Harry Styles schnurrt zufrieden auf meinem Schoß. Ich sitze zusammengerollt in einem Sessel im Wohnzimmer meiner Eltern und schaue zu, wie die Lichter am Weihnachtsbaum aufleuchten und wieder erlöschen.
Hier bin ich sicher, bei meiner Mutter, die mich umsorgt. Obwohl sie mir vorgehalten hat, ich würde zu viel Aufhebens um sie machen. Ich schaue hinüber zu ihr. Sie döst mit angewinkelten Beinen im anderen Sessel, mit einem Kissen hinter ihrem Kopf.
Ihre Verwandlung ist erstaunlich. Als ich sie in jener Nacht sah, wirkte sie so alt und als wäre sämtliche Farbe aus ihr gewaschen. Sie war ein Schatten, ein Echo ihrer selbst. Andererseits dürfte ich auch nicht gerade gut ausgesehen haben.
Eine Weile nachdem mich die Dunkelheit umfangen hatte, hatte ich eine Stimme gehört, die immer wieder meinen Namen sagte. Ich zwang meine Augen auf, kämpfte gegen den Wunsch meines Körpers, in der Dunkelheit zu bleiben. Ich hatte es nicht geschafft. Ich war nicht weggekommen. Ich wusste, dass es Eddie oder Mark war, der meinen Namen sagte, und es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie mich aus dem Wagen holten und beendeten, was sie angefangen hatten.
Immer noch benommen rammte ich meinen Fuß aufs Gaspedal, aber der Wagen machte lediglich einen Hüpfer nach vorn, ehe er wieder stehen blieb und die Tür neben mir aufging, sodass überall Glas verteilt wurde. Ich konnte nirgends hin, und laufen konnte ich sowieso nicht.
»Nell, alles gut. Ich bin es, Sam, die Sanitäterin«, vernahm ich eine Frauenstimme. »Wir kennen uns aus dem Krankenhaus. Du bist verletzt, aber wir sind hier, um dir zu helfen. Du bist jetzt in Sicherheit.«
Die Sanitäterin Sam kannte ich gut, ich konnte aber kaum glauben, dass sie neben mir war, als ich die Augen aufmachte. Ich blinzelte, versuchte immer noch, richtig zu mir zu kommen.
»Wo tut es weh? Wie fühlst du dich?« Ich wandte den Kopf zu ihr um. In meinen Ohren schrillte es noch, meine Haut brannte und mein Brustkorb war zu eng. Mir tat alles weh. Sam riss die Augen nur kurz weiter auf, als sie mich richtig sah, dann schaltete sie wieder in den Profi-Modus. Während sie mir noch weitere Fragen stellte, wurde mir bewusst, dass sie wahrscheinlich Antworten wollte, nur war ich so starr vor Schock, dass ich nicht sprechen konnte.
Langsam wurde alles um mich herum klarer. Ich konnte neue Geräusche und Bilder erkennen. Da war blinkendes Blaulicht. Das Stapfen und Knacken von Feuerwehrstiefeln auf Schlamm und Zweigen. Das Knistern von Funkgeräten. Die Rufe von Männern und Frauen, die ihren Job machten. Angst überkam mich. War er da draußen? Eddie. Versteckte er sich unter ihnen? Und Mark? Wussten sie, nach wem sie suchten?
Ich versuchte zu sprechen, aber es kam kein Laut heraus. Mein Kiefer knackte schmerzhaft.
Mir musste die Furcht anzusehen sein.
»Alles okay«, beruhigte Sam mich. »Sie sind tot. Sie sind beide tot.«
Wieder wurde alles schwarz.
Beim Aufwachen im Krankenhaus sah ich die geisterhaften Erscheinungen meiner Eltern, die zu beiden Seiten meines Betts standen. Jeder von ihnen hielt eine meiner Hände so sanft wie möglich, weil sie weder meine Blutergüsse schlimmer machen noch eine der Kanülen versehentlich herausziehen wollten.
»Du bist wieder da«, sagte meine Mutter. Ihre Stimme war Balsam für mein Herz. »Du bist wieder da, und du lebst.« Ich spürte, wie eine Träne über meine Wange rollte und auf meiner wunden Haut brannte.
Mein Vater erklärte mir, ebenfalls unter Tränen, dass es eine Explosion gegeben habe, ausgelöst durch den Funken eines Mündungsfeuers. Aus Mark Blacks Waffe. Detective Constable Mark Black. Keiner kann mit Sicherheit sagen, was genau passiert ist, aber auf den Aufnahmen, die zufällig im richtigen Winkel gemacht wurden, sieht es aus, als hätte Mark Black absichtlich auf die Gasflasche gezielt. Wie auch immer, er hat Eddie gestoppt und mich gerettet.
