Der Gefangenentransporter muss vor dem Einfahrtstor warten, die Stahltüren öffnen sich nur langsam, widerwillig. Wir fahren ein. Die Stahltüren schließen sich hinter uns. Das riesige Gebäude der Justizvollzugsanstalt Moabit wirkt mit seinen ausgreifenden Flügeln wie ein Krake und ist noch trotz der Nacht und den Morgenstunden so aufgeladen von der monatelangen Hitze, dass es aus jeder Mauerpore schwitzt.
Als wir auf dem Hof aussteigen, blicken uns Hunderte von vergitterten Fenstern an. An manchen hängen Plastikbeutel, hinter anderen sind Köpfe zu sehen, fast überall brennen Lichter. Alle sind schon wach, es ist halb sieben.
Wir sind nur noch zu acht. Ronny steht vor mir in der Reihe, blickt sich nicht um. Eigentlich, das rede ich mir nachdrücklich ein, gehöre ich nicht hierher. Das ist nur mein Job; ich erledige einen Auftrag. Ich habe es Romina versprochen, Ronny wenn möglich auszuhorchen. Genau genommen bin ich undercover hier.
Die Prozedur der Aufnahme geht rasch, routiniert vonstatten: Papiere, mitgeführte Gegenstände, Entkleidung, Arme hoch, Hose runter, Inspektion der Mundhöhle und des Afters. Die Justizvollzugsbeamten sind müde und ruppig. Wieder anziehen. Abmarsch zur Zelle. Neonlicht auf den Gängen.
Das Haus ist mehr als hundert Jahre alt, enge Flure, in denen mürrische Männerstimmen widerhallen, von gusseisernen Balustraden abprallen. Es riecht nach Kohl und Schimmel. Es stinkt nach Schweiß und mühsam unterdrückter Wut. Auf allen Stockwerken sind Stahlnetze über den Treppenschacht gespannt.
»Frühstück ist schon vorbei«, sagt der Vollzugsbeamte. »Mittagessen dann um elf Uhr dreißig.«
»Ich habe seit zwanzig Stunden nichts gegessen«, sage ich.
»Tut mir sehr leid«, sagt er und sperrt die Zellentür auf. »Das ist hier kein Hotel. Und das Bett müssen Sie auch selber machen.«
Ronny und mir wird eine gemeinsame Zelle zugewiesen, Doppelbelegung wegen eines möglichen Haftschocks. Zehn Quadratmeter, Etagenbett. Tisch, zwei Stühle, Waschbecken und Toilette von einer dünnen Wand abgeteilt. Kleines Fenster, durch das wenig Tageslicht kommt. In der Zelle steht die Luft, sie ist aufgeladen von den Ausdünstungen von Hunderten und Tausenden ruheloser Männer.
»Ich liege oben«, sagt Ronny. »Unten kriege ich keine Luft.«
»Wir kriegen eine Stunde im Hof, wenn ich das richtig verstanden habe«, sage ich und setze mich auf das untere Bett. Konversation machen. Vertrauen gewinnen. Wir sitzen doch im selben Boot. »Den Rest des Tages sollen wir hier sitzen und warten. Da werde ich verrückt, das kann ich dir gleich sagen.«
»Nachmittags ist Umschluss«, sagt er. »Da stehen zwei Stunden lang die Türen offen in jedem Trakt.« Seine nuschelnde Aussprache nervt, man hat ständig das Gefühl, etwas zu verpassen. »Da kannst du dich mit anderen treffen, aber das ist nichts für mich. Hier sitzen doch nur Ölaugen und Nafris, das riecht man doch. Knoblauchatem, Moslemrotz, die bevölkern auch unsere Gefängnisse. Draußen besetzen die unsere Viertel, fahren unsere Autos, holen sich unsere Arbeitsplätze, nehmen uns die Frauen weg.«
»Ja, ist echt schlimm«, sage ich. »Man kommt zu nichts mehr, seit die hier sind.«
»Sieht sie gut aus?«, fragt Ronny und wendet mir sein Gesicht mit den toten Augen zu.
