf keinen Fall wird sie ihn die Dinge auf seine Art tun lassen. Sie macht Vorschläge, was er sagen soll, und obwohl es in seinem Interesse wäre, sich in jeder Hinsicht reumütig und bescheiden zu geben, geht es ihm auf die Nerven.

Er hat schon genug Druck, ohne dass King ihn bevormundet, als würde sie diese Welt, von der er ein Teil gewesen ist, besser kennen als er. Vielleicht ist das von Anfang an das Problem mit ihr gewesen: dass sie sich ihm überlegen glaubt. Sie hat ihn nie ernst genommen. Einen kurzen Augenblick lang kommt ihm in den Sinn, dass sie ihn jetzt durchaus ernst nimmt.

Er würde es genießen, denkt er, wäre die Zeit nicht gegen ihn und müsste er nicht versuchen, das Leben einer Frau zu retten. Nell Sweeney hat, soweit er weiß, nie auf jemanden herabgesehen. Jeder, mit dem er im Zuge der Ermittlung gesprochen hat, sagte, dass sie eine von den Guten ist. Dass sie super in ihrem Job ist. Ruhig. Gewissenhaft. Dass sie in jüngster Zeit vielleicht einige fragwürdige Entscheidungen getroffen hat, aber nichts, das irgendwie rechtfertigt, was mit ihr passiert.

Er schüttelt den Kopf. Keine Frau verdient, was Nell Sweeney geschieht. Nicht einmal King mit ihrer allgegenwärtigen Scheinheiligkeit.

»Du musst darauf vertrauen, dass ich so schreibe, wie es bei diesen Typen ankommt«, sagt er. »Ich weiß, wie diese Jungs drauf sind.«

»Ja, das ist uns allen bewusst«, antwortet King. »Wir haben deine Posts gesehen, Mark. Wir wissen genau, wie du über Frauen denkst.«

Er will es ihr erklären, doch für so eine Diskussion ist keine Zeit. Die Uhr tickt.

Im Forum sieht er, dass die Benachrichtigung für den Livestream geteilt wurde – und das vielfach. So was spricht sich in der Incel-Gemeinde schnell herum. Bisher scheint es sich allerdings noch nicht auf die Mainstream-Medien ausgeweitet zu haben. Wenn das geschieht, lässt es sich unmöglich noch stoppen.

»Eve«, sagt er strenger als beabsichtigt. »Du darfst mich hinterher in Stücke reißen, wenn du dich dann besser fühlst, aber jetzt haben wir keine Zeit dafür.«

Er sieht, dass ihr keine Erwiderung einfällt und wie frustriert sie deswegen ist. Was für ein schaler Triumph.

»Okay«, sagt er und liest den Entwurf, den er geschrieben hat.

Hey, Alter. Hör mal, ich weiß, dass ich dir schon mächtig auf den Sack gegangen bin, und du hast ja recht, mich zu blockieren. Ich bin eifersüchtig gewesen. Und ich bin Manns genug, es zuzugeben. Da hatte ich versucht, was zu starten – mir einen Namen zu machen –, und dann kommst du und machst alles kaputt. Dein Name wird in die Geschichtsbücher eingehen, mein Freund. Diese Mädchen werden eine Warnung für andere Frauen sein, die denken, dass sie besser sind als wir. Wenn sie mit dem Feuer spielen, müssen sie damit rechnen, sich zu verbrennen.

Jetzt schreibe ich dir als Kumpel. Als so was wie ein Bruder. Am Anfang hattest du mich gefragt, ob ich Lust hätte mitzumachen, und natürlich kannst du jetzt sagen, ich soll mich verpissen, aber echt, das wird episch. Lass mich dir helfen. Nicht dass du Hilfe brauchen würdest, aber bitte. Darf ich mitmachen? Ich wäre zu gerne da, um den Blick der Schlampe zu sehen, wenn du loslegst! Vielleicht brauchst du jemanden, der die Kamera hält – du willst ja nichts verpassen.

Du bist eine Legende, Alter.

Ihm wird schlecht, als er den Text liest, denn seine Kollegen werden es ebenfalls lesen und wissen, dass ein Teil von ihm einst Trost in dieser Gemeinschaft gefunden hat. Aber er kann nicht mehr warten. Er schickt den Text los und lehnt sich zurück. Mit einem mulmigen Gefühl fragt er sich, ob und wann er eine Antwort bekommt. Er kann nur hoffen, dass es nicht zu spät ist und seine Worte genügen.

