»Keine Ahnung«, sage ich. »Wir haben nur Tischtennis gespielt. Denke schon, dass sie einen Freund hatte, mindestens einen.«

»Tischtennis«, sagt er.

Und ob ich das ernst gemeint habe mit der guten Sieben, die ich ihm in Moabit gegeben hatte.

»Klar«, sage ich, »mindestens«.

Er fährt einen Honda Civic der sechsten Generation. Ich habe selten einen Fahrer gesehen, der seinen Wagen so bis auf die Felgen quält, wenn er abrupt die Spur wechselt, plötzlich bremst und dann wieder hart beschleunigt, im ersten Gang einem Motorrad nachjagt, bis der Drehzahlmesser am Anschlag ist und das ganze Fahrzeug kreischt.

»Tapferes Auto«, sage ich, um vom Marla-Thema wegzukommen. »Steckt gut was weg.«

»Die Japaner haben es nicht besser verdient«, sagt Ronny. Wir wischen an den eintönigen Plattenbaufassaden der Magdalenenstraße vorbei. »Die wollen geknechtet werden. Ein Loservolk. Dabei waren das mal Krieger. Samurai. Ninja. Und jetzt – Takeshi’s Castle. Im Grunde das gleiche Schicksal wie das deutsche Volk. Der Genpool der wehrfähigen Männer, die zum Kampf bereit waren, wurde bereits im Ersten Weltkrieg weitgehend vernichtet. Den Japanern wurde dann 45 von den Amerikanern das Genick gebrochen. Bei unserem Volk haben sie insgesamt ein paar Jahre mehr gebraucht, nicht nur zwei Atombomben. Feuersturm in Hamburg am 27. Juli 43. Operation Gomorrha. Das war genauso heiß damals wie jetzt, dadurch entstand der Kamineffekt. Drei Jahre lang haben sie Luftangriffe auf Berlin geflogen. Auf alle deutschen Städte. Dann Dresden im Februar 45, das war ganz klar ein Genozid, Hunderttausende sind umgekommen. Darf man heute ja nicht sagen, sonst ist man gleich ein Nazi. Fakt ist: Sie wollten uns ausrotten, muss man mal so deutlich sagen. Hat nicht geklappt, auch der Völkermord im Rheinwiesenlager nicht. Dafür werden wir mit dem Schuldkult bis heute kleingehalten. Sklaven unserer Angst, gieren nach ständiger Unterwerfung. Und wer baut jetzt die besten Autos der Welt? Wir und die Japaner.«

Super, denke ich, nach all den Idioten aus dem Corona-Jahr jetzt wieder ein Old-school-Nazi. Doch ich sage nichts. Ronny treibt den Honda über eine Linksabbiegerspur, zieht knapp vor einem Durstexpress-Lieferwagen nach rechts rüber, wir schlingern eine Sekunde lang, dann hat er den Wagen wieder im Griff und lacht leise.

»Weißt du was«, sagt er, als er am Cottbusser Platz in die Siedlung einbiegt. »Ich freu mich auf Marla, ich will die kennenlernen. Irgendwie habe ich da ein gutes Gefühl.«

Ich nicht, doch ich halte lieber den Mund. Mir fällt keine andere Möglichkeit ein, Marla aus Krasniqis Laden herauszuholen, und ich glaube nicht, dass Ronny tatsächlich ein praktikables Konzept im Kopf hat. Aber ich bin es Marla schuldig, irgendwas zu versuchen. Ronny ist eine krasse Außenseiterwette, doch besser, als gar nichts zu versuchen.

Er hält vor einem Sechsgeschosser. »Du kommst mal kurz mit rein, wir holen was raus, geht sofort weiter.«

Das Haus ist stockdunkel, alle schlafen. Im Treppenhaus hört man eine Waschmaschine im Schleudergang, irgendwo im dritten oder vierten Stock. Ronny schließt die Parterrewohnung rechts auf. »Sei mal leise«, sagt er und weist auf das Zimmer gleich rechts.

Ich gehe in sein Zimmer, schaue mich um: reichsdeutsche Flagge über dem Bett, schwarzes Bettzeug. Ihr tauscht uns nicht aus steht in Fraktur auf seinem Kopfkissenbezug. Kommode, kleines Regal, Schreibtisch mit PC, Konsole, Tastatur, alles penibel aufgeräumt.

