Die Frage geht an mich, und weil ich das nicht gleich kapiere, stößt sie mich mit dem Ellenbogen an, ungeduldig. »Ich sagte, kommen die hier raus oder muss ich den Kaffee drinnen holen?«

»Drinnen holen«, sage ich.

»Geht doch«, sagt sie und redet dann weiter in ihr Handy. »Lass uns andermal weiterreden, ich brauche jetzt einen Kaffee. Wollte ja nur, dass du weißt, dass ich nicht bei Gesa bin. Alles klar.« Sie ließ ihr Handy auf den Tisch fallen.

»Unglaublich«, sage ich. »Ein 3310.«

»Genau«, sagt sie und steht auf. Olivfarbenes Top, darunter gebräunte Schultern und ausgeprägte Bizeps. Tribal Tattoos, die sich vom Oberarm auf die Brust ziehen. Sie trägt keinen BH. »Ein 3310. Und nur dass das klar ist: Das Teil ist heilig.« Sie küsst ihre Fingerspitzen. »Wenn jemand daran herumfummelt, während ich mir kurz einen Kaffee hole, dann kann es sein, dass ich ihm den Arm brechen muss.«

»Schon gut«, sage ich. »Ich rühr dein Teil nicht an. Ich hatte selbst mal so eins. Das vergisst man nie. Ist da noch Snake drauf? Ich war ohne Scheiß der Master of Snake. Ich habe Snake durchgespielt.«

»Das bezweifle ich«, sagt sie und streckt sich. Ihr Gesicht glänzt vor guter Laune und Sommerschweiß, und die dunklen Augen mit den dichten schwarzen Wimpern geben ihr etwas unverhofft Mädchenhaftes. »Ich würde von mir selbst sagen, dass ich nicht unflink mit den Fingern bin, aber ich habe es nie auch nur ansatzweise geschafft. Meines Erachtens ist das überhaupt nicht zu schaffen. Nicht mal Chuck Norris schafft Snake. Aber um deine Frage zu beantworten: Klar ist auf meinem Handy Snake drauf. Da ist auch noch der Währungsrechner drauf.«

Sie geht sich den Kaffee holen. Schwarze Cargohosen, über den Knien abgeschnitten, die Waden fest und sonnengebräunt. Sie trägt Dr. Martens, natürlich, aber nicht blank polierte Dr. Martens, wie sie neuerdings die Psychologiestudentinnen anhaben, sondern abgeranzte, unerbittlich benutzte, bis zum Äußersten gequälte und geknechtete Docs.

Mein Kaffee ist ausgetrunken, die Zigarette geraucht. Ich habe genug um die Ohren. Mein Vater wartet in der Lützow, Kallatzky auch. Was wollen wir mit ihm anfangen? Wie lange wollen wir ihn festhalten? Was soll aus meiner Wohnung in Fennpfuhl werden und wer ist da aus dem dreizehnten Stock gefallen? Ich habe keine Zeit, hier zu warten. Vermutlich schaut auch Krasniqi schon auf die Uhr und fragt sich, ob ich es schaffe, ihm bis zum Abend die zwölftausend vorbeizubringen. Aber ich bleibe einfach sitzen und blicke auf das Handy, bis die Nokiafrau mit ihrem Kaffee wiederkommt. Sie lächelt mit ihren blitzend schwarzen Augen, als sie mich dort sitzen sieht.

»Da ist ja einer richtig sentimental«, sagt sie und stellt ihren Kaffee hin, leckt sich einen Finger, weil sie gekleckert hat. Wischt sich die Hand unter den Achseln ab, ihre Brüste bewegen sich. Ich kriege einen Sonntagmorgenständer, doch das merkt sie nicht, als sie sich wieder neben mich setzt. »Danke, dass du auf mein 3310 aufgepasst hast.«

Marla steht draußen an der Ecke, raucht eine schnelle Zigarette und beobachtet uns mit einem biestigen Zug um den Mund.

