Kapitel vierundvierzig

Er

Donnerstag, 4 . November
19 :30 Uhr

Der Mann neben Mark in dem Wagen hat nichts gesagt, seit er an der Bushaltestelle anhielt und ihm einzusteigen bedeutete.

Mark hat fast zu viel Angst, um ihn direkt anzusehen. Er hat gewusst, dass es ernst und befremdlich würde, indes nicht damit gerechnet, dass ihm vor lauter Nervosität schlecht würde.

Er nimmt an, dass es sich bei dem Fahrer um Doire handelt, kann es aber bislang nicht mit Sicherheit sagen. Er weiß lediglich, dass der Mann trotz der Jahreszeit und des bitterkalten Wetters nur ein T-Shirt trägt. Er hat ein Tattoo, irgendein keltisches Symbol, auf dem Unterarm. Mark ist darin geschult, sich so viele Details wie möglich einzuprägen, deshalb blickt er sich verstohlen um. Das Auto ist blitzsauber. Nichts deutet auf die Identität oder die Gewohnheiten des Fahrers hin. Keine leeren Kaffeebecher. Keine zerknüllten Kassenbelege im Getränkehalter. Nirgends ist ein Handy, ein Navigationsgerät oder eine GoPro, und das Radio ist ausgeschaltet. Hier gibt es nichts, was irgendwelche Rückschlüsse auf den Fahrer zulässt.

Die Stille ist beunruhigend und wird es immer mehr, als der Wagen am Ende der Foyle Bridge in eine Haltebucht einbiegt.

»Hast du ein Handy?«, fragt der Mann.

Mark nickt und nimmt sich einen Moment, um seine Stimme in den Griff zu bekommen. »Hab ich.«

»Dann gib her, Alter«, sagt der Mann. Sein Akzent ist von hier und seine Stimme rau. Als Mark ihn hört, weiß er, dass er es mit dem Kerl zu tun hat, der sich als Doire ausgibt. Er erkennt den raspelnden Klang von dem Video wieder, das er heute Morgen gesehen hat. Er greift in seine Tasche, holt sein privates Handy heraus und reicht es ihm.

»Und das ist dein einziges Telefon?«, fragt Doire. »Oder muss ich dich abklopfen?«

Innerlich flucht Mark. Er muss die Kontrolle behalten und alles tun, damit Doire seine Waffe nicht findet. Wieder greift er in seine Tasche und zieht das Arbeitshandy heraus. Es ist ein älteres Modell, funktional, aber mehr auch nicht.

Doire lacht, als er es ihm abnimmt. »Oh Mann, 2001 lässt grüßen. Die wollen ihr Telefon zurück«, sagt er, bevor er sein Seitenfenster herunterdreht und beide Handys ins Gebüsch wirft.

Mark äußert einen halbherzigen Protest – denn er denkt, das würde ein normaler Mensch tun.

»Das ist mein Abend«, sagt Doire. »Ich muss aufpassen, dass keiner sonst sie aufnimmt und als seine ausgibt, klar?«

»Klar«, antwortet Mark. »Leuchtet ein.«

Doire tippt sich seitlich an die Nase, zieht eine Schachtel Zigaretten aus seiner Brusttasche und steckt sich eine an. »Und es macht es richtig schwer für jeden, uns zu verfolgen. Was wir echt nicht zulassen können«, sagt er und bläst Rauch aus dem Fenster, ehe er Mark einen Zug anbietet.

»Danke, nein«, erwidert Mark gespielt mutig. »Aber hör mal, traust du mir nicht, oder was? Wer zum Geier würde mich denn verfolgen wollen? Der einzige Mensch, den es interessiert, wo ich bin, ist mein Vermieter. Dem schulde ich immer noch 50 Pfund von der Miete für diesen Monat.« Er lacht und hofft, dass es nicht allzu bemüht klingt.

»Ich bin bloß vorsichtig«, sagt Doire mit einem reumütigen Grinsen. »Ich kenne dich ja nicht. Du hast ein Riesenglück, hier zu sein, weißt du das? Eine Menge Leute wären jetzt echt gerne an deiner Stelle.«

»Ja, sicher. Und ich weiß es zu schätzen. Sag mir einfach, was ich tun soll, wenn wir da sind. Du bist der Boss.«

Doire nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette, bevor er seinen Gurt löst.

»Steig aus dem Wagen«, sagt er.

Mark hat sich bereits umgesehen, und es ist nichts in der Nähe, was zu dem Video vom Morgen passt. »Sind wir schon da?«, fragt er.

»Nee, Alter.« Doire öffnet seine Tür. »Ich treffe bloß Vorkehrungen.«

Mark steigt aus dem Auto und blickt nach oben zur CCTV -Kamera an der Straßenlaterne. Er hofft, dass sie die Haltebucht erfasst, auch wenn er es für wahrscheinlicher hält, dass sie auf die vier Fahrspuren über die Brücke ausgerichtet ist.

»Auf uns wartet ein Publikum«, sagt Doire. Mark folgt ihm zu einem dunkelgrünen Nissan Qashqai. Mit einem Knopfdruck ist der Wagen entriegelt. »Spring rein«, sagt Doire. »Wir müssen noch ein kurzes Stück fahren.«

Mark kann es sich nicht leisten, auch nur für eine Sekunde zu zögern. Er muss wirken, als wäre er voll und ganz dabei, auch wenn er sich Sorgen macht. Die ANPR verfolgt den vorherigen Wagen. Es gibt keine Garantie, dass sie den Fahrzeugwechsel mitbekommen haben. Da seine Handys hier sind und der Wagen, in dem sie gekommen sind, verlassen in der Bucht parkt, könnte es sein, dass sich alle Kräfte auf diesen Bereich konzentrieren. Natürlich werden seine Kollegen herausfinden, dass sie getäuscht wurden, aber das wird Zeit kosten, die sie nicht haben.

Er setzt ein Lächeln auf, steigt in den Wagen und lächelt noch breiter, als Doire einsteigt, den Motor startet und das Radio einschaltet. »Mr Brightside« von The Killers erklingt, und Mark wird in den Moment zurückversetzt, in dem alles anfing. Jener erste Abend, als er noch nicht einmal vorgehabt hatte, einer Frau Angst zu machen. Und man schaue sich nur an, was jetzt, wenige Wochen später, daraus geworden ist. Eine Frau ist tot, eine andere in Gefahr. Seine Karriere ist im Eimer. Heute Abend ist ihm nicht danach, aus voller Kehle mitzugrölen, doch als Doire auf dem Lenkrad trommelt und laut und unmelodisch in den Refrain einstimmt, zwingt er sich mitzumachen. In seinem ganzen Leben hat er sich noch nie so ohnmächtig gefühlt.

»Machen wir das verdammt noch mal!«, ruft er, als sie losrasen.