Das eiserne Tor schwingt quietschend auf. Nachdem wir die schattige Einfahrt passiert haben, schließt es sich wieder. Der erste Hof ist leer. Romina und Thorben haben die Hand auf der Dienstwaffe, sie gehen hinter mir, fast Schulter an Schulter.
Im zweiten Hof steht in einer Ecke ein übermüdeter Korrekturleser, der Zigarettenpause macht und Zeitung liest.
»Alles klar?«, fragt er.
Wir antworten nicht. Die Lützowstraße mit ihrem unregelmäßigen Autoverkehr scheint jetzt weit entfernt zu sein, hier ist es gespenstisch still, bis auf den Korrekturleser, der seine Zeitung umblättert und leise hustet.
Vom dritten Hof her kommen gedämpfte Rufe, Männerstimmen im Streit. Romina und Thorben überholen mich, weisen auf die Kellertreppe, der zum Übungsraum führt, ich nicke. Deutlich sind jetzt die Stimmen von Kallatzky und meinem Vater zu hören, dann ein scharfes Klatschen. Wir laufen die Treppe herunter. Romina positioniert sich neben der Tür, der Kollege dahinter, ich schließe auf.
»Ich bin’s«, sage ich in den Raum und hebe den Coffee-to-go in die Höhe. »Hat etwas gedauert, sorry.«
Mein Vater steht breitbeinig vor Kallatzky, mit erhobener Hand, er will ihm eben die zweite Maulschelle geben. Kallatzky hat die Schultern zusammengezogen, die Hände zum Schutz vors Gesicht gepresst. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ihm das nichts nutzen wird. Mein Vater ist nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, doch wenn man ihn genug getriezt hat, ist er nicht mehr aufzuhalten.
»Was sagst du?«, brüllt er. »Was war das?«
Romina rammt mich zur Seite, der Kaffeebecher rutscht mir aus der Hand und klatscht auf den Boden.
»Auseinander da und die Hände schön nach oben, das will ich jetzt sehen, Hände nach oben«, schreit sie. Ihre Stimme ist druckvoll, sie füllt den niedrigen Raum. »Hände nach oben, aber ganz schnell.«
Beide Männer gehorchen sofort. Rominas Kollege sagt nichts. Er ist eher der Macher, rennt auf der anderen Seite des Raumes an der Wand entlang, stößt dann vor zu meinem Vater und bringt ihn zu Boden. Thorben drückt ihm ein Knie in den Rücken. Mein Vater stöhnt.
»Hör mal«, sage ich, »das ist ein alter Mann.«
»Die Acht«, sagt Romina, »gib ihm die Acht.«
»Hände auf den Rücken«, sagt Thorben. Reden kann er also. Mein Vater liegt mit abgewandtem Gesicht auf der Auslegware und bringt seine Hände auf dem Rücken zusammen. Thorben legt ihm Handschellen an.
Von Kallatzky kommt ein heiseres Lachen. Er sitzt immer noch wie verwurzelt auf dem Stuhl, den wir ihm vor Stunden hingeschoben haben. Ihm ist keine Müdigkeit anzumerken, er scheint die Situation zu genießen, ist ganz in seinem Element. Seine erhobenen Hände wirken wie eine ironische Geste, telegen.
»Ist ja schön, dass Sie sich auch mal blicken lassen«, sagt er, die Mundwinkel spöttisch heruntergezogen. »Den Jungen können Sie auch gleich mitnehmen, der gehört dazu. Feiner Bengel, der den eigenen Vater verrät.«
»Eins nach dem anderen«, sagt Romina. »Sind Sie verletzt? Können Sie sich bewegen?«
»Mir geht es gut«, sagt Kallatzky. »Schon tragisch, wenn man sieht, was aus den Ostdeutschen geworden ist. Damals Stasi, heute Linksterroristen. Das lässt sich der Merkelstaat gern gefallen. Wenn sie auf AfD-Politiker losgehen, dann lässt die Polizei sich viel Zeit.«
»Wir sind doch da«, sagt Romina. »Da können Sie sich doch auch mal freuen. Und einfach mal Danke sagen.«
Kallatzky nickt von oben herab. »Ich freue mich ja. Wirklich. Zwei Beamte haben sie geschickt. Alle Achtung. Haben Sie überhaupt Waffen dabei?«
»Haben wir«, sagt Thorben.
