Ich habe mal ein Buch gelesen, in dem der Protagonist, weil er glaubt, bald sterben zu müssen, im Geiste eine Liste seiner Angehörigen und Lieben durchgeht und sich von ihnen verabschiedet. Dasselbe habe ich in den letzten circa zwanzig Minuten probiert, es aber nicht hinbekommen. Ich schaffe es nur bis zu meinen Eltern, was mich derart mit Angst und Schmerz erfüllt, dass ich nicht weitermachen kann.
Ich will mich nicht von ihnen verabschieden, nicht aufgeben. Ich will nicht unkenntlich wie Elzbieta enden. Ich frage mich, ob sie gelebt hat, als er sie anzündete, doch genauso schnell, wie ich mir diese Frage stelle, verdränge ich sie wieder, weil mir übel wird. Nein, so barbarisch wäre er sicher nicht, oder?
Ich versuche, mich möglichst klein zusammenzurollen, wobei das Metall der Kette an den Wundrändern um meinen Knöchel reißt. Mir ist bewusst, dass ich nur noch diese Hölle habe, in der ich im Dunkeln festgehalten werde. Mit einem Minimum an Nahrung. Ohne Wärme. Ohne trockene Kleidung. Angekettet wie ein Tier. Alles tut weh. Ich bin mir ziemlich sicher, dass in einem meiner Finger eine Entzündung einsetzt, den ich mir verletzt habe, als ich am Mörtel der Wände kratzte. Mein Knöchel nässt. Ich kann nicht sehen, was unter der Kette ist, fühle es aber. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass es dort von Maden wimmelte.
Erleichtert stellte ich fest, dass dem nicht so war, doch es währte nur kurz, denn ich war immer noch in einem feuchten Raum am Boden angekettet, und Maden waren wahrscheinlich mein kleinstes Problem.
Es ist still, bis auf das Geräusch des Windes und des Regens draußen. Irgendwo tropft es, wie schon seit meiner Ankunft hier; manchmal tröstet es mich, manchmal möchte ich deswegen schreien. Ich liege auf dem Boden und starre zu der dunklen Stelle unter der Tür, wo tagsüber ein wenig Licht durch den Spalt nach drinnen fällt. Meine linke Gesichtshälfte liegt auf dem eiskalten, körnigen Beton, und kalte Zugluft kriecht über mich hinweg. Ich halte Ausschau nach einer Bewegung, nach irgendeiner Veränderung der Schatten, die mir verrät, dass jemand kommt. Ich horche nach Schritten, dem Geräusch eines nahenden Wagens – das Brummen eines Motors, das Knirschen von Reifen auf Kies, das Knacken und Scharren von Füßen auf kleinen Zweigen, Laub, Steinen und Schutt.
Ich will es hören, denn was immer kommen wird, soll anfangen und vorbei sein. Ich bin es leid zu warten, Angst zu haben, mir auszumalen, wie furchtbar es wird. Für einen Moment legt sich Ruhe über mich. Ich kann das hier nicht ändern, muss es aushalten. Dasselbe habe ich schon Angehörigen von Patienten gesagt, denen mitgeteilt wurde, dass ihr geliebter Mensch nun nur noch palliativ behandelt wird. »Leider kann Ihnen und Ihrer Familie niemand diesen Weg abnehmen. Wir können nur für Sie da sein und Ihnen beistehen.«
Wer ist hier, um mir beizustehen? Ich muss glauben, dass meine Eltern bei mir sind, wenn auch nicht an meiner Seite. Dass Clodagh bei mir ist. Dass meine Freunde und meine Angehörigen bei mir sind. Ein Teil von mir braucht auch Elzbieta hier. Wenn ich sie in meinem Herzen halten kann, kann ich tapfer sein. Oder es zumindest versuchen.
Dann höre ich das ferne Schnurren eines Motors, und die feinen Härchen in meinem Nacken stellen sich auf. Wo immer wir auch sein mögen, es fahren keine Autos vorbei. Die einzigen Male, die ich eines höre, sind unmittelbar vor seiner Ankunft oder nachdem er gegangen ist. Das ist es, denke ich, als der Lärm näher kommt. Lauter wird. Die Zugluft unter der Tür scheint noch kälter zu werden.
Ich blicke mich wieder um, schaue mir die Schatten noch einmal an.
Der Motor geht aus, und ich höre eine Autotür aufgehen, gefolgt von einer zweiten. Da sind murmelnde Stimmen. Definitiv mehr als eine Person. Ich setze mich auf und streiche mir das Haar in der idiotischen Hoffnung zurück, so irgendwie besser, klarer hören zu können.
Schritte. Schwere. Für einen Moment denke ich, es ist gar nicht Eddie. Dass es jemand anders ist – die Polizei vielleicht, die gekommen ist, um mich zu retten. Aber diese Hoffnung stirbt, als sich die Stimmen nähern. Das ist definitiv Eddie. Er lacht, klingt aufgeregt. Der Schlüssel wird ins Schloss gesteckt.
»Das wird irre. Richtig irre. Du lässt die Kamera einfach laufen, okay? Streamst weiter. Es ist alles bereit«, sagt Eddie.
Als die Tür knarrend aufgeht, kommt eine erstickte Antwort von der zweiten Person, dann blinzle ich im grellen Licht, rutsche instinktiv nach hinten und hebe meinen Arm, um meine Augen abzuschirmen.
»Liebling«, ruft Eddie. »Ich bin zu Hause!«