»Ich weiß noch, wenn das Handy geladen ist, dann reicht es ewig«, sage ich, um irgendwas zu sagen. »Ich hatte mal mein Akku verloren, das war völlig egal. Der Gerät wird nie müde.«

Die Frau lacht. »Genau, der Gerät wird nie müde, fünfundfünfzig Stunden am Stück, und du kriegst es nicht kaputt.« Ich spüre die Hitze ihres Körpers, atme ihren Geruch ein. Marla wirft die Zigarette auf den Boden, tritt sie mit einer genervten Bewegung aus und verschwindet wieder hinterm Tresen. Die Nokiafrau redet ungerührt weiter: »Du kannst es aus dem Fenster schmeißen, aus dem dreizehnten Stock meinetwegen, und es danach aufsammeln. Sieht aus wie Sau, aber es funktioniert.« Sie steht noch mal auf, um sich Wasser zu holen.

Dann sitzt sie da, breitbeinig, ihre linke Hand liegt im Schritt, und beobachtet mich, die Zungenspitze spielt in ihrem Mundwinkel. Ihre Füße wippen unternehmungslustig.

»Was für einen Klingelton hast du?«, frage ich.

»Ruf mich doch mal an«, sagt sie. »0151 55 223 52.«

Ich hole mein Handy heraus und wähle die Nummer. Ihr Nokia klingelt mit dem Simpsons-Intro. Ich sehe, dass mein Vater mir eine SMS geschickt hat: Wo bleibt der Kaffee? Er ruft nicht gern an, sondern schickt immer nur SMS.

»Oh fuck«, sage ich. »Ich muss los. Tut mir leid. War nett, dich kennenzulernen.«

»Wir haben uns noch gar nicht kennengelernt«, sagt sie. »Entspann dich doch mal. Es ist Sonntagmorgen. Wohin musst du jetzt, in die Kirche?«

»Geschäftlich«, sage ich.

»Nein wirklich«, sagt sie und macht große Augen. »Geschäftlich. Die Alte hält dich auf Trab.« Dann lacht sie und zeigt das kräftigste und weißeste Gebiss, das ich je gesehen habe. Sie schiebt mir das Nokia hin.

»Hast du nicht Bock auf einen kleinen Snake-Vergleich? Ein Zehner, wenn du mich schlägst.« Sie holt einen zerknüllten Zehner aus ihrer Außentasche, in der zwei Cans klappern, und klemmt ihn unter ihre Kaffeetasse. Lange schmale Finger, die Haut tief gebräunt. Ich kann einen Wetteinsatz nicht rumliegen sehen. Konnte ich noch nie. Am wenigsten, wenn ich sicher bin, dass ich ihn mir holen werde. Die paar Minuten kann mein Vater auch noch warten.

»Höherer Score gewinnt?«, frage ich und nehme das Handy, es schmiegt sich warm und schwer in meine Hand.

»Ich mag Männer, die sich Herausforderungen stellen.« Die Frau rückt näher, um die PIN einzugeben, während ich ihr Handy halte. Unsere Köpfe berühren sich, als sie zum Spiel durchdrückt. Sie riecht nach süßem Schweiß und Pfeffer, nach den Chips mit süßem Chili. Ich habe nicht den Eindruck, dass mein Ständer nachlässt.

»Könnt ihr beide vielleicht woanders weiterflirten?« Marla steht am Tisch und zeigt auf unsere Tassen. »Kann ich die dann wegräumen? Wir haben auch noch andere Kunden, die sich gern setzen würden.«

»Flirten? Ich flirte nicht«, sagt die Frau. »Ich sag dir Bescheid, wenn ich anfange zu flirten. Und die Tasse bleibt hier, ich darf nur ganz langsam trinken, hat mein Arzt gesagt.«

»Wir spielen nur«, sage ich. »Sie hat Snake auf ihrem Nokia.«

»Toll«, sagt Marla und geht wieder, der Zug um den Mund wirkt jetzt streng, bitter, er lässt sie alt aussehen.