»Daumen drücken«, sagt er in den Raum, in dem es spürbar an Kameradschaft und Unterstützung mangelt. Er ist bereits aus dem Team ausgeschlossen. Dabei versucht er hier, zu zeigen, dass er kein kompletter Mistkerl ist; doch der Schaden ist angerichtet und irreparabel.

Natalia kann ihn nicht einmal mehr ansehen. Er hat die Enttäuschung in ihren Augen bemerkt, als er sich vorhin einen Kaffee holte, und alle Leichtigkeit, alles Flirten zwischen ihnen war weg. Es war weniger, dass sie ihn ignorierte, sondern eher, dass sie so viel Abstand zu ihm hielt, wie sie nur konnte. Er würde ihr zu gerne sagen, dass die Person in diesen Posts nicht sein wahres Ich ist. Dass sie es ist, die ihn verändert hat, ihn anders denken lässt. Dass sie die ist, die ihn gerettet hat. Dafür will er ihr danken, vermutet indes, dass es zu spät ist und die Dinge zu weit gegangen sind. Sie wird nicht bloß glauben, dass sie besser wäre als er, sondern weiß jetzt ohne den geringsten Zweifel, dass sie es ist.

Es ist schwer, sich nicht elend zu fühlen, auch wenn das Adrenalin ihn bei der Stange hält, als er auf Doires Antwort wartet – und von ganzem Herzen hofft, dass der bald schreibt. Weiß der Himmel, wie viele private Nachrichten Doire heute bekommt. Mark betet, dass er sich Zeit nimmt, sie alle durchzulesen, vor allem, da er nicht seinen ursprünglichen Usernamen benutzen kann. Er hat einen gewählt, der Aufmerksamkeit erregen sollte – BrandywellBoy – nach dem Stadion des Derry City FC . Das sollte signalisieren, dass er von hier ist. Und ausreichen, um Doires Interesse zu wecken.

»Hat der Hubschrauber irgendwas entdeckt?«, hört er Bradley fragen.

»Nein, aber vielleicht fallen jetzt im Dunkeln ungewöhnliche Bewegungen bei Neubauten leichter auf. Wir haben Leute, die Bauanträge für private Neubauten durchgegangen sind, von denen wir bislang nicht unbedingt etwas wussten. Der Hubschrauber fliegt einige von denen gerade ab«, antwortet King. »Sie benutzen Thermografie, um zu prüfen, ob sich jemand in einem leeren Gebäude aufhält.«

»Wichtig ist, dass er weiterkreist. Sagen Sie denen das. Vor allem nach sieben. Machen wir ihn nervös«, sagt Mark. »Obwohl er garantiert jede Art von Aufmerksamkeit genießt. Gute wie schlechte.«

Keiner reagiert, und er wird nervös. Es muss etwas anderes geben, das er tun kann.

»Ist irgendwas bei der Überprüfung der Krankenhausmitarbeiter und dergleichen herausgekommen?«, fragt er, denn eine direkte Frage können die anderen nicht ignorieren.

»Es sind ziemlich viele Leute«, antwortet King, »aber wir arbeiten uns da durch.«

»Haben Sie die Suche eingeengt auf Personen, die schon wegen häuslicher Gewalt, sexueller Nötigung oder so aufgefallen sind?«, fragt er.

»Uns wurde gesagt, dass niemand mit so einer Vorgeschichte bei ihnen eingestellt würde. Das ist ein Rohrkrepierer«, sagt Natalia leise und mit zitternder Stimme. Ihm entgehen die Traurigkeit und Enttäuschung in ihrem Tonfall nicht, und sie bereiten ihm körperliche Schmerzen.

»Es muss mehr geben, das wir tun können«, murmelt er vor sich hin.

»Schade, dass du daran nicht früher gedacht hast«, sagt Natalia, als sie weggeht, und er fühlt, wie seine Stimmung noch mieser wird, als er es für möglich gehalten hätte. Einzig das Aufleuchten einer Benachrichtigung auf seinem Handy – eine private Antwort von Doire – lenkt ihn ab. Sein Herz schlägt ihm im Hals, als er sie öffnet.