»Schön«, sagt Kallatzky. »Aber die auch mal einzusetzen, dafür reicht es dann nicht. Wahrscheinlich haben Sie Angst vor dem Disziplinarverfahren, das Ihnen bei Waffengebrauch droht. Das wird definitiv anders, wenn wir in der Koalition sitzen, das verspreche ich Ihnen. Ich will nicht undankbar sein, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber in so einer Situation, wenn man tagelang den Linksterroristen ausgeliefert ist, da geht einem doch einiges durch den Kopf.«
Thorben hat hektische Stimmen über Funk am Ohr, er sagt: »Dieses Tor am Eingang, wie geht das auf? Die Jungs wissen nicht, wie sie reinkommen, das würde Stunden dauern, wenn sie mit schwerem Gerät das Tor aufbrechen.«
»Ich kann ihnen aufmachen«, sage ich.
»Da komme ich mal lieber mit«, sagt Thorben, »nicht dass da jemand nervös wird.«
»Hast du denen doch Bescheid gesagt?«, sagt Romina. »Ich dachte, wir ziehen das hier allein durch.«
»Habe ich«, sagt Thorben. »Besondere Einsatzlage. Die freuen sich, wenn sie auch mal rauskommen an die frische Luft.«
Etwa fünfzehn Einsatzpolizisten stehen auf der Lützowstraße in voller Kampfmontur. Der Einsatzleiter lehnt am Eisengitter, kaut seinen Kaugummi. Thorben begrüßt ihn, während ich das Tor mit dem Innenschalter aufspringen lasse.
»Alles in deutscher Hand«, sagt Thorben. »Kollegin Winter sichert den Ort. Der Geisel geht’s gut.«
»Kollegin am Tatort alleingelassen, das haben wir gern«, sagt der Einsatzleiter. »Typisch Kripo, keine richtige Polizei.«
»Den Spruch habe ich schon länger nicht mehr gehört«, sagt Thorben.
Auf eine Handbewegung des Einsatzleiters hin setzen sich die Polizisten in Bewegung, in Fünfertrupps marschieren sie durch die Einfahrt, sichern den ersten Hof. Dann rücken sie vor in den zweiten Hof, kontrollieren die Aufgänge. Auch wenn sie nichts sagen, der Tritt ihrer Stiefel und die knappen Befehle des Leiters ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Der Korrekturleser neben dem Schlaraffia-Kellereingang verfolgt die konzertierte Aktion.
Thorben zündet sich eine Gauloise an, wir spazieren hinter den Einsatzkräften her, die sich in den dritten Hof vorarbeiten. Neben uns taucht eine schwergewichtige Gestalt auf und zeigt einen Presseausweis vor. »Was ist hier los?«
»Einsatz«, sagt Thorben. »Gehen Sie mal ganz schnell wieder auf die Straße.«
»Kallatzky-Entführung?«, fragt der Reporter. »Habt ihr sie endlich?«
»Lassen Sie die Kollegen ihre Arbeit machen«, sagt Thorben. »Dann kommt ihr auch dran.«
»Man wird ja wohl noch fragen dürfen«, sagt der Reporter.
»Darf man.«
»Und? Irgendwelche Anhaltspunkte? Was ist hier los?«
»Warten Sie draußen auf der Straße«, sagt Thorben. »Und ich sage das nicht noch mal.«
Wir erreichen den dritten Hof, in dem sich jetzt die Polizisten drängen. Sie bilden ein enges Spalier für Romina, die meinen Vater die Kellertreppe hochführt. Er geht gebeugt, man sieht sein Alter am schleppenden Schritt. Seine Hände sind hinter dem Rücken mit Handschellen fixiert. Die Germina-Turnschuhe sind einfach nur wack.