»Was ist das denn für eine Perlen-Paula?«, sagt die Nokia-Frau und stößt mich mit der Schulter an. »Die kommt aus Zehlendorf her, um den anderen Mädels den Fünfeurojob wegzunehmen, und macht dazu noch den Blockwart. Glaubt sie, ich bin eine Strichnutte mit einem neuen Geschäftsmodell? Näher an den Kunden ran mit der Nokia-Masche. Spielst du mit mir Snake, Schatzie?«

»Sie kommt aus Britz-Süd, nicht Zehlendorf«, sage ich. »Das ist Marla. Sie kann ASMR. Außerdem hat sie dreitausend Follower auf YouTube.«

»Ich sag dir, was die kann, die kann mich mal kreuzweise und ganz gepflegt«, sagt die Frau lachend und hält mir ihre Hand hin. »Ich bin übrigens Romina. Klingt nach Zigeuner, ich weiß. Ist auch so. Meine Eltern kommen aus Rumänien. Ist natürlich nur ein Scheißklischee, doch mein Vater ist wirklich ein Dieb, einer von diesen Klauern im Gedränge auf dem Rummel, auf der Rolltreppe unten am Hermannplatz, in den Neukölln-Arkaden, in der Fußgängerzone Wilmersdorfer, ein solider kleiner Taschendieb, unheimlich flink mit den Fingern, aber doof genug, sich alle paar Monate erwischen lassen. Als ich klein war, habe ich ihn gern im Gefängnis besucht. Ich fand das toll. War stolz auf ihn. Diese geilen Mauern, die ganze riesige Stadt da in Tegel, Seidelstraße, endlose Türen und Summer. Er hat immer gestrahlt, wenn wir kamen. Meine Mutter war stinkig auf ihn, aber ich durfte auf seinem Schoß sitzen, und er hat mir Tricks beigebracht, ich sag dir, er ist ein Magier, immer noch. Keine Sorge, ich klau dir nichts, ich zock nur den Zehner ab, wenn du bei Snake verlierst.«

Ihr Händedruck ist fest. Mit dem Zeigefinger streichelt sie sachte meinen Handrücken. Sie hat es drauf. Krasniqi wartet auf seine zwölftausend Euro, mein Vater hockt mit Kallatzky im Keller, in der Rudolf-Seiffert-Straße springt vielleicht schon der nächste Typ aus dem dreizehnten Stock und hier sitze ich und habe Herzrasen. Wegen einer Frau, die nicht aufhört zu reden.

»Tom«, sage ich und frage mich, wie ich so aufstehen kann, dass sie von der Wölbung der Hose nichts mitkriegt. »Hat mich echt gefreut, Romina. Aber ich muss wirklich los. Lass uns ein anderes Mal spielen. Ich ruf dich an. Mach’s gut.«

»Ist jetzt nicht so, dass du was gegen Zigeuner hast«, sagt Romina und beugt sich vor. Schaut mich an mit ihren tiefschwarzen Augen. »Kann ich gar nicht glauben. Bist du so ein kleiner Rassist im Paisley-Hemd? Das mit den Juden war schlimm, das tut uns voll leid, mit denen wollen wir uns wieder vertragen, aber die Zigeuner müssen leider draußen bleiben, die machen immer nur Stress. Au warte. Jetzt sagt man ja Sinti und Roma, sorry.«

»Meine Güte«, sage ich. »Kommst du öfter mit der Nummer? Ich sag doch, ich habe keine Zeit jetzt. Und ich will dich nur vor dir selbst schützen. Du kennst mich nicht, aber was Snake angeht, bin ich Godfather himself. Ich fülle mit meiner Schlange den Bildschirm aus.«

»Das klingt so schön«, sagt Romina. »Zeig mir das mal. Zeig mir mal deine Schlange, die alles ausfüllt.«

Ich schüttele den Kopf, obwohl ich am liebsten bleiben und für den Rest meines Lebens mit ihr am 3310 spielen will, aber ich gehe rein, um mich von Marla zu verabschieden und noch einen Kaffee für meinen Vater mitzunehmen. Marla schaut mich nicht an, als ich zahle, sie schiebt mir nur den To-go-Becher hin.

