Kapitel zweiundvierzig

Er

Donnerstag, 4 . November
18 :45 Uhr

Er hätte sich denken müssen, dass Doire es ihm nicht leicht machen würde. Obwohl Doire, soweit er weiß, keinen Grund hat, Mark zu verdächtigen, Polizist zu sein, wusste er, dass er ihm auf keinen Fall genug Informationen anvertrauen würde, um Nell ohne großes Drama aus dem Höllenloch zu befreien, in dem sie gefangen ist.

Natürlich hat er gehofft, dass Doire es vermasselt, ihm eine Adresse für einen Treffpunkt nennt, vorzugsweise die, an der Nell sich befindet. Dann hätte man einen Rettungseinsatz geplant, alle Funk- und Mobiltelefonnetze lahmgelegt. Das wäre schnell und effizient gewesen.

Aber selbstverständlich ist das nicht geschehen. Eine weitere Antwort von Doire geht ein, und nervös öffnet Mark sie.

Mark,

fahr nach Ebrington, zu der Bushaltestelle in der Limavady Road. Dort holt dich ein Wagen ab. Du musst nicht wissen, wie er aussieht. Der Fahrer erkennt dich. Das ist entscheidend.

Du wirst um 7 abgeholt.

Wenn du zu spät kommst, Pech.

Falls jemand bei dir ist, wirst du zu einem Ziel.

Falls du die Polizei kontaktierst, wirst du als Verräter an deinem Geschlecht gelten und entsprechend behandelt. Glaub ja nicht, ich würde das nicht tun.

Ich habe Leute, die alles beobachten. Das geringste Anzeichen für ein krummes Ding, und du bekommst auch eine Hauptrolle in dem Spiel heute Abend.

Hast du immer noch die Eier dafür?

»Denkst du, er hat wirklich Leute, die beobachten?«, fragt King.

Mark zuckt mit den Schultern. Doire war ihm bisher immer wie ein Einzelkämpfer vorgekommen. Er hat nie jemand anderen erwähnt. Aber das war, bevor dies hier zu wachsen begann.

»Ich bin mir nicht sicher, ob es das Risiko wert ist«, meint er. »Wir müssen annehmen, dass er die Wahrheit sagt.«

»Es wäre wohl auch zu viel verlangt, dass er dich dort trifft, wo er Nell festhält.« King klingt enttäuscht. »Wir müssen dem Wagen folgen. Oder es den Hubschrauber machen lassen.«

»Er sagt, dass ich leiden werde, wenn er verfolgt wird.« Marks Haut kribbelt vor Adrenalin und Angst. Ihm bleiben fünfzehn Minuten, um zu der Bushaltestelle zu kommen, und die reichen gerade für den Weg. Also kann er hier nicht rumsitzen und die beste Strategie planen.

»Wir können Sie da nicht ohne Verstärkung hinlassen«, sagt Bradley. »Wir müssen eben vorsichtig sein. Wenn wir das Kennzeichen bekommen, können wir es durch die automatische Erkennung laufen lassen und haben hoffentlich einen Teil der Strecke. Dann könnte der Hubschrauber in sicherem Abstand bleiben, bis wir sicher sind, dass Sie beide drin sind.«

»Nimm deine Waffe und dein Telefon mit. Und lass die Standortermittlung aktiviert«, fügt King hinzu, und er will die Augen verdrehen. Hält sie ihn für zu doof, um daran zu denken? Und glaubt sie wirklich, dass Doire daran nicht gedacht hat? Er geht davon aus, dass er sein Handy ziemlich schnell loswird. Doire weiß vielleicht nicht, wie man nach einer Waffe sucht, doch kann er das riskieren? Andererseits ist es noch riskanter, ohne irgendeine Form von Selbstverteidigung in diese Horrorshow zu gehen. Er muss es wagen, weil ihm nichts anderes übrigbleibt. Er steckt die Waffe in die Innentasche seiner Jacke. Ihr Gewicht hat etwas Beruhigendes.

