Kapitel dreiundvierzig

Marian

Donnerstag, 4 . November
19 :30 Uhr

Seit Nells Anruf kann ich kaum atmen. Das ist die Hölle, und ich stecke mittendrin. Meine Tochter zu hören, wie sie sich anstrengt, tapfer zu klingen, obwohl sie Todesangst aussteht, hat mich gebrochen. Ich versuche, nicht an das zu denken, was dieser Mann getan oder gesagt hat, damit sie mir all das erzählte. Was war sein Motiv? Wollte er sich die Polizei vom Hals schaffen, oder war er bloß außerordentlich grausam? Genoss er es, Nell und mich so verzweifelt zu hören?

Hat er überhaupt an Stephen gedacht? Ist es noch ein anderes Niveau von Grausamkeit, dass er sie absichtlich nicht mit ihm sprechen ließ? Er hatte nicht so reagiert, wie ich erwartete. Kein Brüllen oder Schreien – keine Machtdemonstration vor Heather und mir.

Er hat einfach geweint. Mit bebenden Schultern geschluchzt. In dem Moment hatte ich Mitleid mit ihm, nur würde seine weichere Seite nicht ausreichen, um unsere Ehe zu kitten. Nicht mehr.

Auch Heather weinte, als sie direkt hinterher ihre Vorgesetzten anrief und um Rat fragte. Sie hatte das Telefonat mit ihrem Handy aufgenommen und schickte es ihnen. Uns wurde gesagt, dass sie versuchen, den Anruf zurückzuverfolgen, die Chancen, dass sie den Mann finden, aber minimal seien. Doch sie haben jemanden vorbeigeschickt – einen untersetzten älteren Mann, der kaum spricht, während er seine Ausrüstung auf dem Küchentisch aufstellt, falls sie wieder anrufen.

Instinktiv weiß ich, dass sie es nicht tun werden, und sollte die Polizei Nell nicht aufspüren, wird es das letzte Mal gewesen sein, dass ich mit ihr gesprochen habe. Ich werde mich an ihre zitternde Stimme erinnern, als sie versuchte, mir Hinweise zu geben, dass es ihr nicht gut ging.

Ich frage mich, was er ihr erzählt hat. Nach dem, was sie gesagt hat, weiß sie, dass wir nach ihr suchen. Ich hoffe, sie denkt nicht, dass wir dies jemals hinter uns lassen können. Aber weiß sie von Elzbieta? Hat sie gesehen, was mit ihr passierte? Hat sie Angst, dass es ihr auch widerfährt?

Ich weiß, dass er sie irgendwo gefangen hält, wo es dunkel ist, und dass nicht für sie gesorgt wird. Auf dem Screenshot war ihr Gesicht schmutzig, ihr Haar ungewaschen, und sie trug schäbige Kleidung, die ich nicht kenne. Ich frage mich, ob sie weiß, dass er jenes Video online gestellt hat. Mich schmerzt der Gedanke, dass sie glauben könnte, die Welt würde sich nicht für sie interessieren.

»DC Mark Black ist von einem Mann in einem schwarzen Ford Focus abgeholt worden«, berichtet Heather uns. »Wir glauben, das ist der Kidnapper. Die ANPR versucht zu verfolgen, wohin der Wagen fährt. Der Polizeihubschrauber bleibt auf Abstand, wird aber dazukommen, falls es nötig ist.«

»ANPR ?«, frage ich.

»Die automatische Kennzeichenerfassung«, erklärt Heather. »Eine unserer Zivilermittlerinnen war in der Nähe und konnte das Kennzeichen durchgeben und im System markieren.«

»Also Mark Black, derselbe Mann, der mit Videos anfing, weil es ihm einen Kick verschafft, Frauen Angst zu machen, ist jetzt jemand, dem wir vertrauen sollen?«, fragt Stephen.

Heather wird rot und zuckt mit den Schultern. »Ja, ich weiß, dass es falsch klingt, aber er hatte schon früher Kontakt zu dem Entführer – einem Mann, der den Usernamen Doire69 benutzt. Dieser Doire hat anscheinend versucht, Mark zu seinem Verbündeten zu machen, was der ablehnte. Mark konnte ihn überzeugen, dass er ihm jetzt doch helfen darf bei dem … ähm … Event heute Abend.«

Ich stolpere über das Wort »Event« – als wäre es etwas, worauf man sich freut. Dem man entgegenfiebert. Ich sehe ihr an, dass sie mit ihrer Wortwahl unglücklich ist, bringe es jedoch nicht über mich, etwas zu sagen. Es gibt keinen akzeptablen Ausdruck dafür.

»Und wir sollen darauf vertrauen, dass er tatsächlich tut, was er kann, um ihr zu helfen und nicht diesem Doire? Ich finde nicht, dass man das von uns verlangen kann«, sagt Stephen, und mir fällt auf, dass da keine Wut mehr ist. Sie ist der Verzweiflung gewichen, und das finde ich beinahe noch schlimmer, als ihn zornig zu erleben. Den wütenden Stephen bin ich gewohnt. Diesen nicht. Verzweiflung kommt dem Aufgeben schaurig nahe.

»Natürlich habe ich nicht alle Informationen, doch ich weiß, dass DI Bradley ihn niemals geschickt hätte, wenn er es nicht für das Richtige hielte«, antwortet Heather.

»Soll heißen, dass wir keine Optionen mehr haben und uns die Zeit davonläuft?«, fragt Stephen, und allein es zu hören, bereitet mir körperliche Schmerzen.

»Ja«, sagt Heather. »Ich könnte Sie belügen, aber ja. Das Team tut nach wie vor alles, was es kann, um Nell aufzuspüren und da rauszuholen. Sie werden nicht aufgeben, doch in diesem Stadium sind unsere Optionen begrenzt.«

Ich bin an einem anderen Ort. Es fühlt sich an, als würden mich nicht mehr Sorge und Furcht auf den Stuhl drücken. Ich schwebe über ihm. Und hier möchte ich bleiben. Ich will jede Diazepam nehmen, die ich finden kann, und ich will nicht mehr zurück.