»Echt jetzt«, sage ich. »Ich kenne die Frau überhaupt nicht. Verstehe ich nicht, dass du sauer bist.«

»Da bin ich aber mal erleichtert, dass du sie nicht kennst«, sagt sie. »Und ich bin auch nicht sauer. Wieso sollte ich sauer sein, Tom? Ich will nicht, dass die Rumänen hier die Kunden anlabern. Die einen wollen betteln, die anderen wollen Snake zocken, aber meine Kunden brauchen das nicht. Die zahlen hier vier Euro für eine Pistazien-Zitronen-Schnitte, und das will ich nicht aufs Spiel setzen. Wir haben wegen Corona ein verschissenes Jahr lang Außerhausverkauf gemacht, die haben alle anderen entlassen müssen, obwohl wir jeden Tag offen hatten.«

»Ist ja gut«, sage ich.

»Ich habe nichts gegen die Rumänenmädels«, sagt Marla. »Aber die kriegen ihren Kaffee auch drüben bei Hydra.«

»Alles gut«, sage ich. »Da läuft nichts mit ihr, musst dir keine Sorgen machen.«

»Ich und mir Sorgen machen, Tom«, sagt Marla und zeigt mir den Mittelfinger. »Als ob ich diejenige bin, die sich Sorgen machen sollte.«

Mit dem Kaffee laufe ich die Pohlstraße runter, auf kürzestem Weg zum Maggi-Haus. Nach wenigen Schritten merke ich, dass Romina hinter mir herkommt. Die Cans klappern in den Außentaschen ihrer Cargohose. Sie strahlt und winkt mir zu. Unwillkürlich muss ich lächeln.

»Kann ich noch mitkommen?«

»Nein«, sage ich.

Sie holt trotzdem auf. »Ich mag dich, weißt du. Ich finde das süß, wie du lächelst, wenn du mich ansiehst. Ich würde dir gern einen Rat geben.«

»Keine Zeit«, sage ich. »Das ist im Moment wirklich ganz, ganz schlecht.«

»Ach das geht ganz schnell«, sagt sie. »Du lässt mich mitkommen oder ich bring dich zur Gesa. Mehr Optionen hast du eigentlich nicht.«

»Was soll der Quatsch«, sage ich. »Gesa kenn ich nicht. Wenn du Probleme hast, hör einfach auf mit den Pillen.«

Sie lacht. »Sorry. Das ist echt meine Schuld. Passiert mir jedes Mal. Ich mache irgendwas falsch beim Kennenlernen. Aber mal ernsthaft, ich bin Bulle und du bist vorläufig festgenommen, wenn wir uns hier nicht verständigen.«

Ich bleibe stehen mit dem heißen Kaffeebecher in der Hand und muss zusehen, dass ich nichts verschütte, als ich laut herauslache. Sie bringt den Spruch so trocken. »Willst du mich verarschen? Du und Bulle?« Ich kriege mich überhaupt nicht mehr ein.

»Dein Name steht an deiner Tür im dreizehnten Stock der Rudolf-Seiffert 33, Tom Lohoff«, sagt Romina. »Das war echt nicht schwer, dich zu finden. Wir waren schon bei David, und der war nicht so happy, uns zu sehen, das kann ich dir sagen. Es hat ihn auch nur unwesentlich beruhigt, dass wir deinetwegen gekommen sind. Er meinte, du hättest Schulden bei ihm. Ich korrigiere mich, nicht nur bei ihm, sondern überall. Aber das interessiert uns nicht so, was du mit deinem Geld machst. Uns interessiert, was du mit deiner Wohnung machst. Mit der in Fennpfuhl, aus der Leute rausfallen am frühen Sonntagmorgen.«

Neben uns hält ein weißer Tiguan Allspace mit getönten Scheiben. Jemand am Steuer winkt uns zu. Ich winke nicht zurück, meine Hände mit dem Kaffee zittern jetzt, und mir ist kalt. Ich sehe die kleine Person mit der kraftvollen Gestalt vor mir stehen, und jetzt erkenne ich, dass sie diese unverkennbare Polizistenpräsenz hat. Sie weiß sich zu bewegen, hält genau den Abstand, den sie haben will, ihr Körper ist locker, doch bereit.