»Ich brauche jemanden, der mich hinbringt. Jetzt. Ich darf nicht zu spät kommen.«

»Wir können nicht riskieren, Sie in einem Dienstwagen hinzufahren«, sagt Bradley und blickt sich im Raum um. »Wir brauchen einen Zivilfahrer, der Mark absetzt. Natalia, können Sie das machen?«

Von allen im Raum muss er natürlich ausgerechnet sie aussuchen. Es versetzt Mark einen Stich, ihren angewiderten Gesichtsausdruck zu sehen, weil sie ihm nah sein soll. Aber sie ist eine gewissenhafte Mitarbeiterin und will trotz ihres Abscheus einen guten Eindruck beim Chef machen. Sie hofft, eines Tages selbst zur PSNI zu dürfen und nicht dauerhaft nur als Zivilermittlerin zu arbeiten. »Selbstverständlich«, antwortet sie, aber ihr Tonfall ist barsch.

Mark hat keine Zeit, sich Gedanken über ihren Ton zu machen. Er muss los.

»Fahren wir«, sagt er und steht auf.

»Gut«, sagt Bradley. »Wenden Sie sich an die City Centre Initiative oder irgendwen mit Überwachungskameras in der Gegend. Die Stadtverwaltung wird doch überall in Ebrington Kameras haben, nicht?«

King nickt, und Mark sieht, wie sie nach ihrem Telefon greift und zu wählen beginnt. Er muss hoffen, dass Bradley recht hat. Ebrington war ehedem ein Stützpunkt der britischen Armee, auf dessen Gelände sich heute Büros, Cafés und Plätze für Freiluftkonzerte befinden. Dort sind täglich Hunderte unterwegs, die über die Fußgängerbrücke hinüber ins Stadtzentrum laufen.

Natalia geht stumm voraus zu ihrem Wagen – einem roten Mini. Mark weiß bereits, dass es lächerlich aussehen wird, wenn er sich in das kleine Auto zu falten versucht. Sie grinst nicht und macht auch keinen Scherz über seine Größe, wie sie es gestern oder vorgestern vielleicht noch getan hätte, sondern öffnet nur die Tür und steigt ein.

»Die Bushaltestelle oben in Ebrington?«, fragt sie, als sie den Motor startet und die Scheibenwischer einschaltet.

»Ja, bitte. Vielen Dank«, erwidert er, und dann herrscht nur noch Schweigen. Sie fahren los, und er wünscht sich inständig, er könnte all die Dinge sagen, die er sagen möchte. Dass er Entschuldigungen für ein ganzes Leben in die nächsten zehn Minuten quetschen könnte. Aber er weiß, dass sie die nicht hören will, und er darf nicht in Selbstmitleid versinken, denn er muss sich konzentrieren. Er hat keinen Schimmer, in was er da reinwandert oder ob er wieder rauskommt.

Mark bleibt still, als sie durch die Straßen fahren, über die untere Ebene der Craigavon Bridge und hinauf nach Ebrington. Die einzigen Geräusche kommen von den Scheibenwischern und seinem wummernden Herzen. Er weiß, dass er es nicht versauen darf.

»Bieg bitte hier ab«, sagt er und deutet auf eine Seitenstraße der Limavady Road. »Er soll nicht sehen, dass du mich absetzt. Ich will nicht, dass du in Gefahr gerätst.«

Ihm ist klar, dass sein Akt der Ritterlichkeit nichts wiedergutmacht, aber er ist immerhin etwas. Und er muss es versuchen. Natalia nickt, blinkt rechts und wartet auf eine Lücke im Gegenverkehr, bevor sie in eine schmale Seitenstraße mit Reihenhäusern zu beiden Seiten fährt. Als sie anhält, klappt Mark das Revers seines Jacketts in dem sinnlosen Versuch hoch, sich vor dem dichten Regen zu schützen. Sie mag nicht mit ihm sprechen wollen, aber er blickt sie dennoch an. Er muss ihr Gesicht sehen, und wenn ihre Miene noch so finster ist.

»Auch wenn es nichts bringt«, sagt er. »Es tut mir leid.«

»Nicht halb so sehr wie mir«, entgegnet sie frostig, und Mark steigt aus dem Wagen hinaus in den Regen. Und geht zu dem Treffpunkt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.