»Wer jetzt«, frage ich.
»Deine Freundin«, sagt er. »Malu.«
»Marla«, sage ich. »Klar sieht die gut aus.«
»Was würdest du ihr geben?«
»Acht von zehn«, sage ich. »Vielleicht neun. Sie sieht super aus.«
»Wieso nimmt sie dich dann? Du bist höchstens eine fünf. Du bist kein Chad, hast keinen soliden Job, kein Auto, du hängst in Wettbüros rum. Was findet die an dir?«
»Vielleicht mein Charme«, sage ich. »Aber Freundin, weiß ich nicht. Wir waren zusammen auf einem Baukran, da kommt man sich näher, das verbindet. So wie du und ich hier, in Untersuchungshaft. Das vergisst man nicht.«
»Ich bin nicht schwul«, sagt Ronny.
»Alles gut«, sage ich.
Er starrt mich an und schiebt seine Brille hoch. »Was würdest du mir geben?«
»Was soll ich dir geben«, frage ich.
»Stell dich nicht so an«, sagt er, »von eins bis zehn, mach schon«.
Ich sehe ihn mir in Ruhe an. Sein Kopf ist eigenartig rund, was der extreme Kurzhaarschnitt noch betont. Das Gesicht wirkt nackt, asketisch. Die Augenbrauen und Wimpern sind hell, die Augen grau, sie geben nichts preis. Der Mund klein, und die Zähne, wenn er sie überhaupt mal zeigt, unregelmäßig und rott. Vielleicht nuschelt er auch deswegen, um sie zu verbergen. Sein Kinn ist schwach ausgeprägt. Dennoch strahlt das Gesicht Entschlossenheit und Strenge aus.
»Eine gute 7«, sage ich. Alle Männer sind eitel, das weiß ich, sie kriegen so gut wie nie Komplimente. Vielleicht taut er dann ein bisschen auf.
Ronny sagt nichts, geht in den abgeteilten Toilettenraum, wo ein Metallspiegel in die Wand eingelassen ist.
»Hast du eine Freundin?«, frage ich.
»Nein«, sagt er von drüben. »Keine Zeit.«
»Wie, keine Zeit«, frage ich. »Was soll das denn heißen? Bisschen Spaß muss sein. Oder hast du immer noch Schiss wegen Corona?«
»Scheiß auf Corona«, sagt Ronny, zurück am Bett. Er bewegt sich rasch von einem Ende der Zelle zum anderen. Drahtiger, doch austrainierter Körper, kein Gramm Fett. »Ich bin scheißhässlich, weiß ich selbst. Ein Untermensch in den Augen der Frauen. Da kannst du mir keine 7 einreden. Selbst wenn ich eine Frau kennenlernen würde, würde ich es verkacken oder sie würde innerhalb von zwei Wochen mit jemand anderem ficken. Weiß ich doch. Das muss ich mir nicht antun.«
»Genau«, sage ich. »Das ist die richtige Einstellung. Jammern hilft immer weiter.«
»Was willst du damit sagen«, sagt er und kommt geduckt näher. Er ist schnell, das weiß ich noch aus der Fennpfuhl-Wohnung. »Willst du dich über mich lustig machen?«
Im selben Moment hat er eine Hand an meiner Kehle und drückt zu, sein Griff ist fest, ich ringe nach Luft, versuche ihn wegzustoßen. Er steht unverrückbar wie ein Block und lacht mir ins Gesicht. »Merkst du das? Macht dir das Spaß?«
»Hör auf«, sage ich, röchle, will irgendwie atmen.
Er lässt unvermittelt los, schaut auf seine Hand und geht zum Fenster, dehnt seine Schultern wie ein Boxer.