»Mein Kollege«, sagt Romina. »Du musst ihn mal kennenlernen. Er ist total süß.«

»Ich habe nichts getan«, sage ich. »Ich war einfach nur Kaffee trinken und gehe jetzt nach Hause. Das ist ein ganz blöder Irrtum, ich wollte dich nicht anmachen, ich dachte, wir haben uns einfach nur gut verstanden mit dem Nokia. Tut mir leid.«

»Na klar hast du nichts getan«, sagt sie. »Du gehst aber in die andere Richtung nach Hause. Und du hast einen Kaffee dabei, der allmählich kalt wird, auch wenn deine Hände so schön zittern.«

»Der ist für meinen Vater«, sage ich und gehe weiter.

»Weißt du, deinen Vater würde ich gern mal kennenlernen«, sagt sie und bleibt neben mir, wie ein streunender Hund, der hofft, dass man ihn adoptiert. Der Tiguan rollt neben uns her. »Du kannst auch meinen kennenlernen, aber dann musst du dir vorher die Taschen zulöten, der hat immer noch sehr flinke Finger.«

»Was war denn da los in der Wohnung in Fennpfuhl?«, sage ich, um Zeit zu gewinnen.

»Wissen wir nicht«, sagt sie. »Wir ermitteln. Und natürlich können wir mit Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen auch keine Auskünfte geben. Aber mal unter uns: Da ist einer aus dem Fenster gefallen.«

»Schande«, sage ich.

»Allerdings«, sagt sie. »Wirklich eine Schande. So ein junges Leben. Und man weiß nicht, hatte er Probleme, hatte er Streit, hat er die falschen Drogen genommen? Wir gucken uns das an. Dazu sind wir da. Deine Polizei.«

»Ich weiß«, sage ich, »mein Vater war auch Polizist.«

»Wieso war?«, sagt sie. »Lebt der nicht mehr? Ich dachte, du bringst ihm einen Kaffee.«

»Sie haben ihn rausgeschmissen damals«, sage ich. »94. Wegen angeblicher Stasi-Tätigkeit, aber er war nie bei der Stasi. Das hat ihn richtiggehend fertiggemacht. Gebrochen. Der war gerade vierzig, hat sich nie wieder aufgerappelt.«

Romina macht einen runden Mund und große Augen. »Hat sich nie wieder aufgerappelt, der Arme. Muss man mal pusten vielleicht. Heile, heile Segen, sieben Tage Regen, hat meine Mutter immer gesagt«, sagt sie. »Sieben Tage Sonnenschein. Jetzt bleib doch mal stehen, ich komme ja kaum hinterher.«

»Ich denke, deine Mutter war Rumänin«, sage ich. »Wie kommt die auf heile, heile Segen.«

»Was bist denn du für einer«, sagt sie. »Höre ich da einen Hauch Alltagsrassismus heraus? Meine Mutter hat sich gut integriert. Wir haben ständig deutsche Kinderlieder gesungen, deutsche Volkslieder rauf und runter, deutsche Märchen gelesen, bis es mir zu den Ohren wieder rauskam. Grimms Märchen. Ich könnte heute noch kotzen im Strahl. Ganz im Ernst: Ich habe als Polizeibeamtin einen Eid auf das Grundgesetz geschworen und ich bin dankbar, was dieses Land mir gegeben hat und jeden Monat an mich abdrückt, aber wenn wir von Märchen sprechen, dann muss ich echt sagen, dass Grimms Märchen nicht an unsere Zigeunermärchen rankommen, aber auch nicht annähernd. Hast du mal Zigeunermärchen gelesen? Du schmeißt dich weg. Die sind der Hammer.«

Der weiße Tiguan ist immer noch neben uns. Ich überlege hektisch, während ich ihr mit halbem Ohr zuhöre und auch zuhören will, weil ich tatsächlich auch in meiner Kindheit Zigeunermärchen gelesen habe und weil ich ihre Stimme mag, also ich überlege gleichzeitig, ob ich nicht einfach wegrennen soll. Den Kaffee fallen lassen und die Beine in die Hand nehmen. Einfach verschwinden. Mich in Luft auflösen. Wenn sie wirklich Polizistin ist, sitze ich jetzt in der Scheiße. Wir biegen aus der Körnerstraße in die Lützow ein, sind nur noch wenige Schritte vom Maggi-Haus entfernt. Romina überholt mich.