Er, der alles in jener Nacht losgetreten hatte, als er mir in der Dungiven Road gefolgt war, hatte geholfen, mich zu retten. Er hatte sich für mich geopfert. Ich kann nicht aufhören, an seinen Gesichtsausdruck zu denken, als ich vor dem Gasofen kniete. Das Zeichen, dass ich still sein und zur Tür gehen sollte. Wie er in seine Jacke gegriffen hatte.
Nach seiner Waffe.
Damals konnte ich es nicht verstehen, weil ich zu verängstigt war. Meine Fähigkeit, das Gute in Menschen zu sehen, war vernichtet worden.
Manche feiern ihn als Helden. Meine Gefühle sind komplizierter. Immerhin hatte er alles ausgelöst. Und ich sehe immer noch den Hass in seinen Augen an jenem ersten Abend, als er mir für Internet-Likes Angst einjagte. Da war eine tief sitzende Verachtung in ihm, doch ich denke nicht, dass er deswegen zu sterben verdiente. Elzbietas Tod war schon einer zu viel.
Eddie und Mark können keinen Frauen mehr wehtun, aber mir ist auch allzu bewusst, dass sie nie zur Rechenschaft gezogen werden. Dieser Sieg fühlt sich nicht wie einer an. Ich hätte gern gesehen, wie Eddie vor Gericht in Stücke gerissen wird. Zu gern hätte ich erlebt, wie er für den Rest seines Lebens in einer Zelle verrottet.
Für einige seiner Followers ist Eddie jetzt ein Märtyrer. Das ist für mich am ekelhaftesten. Für sie ist er ein Held. Ich denke, das war wohl von Anfang an sein Ziel. Er muss gewusst haben, dass er niemals ungeschoren davonkäme. Er wollte berühmt sein – tja, der Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Er wird es nur nicht mitkriegen.
Ich darf nicht zu viel über all das nachdenken. Nicht wieder und wieder die Erinnerungen durchspielen oder ins »Was wäre, wenn« verfallen. Aber ich darf sagen, dass Mark Black nicht derjenige war, der mich gerettet hat. Ich habe mich selbst gerettet, mir meinen Weg da raus erkämpft. Das gehört ihm nicht.
Und ich klammere mich daran, wenn mich der Schmerz und die Furcht einholen. Die Woche verfolgt mich zur Genüge, jedes Mal, wenn ich die Augen schließe oder höre, wie sich ein Schlüssel in einem Schloss dreht. Ich frage mich, ob dieses Gefühl jemals verschwinden wird. Es scheint jetzt genauso ein Teil von mir zu sein wie die zahlreichen winzigen Narben auf meinen Armen und in meinem Gesicht von den Glassplittern bei der Explosion.
Jedes Mal, wenn ich aufwache, brauche ich eine Minute oder zwei, um zu begreifen, wo ich bin. Dass ich in Sicherheit bin. Dass mir warm ist. Dass ich überlebt habe. Ich fürchte mich vorm Schlafen, weil ich weiß, dass irgendwann in der Nacht die Panik kommen wird. Aber ich habe meine Mum, die neben mir schläft und meine Hand hält. Die mich beruhigt.
Ich bin noch nicht wieder zu Clodagh gezogen, doch das werde ich. Sobald ich mich dazu imstande fühle. Wir reparieren unsere Freundschaft, und ich werde sie nie wieder für selbstverständlich nehmen. Nie mehr verlangen als Zufriedenheit. Sie besucht mich regelmäßig. Es ist wunderbar, mit ihr an Mums Küchentisch Tee zu trinken und zu tratschen, wie wir es als Teenager gemacht hatten. Da ist immer noch Liebe, auch wenn sie ein wenig angeknackst ist.
Doch fürs Erste muss ich nah bei meiner Mutter sein, und sie braucht mich in ihrer Nähe.
Sie hat mir erzählt, ihr sei in den Tagen, die ich verschwunden war und leicht hätte ermordet werden können, klar geworden, dass es ihr reichte.
Da habe sie sich geschworen, dass ihre Ehe vorbei sei, ob ich jemals wieder zur Tür hereinkäme oder nicht. Wie sie sagte, war ihr der Gedanke, dass er alles sei, was ihr bleibe, unerträglich.
Mein Vater hat nicht mit ihr gestritten. Er gab eine traurige Gestalt ab, als er ging, aber sie ist so viel glücklicher. Die Farbe kehrt in ihr Leben zurück. Erst jetzt erkenne ich, wie lange er sich schon schlimm benommen hat. Und wie viel sie vor mir versteckt hat. Wie vieles an ihrem Alltag vorgespielt war. Ich hatte sie für schwach gehalten, dabei erforderte es in Wahrheit eine beachtliche Stärke, all die Jahre weiterzumachen und einen Mann zu stützen, der ausschließlich sich selbst lieben konnte.
Wir heilen gemeinsam, langsam, aber sicher.
Harry Styles streckt sich und blinzelt mich an, bevor er sich wieder einkuschelt und zu schnurren beginnt. Ich atme aus.