»Als ich dreizehn war, hatte ich eine Freundin«, sagt er. »Wir haben nicht gefickt, aber wir waren richtig zusammen, jeden Tag gesehen und so. Geredet. Die hatte reine Augen. Seele. Wenn die dich angeschaut hat …«
Ich sage nichts. Bin froh, wieder atmen zu können. Jetzt habe ich das kapiert mit der Auslastung der Intensivbetten und Beatmungsgeräte. Du willst atmen, deine Lunge braucht Sauerstoff, kann nichts aufnehmen. Ohne mich, mir reicht es. Ich will so rasch wie möglich raus. Keine Ahnung, was Romina sich von dieser Aktion erhofft, das Gespräch mit Ronny bringt nichts. In den Fluren hört man die Stimmen der anderen Häftlinge, klappernde Wagen, rasselnde Schlüsselbunde. Ständig werden Türen aufgeschlossen, fallen knallend wieder zu. Jemand in einem anderen Stockwerk schreit. Wenn für eine Sekunde mal Ruhe ist, höre ich die Autos auf der großen Kreuzung, wie sie anfahren, hupen, beschleunigen, das Röhren eines Doppeldeckers. Die Welt da draußen scheint total nah zu sein, ist aber unerreichbar. Wenn sie mich nicht mehr rauslassen, ist das hier meine Welt, mein Universum. Tag für Tag, Nacht für Nacht in einer Zelle mit einem cholerischen Nazispinner. Du musst gar nichts tun. Lass ihn reden. Danke, Romina.
»Beleidigt oder was«, sagt Ronny nach einer Weile, starrt mich mit seinen Augen an. »Wegen dem Scheiß? Soll ich mir jetzt die Hände bügeln oder was?« Er lacht kurz. »Mangelnde Affektkontrolle, haben sie auch beim Jugendamt schon festgestellt. Kann ich nichts für.«
»Fass mich nie wieder an«, sage ich. »Nie wieder.« Nie wieder, sonst was? Ich kann ihm keine Sanktionen androhen.
»Scheißgefühl, keine Luft zu kriegen«, sagt er. »Kenne ich. Mein Stiefvater war so ein Typ, der nach Fehlern gesucht hat, wenn er schlechte Laune hatte. Und er hatte eigentlich immer schlechte Laune, wenn er von der Arbeit kam. Ich sollte im Haushalt helfen, den Tisch abräumen, das Geschirr spülen. Ich hab das gemacht, wegen meiner Mutter, damit die keinen Ärger mit ihm kriegt. Und er tigert hinter mir auf und ab. Kein Geld, sich eine Geschirrspülmaschine zu kaufen, dafür quält er lieber den Sohn seiner Frau. Er hat mich gehasst, das wusste ich von Anfang an. Ich konnte seinen Hass in meinem Rücken spüren, der strahlte rüber von ihm, während er hin und her lief. Wenn ich einen Teller rausgezogen und abgeputzt und mit kaltem Wasser abgespült und zum Abtropfen weggestellt hab, hat er sich den Teller gegriffen und ihn kontrolliert auf Rückstände. Ob ich was übersehen hatte. Qualitätskontrolle, so nannte er das. Jedes einzelne Stück, jeden Teller, jedes Glas, jede Gabel. Ich war acht und ich war gut im Geschirrspülen, richtig gut, weil ich eine Scheißangst hatte, und wenn du Scheißangst hast, gibst du dir wirklich Mühe, den Scheißteller sauber zu kriegen. Für meinen Stiefvater war das nicht genug. Er wollte was finden. Er hat was gefunden. Jedes Mal. Was ist das hier, sagt er und wischt mir eine über den Hinterkopf. Hier klebt noch Kartoffel dran. Wieso klebt da die Kartoffel dran? Er steht hinter mir, drängt mich ans Spülbecken. Er legt den Teller wieder ins Spülwasser. Machste noch mal, sagt er. Machste noch mal. Und stößt meinen Kopf ins Spülwasser. Er hatte Kraft, hatte richtig Kraft, er hat meinen Kopf in das scheißwarme Spülwasser gedrückt, auf den Teller drauf, an dem noch ein Kartoffelrest klebte, angeblich. Aber