»Ich weiß auch nicht, warum ich immer so viel rede«, sagt sie. »Niemand nimmt mich ernst, jeder schaltet auf Durchzug. Dabei will ich dir nur sagen, dass heute dein Glückstag ist. Und das meine ich so: dein Glückstag. Wegen mir.« Sie zeigt mir ihre Marke.

Ich bleibe stehen. »Was ist das nun wieder? Erst die Nummer mit dem Nokia, jetzt so eine Fake-Marke. Lass mich doch einfach in Frieden und geh deiner Wege.«

»Meine Wege sind deine Wege«, sagt Romina. »Wo ich hinwill, da willst du auch hin. Also bleibe ich bei dir. Habt ihr Kallatzky? Nein, habt ihr wahrscheinlich nicht. Der Kaffee ist für deinen Vater, wenn ihr Kallatzky hättet, dann würdest du zwei Kaffee mitbringen. Oder hast du dich über Kallatzky geärgert und willst ihn abstrafen? Wenn du mit deinem Papa allein bist, dann ist doch alles gut. Dann klären wir nur, wieso du den beiden Jungs die Wohnung in Fennpfuhl vermietet hast, und ihr habt noch einen richtig schönen Sonntag, du und dein Papa, so bonding, weißt du. Das ist wichtig für ihn, dass sein Sohn zu ihm hält, wenn die Polizei ihn rausgesetzt hat wegen Stasi.«

Ich stehe da und sage nichts. Ich habe verkackt. Sie wissen alles.

»Was bleibst du stehen«, sagt sie. »Der Kaffee wird kalt.«

In meiner Tasche surrt das Handy. »Der ist schon kalt.«

»Meine Schuld«, sagt Romina und legt eine Hand auf ihre Herzgegend. »Ich rede zu viel. Ich rede immer. Vermutlich will ich damit meine Unsicherheit überspielen oder so, keine Ahnung, aber es führt dazu, dass die Leute keinen Respekt vor mir haben, mich nicht für voll nehmen. Und dann wird ihnen der Kaffee kalt. Ich mache einfach alles falsch.«

»Ich weiß wirklich nicht, wo Kallatzky ist«, sage ich. »Keine Ahnung.«

»Prima«, sagt sie. »Das ist super. Ich wusste, dass du nicht mit drinsteckst. Du bist überhaupt nicht der Typ für so was, das habe ich auch meinem Kollegen da gesagt.« Sie zeigt auf den Tiguan, und durch die getönten Scheiben kann ich sehen, dass der Mann am Steuer einen Salut andeutet. Er weiß, dass wir über ihn reden. »Er meint, dass du da voll drinsteckst«, fährt sie fort. »Dass du raus bist mit Kallatzky, während die anderen beiden sich aus dem Fenster geschmissen haben.«

»Die sind beide rausgesprungen?«, frage ich.

»Immer schön langsam«, sagt Romina. »Mach mal nicht die Pferde scheu. Ich habe nur gesagt, dass er hier gesagt hat, dass du mit drinsteckst. Ich habe gesagt: Tom Lohoff? Das ist eher so ein Hausmeistertyp, wenn du mich fragst. Mehr so ein Handlanger, habe ich gesagt. Ein Lellek. Sorry. Da kannte ich dich noch nicht und wusste nicht, was für ein attraktiver junger Mann du bist. War so meine Intuition, weißt du, wir Roma fühlen so was. Und wenn du jetzt sagst, dass du keine Ahnung hast, wow, dann atmen wir jetzt alle mal durch, geil, alles easy. Dann machen wir jetzt eine Vernehmung und du gehst nach Hause, und das war es dann.« Sie zwinkert mir zu. »Und vielleicht treffen wir uns wirklich mal für eine Runde Snake. Privat, meine ich. Würde mich total interessieren, was du draufhast mit der Schlange, die alles ausfüllt, wie du so schön formuliert hast.«

»Gut«, sage ich. »Können wir gern so machen.«

»Erst noch den Kaffee abliefern«, sagt sie. »Ich möchte gern deinen Vater kennenlernen, mich vielleicht entschuldigen im Namen der Berliner Polizei wegen der Stasi-Sache.«

»Nicht nötig«, sage ich.

