Kapitel achtundvierzig

Marian

Donnerstag, 4 . November

Derry wurde auf einem Hügel erbaut, besser gesagt, auf zwei Hügeln. Einer auf jeder Seite des Flusses Foyle. Deshalb wirkt die Stadt wie ein natürliches Amphitheater und übertragen sich Geräusche hier weiter, als man es für möglich halten sollte, verstärkt durch das Wasser, das Richtung Atlantik fließt.

Wir sitzen in unserem Wohnzimmer, wo nur die schwächsten Lampen brennen, und wagen nicht zu reden. Außer dem Ticken der Uhr und dem leisen Schnurren von Harry Styles, der friedlich neben mir schläft, ist nichts zu hören.

Und dann ist es da. Lärm in der Luft. Das Anschwellen von Sirenengeheul. Mehr als die ein oder zwei Sirenen, die man hier zu jeder Tages- und Nachtzeit hört.

Das Rattern von Polizeihubschraubern.

Es heißt, eine Mutter weiß instinktiv, wenn ihr Kind stirbt. Ich war mir nie sicher, ob ich das glaube, aber mit dem Lärm verändert sich die Luft. Da ist ein Summen von Energie, Kraft, Elektrizität. Ich weiß tief in meinem Herzen, dass es vorbei ist.

Ich falle nicht zu Boden. Ich schreie nicht. Stattdessen sitze ich wie versteinert da und lausche, als sich die Geräusche um mich herum mit dem Pochen meines Herzens vermischen. Wie kann mein Herz es wagen, einfach weiterzuschlagen?

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so dasitze. Es können fünf Sekunden oder fünf Minuten sein. Doch ich bin gefangen in dem Moment, bis ich zur Uhr an der Wand blicke und eine Stimme in mir flüstert: »Zeitpunkt des Todes …«

Stephen murmelt, und ich sehe zu ihm hinüber. Das Band zwischen uns ist längst zerrissen. Er hat das Gesicht in den Händen vergraben, und das schon seit einer halben Stunde. Mir fehlt die Kraft, Mitleid mit ihm zu haben. In mir ist nur Platz für meine eigenen Gefühle.

Ich blicke zu Heather und erkenne selbst in dem dämmrigen Licht, dass sie sehr blass geworden ist. Der untersetzte ältere Polizist, den ich durch die Küchentür sehen kann, starrt auf seinen Computerbildschirm.

Ich stehe auf, und das hat zur Folge, dass Stephen aus seiner Versenkung auftaucht.

»Marian?«, fragt er, und ich bin unsicher, was für eine Reaktion er von mir erwartet.

Stumm steige ich die Treppe hinauf und gehe in Nells früheres Zimmer. Von hier hat man einen Blick über die Stadt nach unten ins Tal. Durchs Fenster kann ich den Verkehr sehen, der sich über die obere Ebene der Craigavon Bridge bewegt. Zwei Löschzüge. Ein Krankenwagen. Zwei Streifenwagen.

Ich setze mich auf die Bettkante und schließe die Augen. Von diesem Moment an ist alles anders.