»Bist du da, Ronny?« Eine verschlafene Frauenstimme aus einem anderen Zimmer.

»Ich hol kurz was, schlaf weiter«, sagt er.

»Willst du was essen?«

»Leg dich wieder hin, ich muss noch mal weg«, sagt er in Richtung Flur und nimmt eine Helmkamera vom Schreibtisch.

»Ich nehme es auf«, sagt er, »dann haben die Jungs im Netz auch was davon.«

Er klappt das Bett hoch, darunter liegen zwei flache Kartons mit Klamotten. Ronny zieht die Jeans, Shirts und einen Hoodie mit Spreegeschwader-Aufdruck zur Seite und holt zwei Maschinenpistolen heraus, drei Dosen Pfefferspray, die er mir zuwirft.

»Los jetzt«, sagt er. »Wir können Marla nicht warten lassen.«

Im Honda schiebt er die beiden Maschinenpistolen zu mir in den Fußraum, die Mündungen blicken mich kalt an. Ich schiebe sie von mir weg, von jetzt an habe ich eigentlich nur noch das Gefühl, dass wir uns mit hundertvierzig Sachen in die Scheiße reiten. Doch dann denke ich an Zef und seinen krummen, stinkenden Schwanz, und will ihm die Mündung einer Maschinenpistole in den Mund rammen.

»Du probierst mal aus, wie man das Spray fachgerecht einsetzt«, sagt Ronny, als er den Wagen startet und vom Parkplatz fährt. »Wer eine Kugel von mir fängt, der macht nichts mehr. Wer Tierabwehrspray in die Fresse kriegt, ist zumindest für drei Stunden ein winselnder Hund. Aber wenn ich was davon abkriege, weil du nicht weißt, wo vorn und hinten bei dem Teil ist, dann fängst du auch eine Kugel von mir. Da diskutiere ich nicht, da drücke ich ab, das ist schlicht und ergreifend Notwehr, und das wird mir jeder deutsche Richter bestätigen, selbst in Berlin.«

Vielleicht ist Pfefferspray auch gut für Zef, wenn ich ihn wiedersehe. Ich lasse die Fensterscheibe herunterfahren, halte das Spray aus dem Auto und übe das zielgenaue Schießen, wenn wir vor einer Ampel stehen.

Es ist zwei Uhr morgens. Die Straßen sind so gut wie leer. Wir brauchen eine knappe halbe Stunde, bis wir die Potsdamer Straße erreichen. Die rote Leuchtschrift des Golden Dolls schimmert in der Nacht. Ein Türsteher steht neben dem Eingang und raucht.

»Das ist Gezim«, sage ich. »Der arbeitet immer mit Zef, offenbar ist der drinnen.«

»Wo ist der Hintereingang«, fragt Ronny, er kaut einen Kaugummi, ist in einen Jagdmodus gewechselt, redet nur noch in kurzen, abgehackten Sätzen. Vielleicht reden die Gamer so, wenn sie Gebäude besetzen.

»Über den Hof«, sage ich. »Wir müssen durch die Toreinfahrt, die steht immer offen, weil Krasniqi da seine VIP-Kunden parken lässt.«

Ronny parkt um die Ecke in der Lützowstraße. Vor dem Kumpelnest stehen zehn, zwölf Engländer und Skandinavier, trinken, unterhalten sich und lachen. Happy, dass Corona so gut wie vorbei ist und man wieder billig saufen gehen kann in Berlin.

»Komm her, mein Kleines«, sagt Ronny und klemmt eine der beiden Maschinenpistolen unter seinen Spreegeschwader-Hoodie. Wir schlagen einen Bogen auf der Potsdamer und nähern uns dem Golden Dolls von der Brücke aus. Gezim diskutiert gerade mit zwei Geschäftsleuten.

Ronny setzt seine Helmkamera auf, er wirkt entschlossen, kalt. Wir gehen in den Hof.

An der schwarzen Tür neben den Mülltonnen lehnt eine Frau in einem leichten Bademantel, sie raucht und scrollt auf ihrem Handy. Die Tür ist angelehnt, Bukowina-Dub dröhnt im Hintergrund.

»Wollt ihr jemanden abholen?«, fragt sie. »Ihr müsst draußen auf der Potse warten, der Chef will keine Freunde seiner Mädchen im Hof haben.«

»Wir holen Marla ab«, sagt Ronny.