»Lass ihn mal kurz von der Leine«, sagt ein Polizist und zückt eine signalgelbe Waffe. »Nur ganz kurz. Ich würde hier gern mal deeskalierend eingreifen.«
Seine Kollegen lachen. Einer von ihnen zeigt mir sein neues Gerät.
»Sieh an«, sage ich und wundere mich. »Taser. Ich dachte, die sind hier verboten.«
»Wir nennen sie Distanzelektroimpulsgeräte«, sagt er. »Eine sehr geile Sache, wir hatten grad ein Einführungsseminar zum vernünftigen Gebrauch. Damit können wir Konfliktsituationen deutlich entspannen. Wenn der Kamerad jetzt einen Angriff starten würde, sage ich mal hypothetisch, könnten wir hiermit ein Signal für konsequentes Auftreten geben.«
»Was bringt die denn?«, frage ich.
»Fünfzigtausend Volt«, sagt er. »Wenn du die in den Körper eines Angreifers jagst, ist er erst mal außer Gefecht, er kippt dann einfach vornüber, alle Muskeln sind vorübergehend gelähmt. Kannst du dir auf YouTube ansehen, die amerikanischen Kollegen haben sie schon seit Jahren und setzen sie auch gern ein. Ich kann mir diese Videos endlos ansehen. P. Barnes ist mein Held. Nein, also ich bin froh, dass wir damit ausgerüstet worden sind, bei all den Pennern und Idioten da draußen, man traut sich als Polizist ja kaum noch auf die Straße.«
Mein Vater schleppt sich weiter, ohne aufzuschauen, in diesem Moment tut er mir leid. Ich schäme mich dafür, dass ich die beiden Kripo-Leute hergeführt habe. Sie hätten mich überhaupt nicht ansprechen müssen, waren doch ohnehin auf meiner Spur, hätten uns und Kallatzky auch so gefunden. Jetzt wird mein Vater abgeführt, als wäre er der Hauptschuldige.
»Tut mir leid, dass ich so spät war«, sage ich. »Es ist irgendwie anders gelaufen, als ich wollte.«
Er schaut mich nicht an.
Der ganze Tross setzt sich in Bewegung zurück zur Lützowstraße.
»Dort wartet die Presse«, sagt Thorben zu meinem Vater. »Besser, Sie sagen nichts.«
Romina wirft ihm ihre Jacke über den Kopf. »Wir nehmen euch beide mit ins Präsidium. Wir müssen reden.«
Kallatzky geht erhobenen Haupts durch die Höfe zurück zur Lützowstraße, flankiert von den Einsatzbeamten in Kampfmontur. In der Toreinfahrt flammen die ersten Blitzlichter auf, Journalisten strecken ihm ihre Handys entgegen, Kamerateams sind da. »Können Sie etwas sagen, bitte? Wie fühlen Sie sich jetzt?«
Kallatzky reckt ihnen beide Hände mit dem Victory-Zeichen entgegen, hält eine Rede, die er offenbar schon vorbereitet hat. »Ich möchte den Berlinern danken, die in diesen schweren Stunden meine Partei und meine Familie und mich unterstützt haben. Es ist hohe Zeit, dass Ruhe und Ordnung einkehren. Es ist Zeit, dass wir uns das Land zurückholen. Wir werden den absurden Irrsinn der linksterroristischen Gewalttäter, die von diesem Senat gebilligt und teilweise finanziert werden, nicht länger hinnehmen. Unsere Politik wehrt sich gegen den erweiterten Suizid dieser Stadt und dieses Landes. Wir sagen der Bevölkerung: Wacht auf aus dem Koma der stillschweigenden Duldung und geht zur Wahl. Wir benötigen jede Stimme. Je länger der Patient die dringend notwendige Operation verweigert, desto härter werden zwangsläufig die erforderlichen Schnitte werden, wenn sonst nichts mehr hilft. Das deutsche Volk braucht uns, um zu gesunden, geben Sie uns Ihre Stimme!«