ich hatte alles weggeputzt. Hundertpro. Ich hab unter Wasser keine Luft gekriegt, wollte atmen. Wasser läuft in deine Nase rein, du willst schreien. Und er hatte einen Griff wie ein Stier, Parallelschraubstock mit gehärteten Spannbacken, hundertzehn Euro bei Hornbach. Nach zwei Minuten lässt er los, zieht deinen Kopf raus. Zwei Minuten sind lang, wenn du acht bist und denkst, dass du stirbst. Aber er zieht dich raus. Mach weiter, sagt er. Mach schon, ich will hier nicht ewig stehen. Die Gabeln, die Messer, trödel nicht so rum hier. Und er bleibt hinter dir stehen und nimmt die Gabel, die du geputzt hast wie ein Irrer. Was ist das denn, sagt er, und im selben Moment ist dein Kopf wieder unter Wasser. Ich sag dir, ich kenn das Gefühl, keine Luft zu kriegen. Kapierst du das?«
»Ja«, sage ich und denke daran, dass sein Arschloch von Stiefvater ihn vielleicht noch ein paar Minuten länger unter Wasser hätte halten sollen, dann müsste ich jetzt nicht mit ihm hier stehen, aber es ist, wie es ist. »Ja, habe ich kapiert.«
»Dann wichs mich nicht an von wegen richtige Einstellung«, sagt Ronny. »Wenn ich was hasse, dann so was. Du bist nichts weiter als ein verweichlichter Idiot, wenn du so einen Scheiß redest. Das hat der Feminismus aus uns gemacht, verschwuchtelte Schwächlinge. Ironische Idioten. Dieses Land leidet an thymotischer Unterversorgung, sagt Marc Jongen. Wir müssen wieder hassen lernen, verstehst du? Zorn und Wut, das sind die Quellen deutscher Kampfkraft. Alles kurz und klein treten, Schutt und Asche, dazu müssen wir fähig sein. Das habe ich von meinem Stiefvater gelernt, und dafür bin ich ihm dankbar. Der konnte hassen. Der hat mir beigebracht, was es heißt zu hassen.«
»Was ist mit deinem richtigen Vater?«, frage ich. Rede, Ronny, rede, hör nicht auf zu reden, du kannst mir alles sagen. Für Romina. Kannst dir alles von der Seele reden.
Ronny lacht trocken und schaut aus dem winzigen Fenster. »Der hat sich aufgeknüpft.« Er macht eine gezierte Handbewegung, als lege er sich eine Schlaufe um den Hals. »Auch eine Art von Widerstand. Da war ich zehn. Ich kannte den gar nicht mehr. Ich hatte nur mit meinem Stiefvater zu tun.«
Mehr sagt er nicht. Kein Wort zu dem, was in der Fennpfuhl-Wohnung war. Um halb zwölf kommt das Essen: Reis, Tomatensoße und Tofu in abgeteilten Blechtellern. Ich esse sofort alles auf, es schmeckt nach nichts. Danach Aufschluss zur Hofstunde.
Ronny weigert sich, rauszugehen. »Ich stehe nicht mit all den Kanaken auf dem Hof.«
Ich gehe raus und sehe den Spielern an den beiden Tischtennisplatten zu. Der Hof erstickt schier vor Hitze, meine Augen schmerzen im grellen Sonnenlicht, und dennoch bin ich froh, im Freien zu sein. Die anderen Häftlinge ignorieren mich. Die Jungs an der Platte hängen sich voll rein, Vorhandrallye ohne Ende, ich denke an Marla, sehe ihre Vorhand mit Topspin kommen, ihr konzentriertes Gesicht, verschwitztes Shirt, das Bauchnabel-Piercing. Vor zwei Tagen haben wir noch an den Platten am Gleisdreieck gespielt. Sie hat jeden Ball von mir gekriegt, mit präzisem Druck zurückgegeben, die ganze Kraft ihres Körpers dahinter. Jugendmeisterin Britz-Süd. Der hungrige, hastige Sex oben im Baukran, am Abend danach bei ihr zu Hause in Schöneberg, vor dem Gasometer. Ich würde was darum geben, ihre Stimme zu hören, ihr leises Flüstern an meinem Ohr.