»Hier gibt’s keine Marla«, sagt sie.

»Er meint die Neue«, sage ich.

»Shaylee«, sagt die Frau.

»Genau, Shaylee«, sagt Ronny. »Wo ist die?«

»Die ist hinten bei den anderen. Hat die schon Feierabend? Die musste heute noch keinen einzigen Kunden machen, nur tanzen. Steht noch unter Welpenschutz, aber ich weiß nicht, wie lange noch, so wie die tanzt.«

»Wir holen sie ab«, sage ich.

»Wie gesagt, der Chef sieht das nicht so gern, wenn hier die Typen der Mädchen reinkleckern«, sagt sie. »Aber ich hab euch nie gesehn, beeilt euch halt.«

»Und du verpisst dich mal lieber«, sagt Ronny, als er an ihr vorbeigeht.

»Arschloch«, sagt sie und wirft ihre Zigarette weg.

Der Flur stinkt nach Desinfektionsmitteln und Zigarettenrauch. Ronny hat seine Waffe in der Hand, ich eine Dose Pfefferspray, mein Shirt ist nass vor Schweiß und mein Herz kurz davor zu kollabieren. Fünf Meter vor uns springt eine Tür auf, ein Mädchen in einem Bikini rennt heraus, ungeschickt auf High Heels balancierend.

»Da geht’s rein«, sagt Ronny und macht eine Geste, als würde er ein Squad anführen. »Mach mir bloß keine Schande.«

Er tritt die Tür auf, es ist die Umkleide. Vor vier beleuchteten Spiegeln sitzen halbnackte Frauen und schminken sich. Auf einer Couch hocken drei weitere Mädchen nebeneinander, in ihre Smartphones vertieft. Überall versperren Kleiderständer den Weg. In der Ecke steht Zef mit heruntergelassener Hose und lässt sich von einer ausgemergelten Blondine einen blasen. Er bemerkt uns nicht, auch nicht, als ich schon neben ihm stehe. Er kneift die Augen zusammen, atmet angestrengt, muss sich konzentrieren.

»Gleich«, sagt er, »gleich, gleich.«

Die Blondine lässt seinen Schwanz aus dem Mund gleiten und wichst eilig mit der Hand weiter. »Mach schon, weiter, gib mir deinen Saft«, sagt sie, »mach schon.«

Ich gebe ihr zu verstehen, dass sie verschwinden soll, und sie lässt ihn sofort los.

Zef öffnet die Augen, sein Schwanz steht noch hoch aufgerichtet vor seinem Bauch, als ich ihn mit einer Ladung Pfefferspray einweiche.

»Wegen neulich«, sage ich. »Weil ich nicht gern was schuldig bleibe.«

Er schaut auf seinen Pimmel, um zu verstehen, was geschehen ist, schaut mich fragend an. In der Sekunde setzt die Wirkung des Pfeffersprays mit voller Wucht ein. Zef krümmt sich zusammen, schlägt nach mir, sucht den Quarzer, den er immer in seiner Nähe hat. Er findet ihn nicht. Er schreit. Wusste ich jetzt auch nicht, dass ein Mensch derartig schreien kann.

Ronny steht breitbeinig in der Mitte des Raumes und grinst, seine Maschinenpistole im Anschlag. Die Frauen vor den Spiegeln und auf der Couch rühren sich nicht. Sie wirken wie atmende Puppen, die geschminkten Gesichter erhellt vom Licht ihrer Smartphones.

»Schön so bleiben«, sagt Ronny. »Euch passiert nichts. Wir holen nur Marla ab. Wo ist sie?«

Keine Antwort. Nur das Schreien von Zef, das in ein Wimmern übergeht, als er sich auf dem Boden wälzt, seinen Schwanz hält.

Ronny hebt die Maschinenpistole hoch und ballert an die Decke. Putzsplitter springen heraus. Eine Frau kreischt vor Schreck grell auf.

»Ich frag nicht gern zweimal«, sagt er. »Wo ist Marla?«

»Sie ist bei Krasniqi«, sagt eine dunkelhäutige Tänzerin. »In seinem Büro. Geh doch rüber und lass uns hier in Frieden.«

Die Tür fliegt auf, Krasniqi kommt mit Marla herein.