»Doch«, sagt Romina. »Die paar Schritte. Mein Kollege wartet so lange im Auto. Der wartet gern. Macht dem gar nichts. Thorben ist so ein Lieber, weißt du, hat für alles Verständnis.«

»Und wenn Kallatzky vielleicht doch dabei wäre?«, sage ich. »Mal ganz hypothetisch.«

»Müsste man überlegen«, sagt sie und fährt sich durchs schwarze Haar. »Ob man die Kavallerie holt, Hundertschaft anfordert oder SEK-Einsatz mit allem Pipapo. Könnte man machen, die Steuergelder sind ja dafür da. Dann wäre hier mal für ein paar Stunden die Hölle los, das kann ich dir sagen. Wo die rumtrampeln, wächst eine Weile kein Gras mehr. Müsste man halt überlegen, ob man das will.«

»Oder?«, frage ich.

»Oder kurzer Dienstweg«, sagt sie. »Schnellbesohlung. Geht natürlich auch. Wir machen keine große Sache draus, Thorben und ich begleiten dich, du stellst uns vor, wir kümmern uns dann schon. In fünf Minuten sind wir raus. Ist natürlich nicht so spektakulär. Keine Sensation. Keine tollen Bilder für die Medien, die seit gestern wegen Kallatzky durchdrehen. Endlich mal was anderes als der ewige Corona-Scheiß und Klimawandel und Dürre im Sommer. Eine echte Entführung! Kurz vor den Wahlen! Hast du eine Ahnung, was die Bildzeitung zahlt für einen Hinweis, wenn eine Aktion vom SEK ansteht und sie rechtzeitig ihre Fotografen hinschicken? Das willst du gar nicht wissen. Von dem her wäre das fast besser, wenn wir das jetzt quasi unter uns machen würden. Andererseits hat der Steuerzahler auch ein Anrecht darauf, dass wir bei der Polizei mal ordentlich auf die Pauke hauen. Der Bürger will auch was sehen für sein Geld, eine Gegenleistung. Und die Kostenstelle will das eigentlich auch. Wenn wir die eingestellten Gelder nicht bis Jahresende ausgeben, heißt es gleich, die brauchen diese Ausstattung gar nicht, das kürzen wir jetzt weg. Deshalb wäre ich persönlich doch für den großen Auftritt.«

»Okay«, sage ich. »Okay.«

»Was okay«, sagt Romina. »Du hast eine Frage gestellt, ich habe dir die Optionen aufgezeigt, und zwar so kurz und präzise, wie es mir möglich ist. Aber du hast gefragt und ich wollte dir eine ergiebige Antwort geben. Okay?«

»Ich habe ihn«, sage ich. »Also, mein Vater und ich.«

»Ihr habt ihn«, sagt sie und nickt ihrem Kollegen zu.

»Kallatzky«, sage ich.

Der Kollege steigt aus dem weißen Tiguan und kommt auf uns zu. Ein durchtrainierter, gutaussehender junger Mann.

»Kuck mal, das ist Thorben«, sagt Romina. »Sieht der nicht super aus? Ich denke das jedes Mal, wenn wir zusammen losziehen. Du solltest mal die Frauen sehen, wie die auf ihn abgehen. Und wenn ich nicht ein Gelübde abgelegt hätte, niemals was in der Firma anzufangen, dann würde ich genau wie die anderen Frauen auf Thorben abgehen. Der hat nicht nur äußerlich was zu bieten, sondern auch ein gutes Wesen.«

»Das ist wichtig«, sage ich.

Thorben sagt nichts, sondern zeigt uns seine Handflächen, um zu fragen, was jetzt Phase ist.

»Das ist Tom«, sagt Romina. »Dem die Wohnung gehört. Tom ist nett, er hat Verständnis für unseren Job. Ich habe Tom ein bisschen das Ohr abgekaut, jedenfalls hat er gesagt, wo sein Vater und Kallatzky sind.«

»Die sind in einem Übungskeller«, sage ich. »Im Maggi-Haus, dritter Hof. Ich habe den Schlüssel. Die Tür klemmt ein bisschen.«

»Na dann mal los«, sagt Romina. »Nicht dass wir uns hier noch verquatschen.«