»Keine Probleme«, sagt er. »Wir klären das.«

Er bleibt ruhig an der Tür stehen, beide Hände von sich gestreckt. Sieht gut aus wie immer, ein körperbetontes Hemd, die Ärmel lässig aufgekrempelt, schmale dunkle Hose, Zigarette zwischen den Fingern.

»Wir können euch Geld geben«, sagt er. Jetzt erkennt er mich und nickt mir zu, freundlich, professionell. Er will die Störung rasch beseitigen und weiß, dass er am Ende gewinnen wird.

Ronny steht vor Marla und schaut sie an, nur sie, er ist jetzt in einer anderen Welt. Ich kenne diesen Blick. Spieler haben ihn, wenn sie in der Zone sind, im Nirvana. Sie sind erleuchtet.

»Wir wollten Marla abholen«, sage ich.

»Danke«, sagt Marla und lächelt Ronny an. »Das ist nett von euch.«

Das Lächeln weckt ihn, über sein rundes Gesicht schimmert ein glückliches Strahlen.

»Du bist Marla«, sagt er.

»Genau«, sagt sie.

»Ich bin Ronny«, sagt er. »Tom hat von dir erzählt. Du siehst in echt noch besser aus.«

»Danke«, sagt Marla und lächelt ihr Grübchenlächeln. »Du bist nett, Ronny.«

»Was würdest du mir geben?«, fragt er.

»Dir geben«, sagt Marla. »Was willst du denn?«

»Ronny, lass uns gehen«, sage ich. »Das können wir gleich noch klären. Wir müssen weg.«

»Auf einer Skala von eins bis zehn, Marla«, sagt Ronny. »Sag schon. Und sei ehrlich.«

Marla mustert ihn. Er wirkt klein, da kann er noch so breitbeinig im Raum stehen, sein Hoodie ist verrutscht, er legt den Kopf ein wenig seitlich, weil er weiß, dass sie ihn prüft.

»Ehrlich jetzt? Eine 3,5«, sagt sie. »Aber du bist nett. Können wir jetzt gehen?«

Ronny bewegt sich nicht, seine Miene ist versteinert. Krasniqi versteht als Erster und nutzt die Gelegenheit. Aus dem Stand springt er Ronny entgegen und tritt gegen die Maschinenpistole, damit Ronny sie aus der Hand gibt. Doch der hält sie fest, taumelt rückwärts, aus der Waffe lösen sich zwei Schüsse, während er mit dem Hinterkopf aufschlägt. Krasniqi federt zurück auf seine Beine, geht unmittelbar zum nächsten Angriff über, will Ronny in die Seite treten, um ihm ein paar Rippen zu brechen. Ronny dreht sich Krasniqi entgegen und feuert, auf dem Rücken liegend, drei Kugeln auf Krasniqi, die ihm Brust und Bauch aufreißen.

Ein Geruch nach Blut und halbverdautem Essen breitet sich aus, die Frauen wenden sich stöhnend ab. Krasniqi sackt zur Seite, hält sich den Bauch. Sein Körper krümmt sich auf dem Boden.

Ronny ist schon wieder auf den Füßen, tritt nach ihm, sein Gesicht weiß vor Wut: »Das wird dich lehren, mich anzugreifen.«

»Sorry«, sagt Marla an der Tür. »War nicht so gemeint. Ich wollte dich nicht verletzen, okay?«

Er rennt an ihr vorbei, ohne ein Wort. Wir hören ihn im Hinterhof lachen, ein Schuss peitscht auf. Jemand schreit, keine Ahnung, ob Mann oder Frau.

Ich will nur noch weg, und zwar mit Marla. Zef wimmert immer noch in seiner Ecke, greift nach meinem Fuß, ich trete nach seiner Hand.

»Wäre das Beste, wenn wir jetzt auch verschwinden«, sagt Marla zu mir. »Das war ja wohl die bescheuertste Idee ever, mit diesem Kasper hier aufzutauchen.«

Im selben Moment zuckt der irrsinnig helle Blitz einer Blendgranate durch den Raum, dazu ein Knall, wie ich ihn noch nie gehört habe, er sprengt mein Trommelfell. Die Bullen, denke ich, Romina hat den Durchsuchungsbeschluss gekriegt. Wieso kommen die nicht über den Hof? Im selben Moment stürzt die Welt für mich ein, ich falle ins Nichts.