Zweites Kapitel
Der Spiegel
Ludmilla und Mina wohnten in einem großen, alten, verwinkelten Haus. Es hatte mehrere Stockwerke, viele kleine Zimmer und mehrere Treppen, die in die verschiedenen Stockwerke führten. Es gab sogar Treppen, die nur einzelne Zimmer verbanden. Viele der Flure waren geschwungen, sodass das Haus insgesamt sehr unübersichtlich war. Schon Minas Eltern hatten in diesem Haus gelebt, und sie hing sehr daran. Für die beiden war es eigentlich viel zu groß, und Mina war schlecht darin, Dinge auszusortieren und wegzuschmeißen oder zu verschenken. Deshalb gab es in jedem Stockwerk Zimmer, in denen Mina Erinnerungsstücke aufbewahrte. Diese Zimmer waren vollgestopft mit alten Möbeln, Lampen, Koffern, Truhen und anderen Dingen, von denen sich Mina nicht trennen wollte. Ludmilla hatte die Zimmer immer wieder durchforstet und viele Fragen gestellt. Mina hatte sie bereitwillig und gerne beantwortet, da sie es liebte, Geschichten zu erzählen.
Jedoch gab es ein Zimmer in dem Haus, das Ludmilla nicht betreten durfte. Bei ihrem Einzug hatte Mina ihr das Versprechen abgenommen, dieses Zimmer nicht zu betreten. Sie hatte ihr erklärt, dass sie darin Erinnerungsstücke aufbewahre, deren Erinnerungen sie nicht teilen wolle. Sie habe sie für sich begraben. Begraben in diesem Zimmer, das sie dennoch nicht auflösen wolle, und deshalb sei dieses Zimmer immer abgeschlossen. Ludmilla war zwar sehr neugierig, aber da sie alle anderen Zimmer durchforsten durfte, hielt sie sich an ihr Versprechen. Sie sah keinen Sinn darin, in einem Zimmer zu stöbern, wenn sie nicht darüber reden und keine Fragen stellen durfte. Sie hatte das Zimmer fast vergessen, bis sie vor ein paar Monaten einen Streit aufgeschnappt hatte, der sich genau in diesem Zimmer abspielte. Das hatte alles geändert.
Ludmilla machte gerade in ihrem Zimmer Hausaufgaben, als sie laute Stimmen hörte. Die Stimme ihrer Großmutter schrillte durch das ganze Haus. Und da war noch eine zweite Stimme. Eine tiefe, ruhige Stimme, die Ludmilla nicht kannte und die auf Mina einredete. Ludmilla war den Stimmen gefolgt. Sie kamen aus dem ersten Stock des Hauses. Aus dem verbotenen Zimmer. Die Tür stand offen, und ein sonderbares, strahlendes Licht schien auf den Flur hinaus. Es kroch über den Boden, als hätte es ein Eigenleben. Ludmilla schlich auf Zehenspitzen den Flur entlang und lauschte.
»Das ist zu viel verlangt, Uri!«, hatte Mina aufgebracht geschrien. »Das kannst du nicht ernsthaft erwarten. Ich weiß, dass ich euch viel schulde und dir ebenso viel zu verdanken habe, aber sie ist meine Enkeltochter!« Minas schwerer Atem war nicht zu überhören. »Sie ist dafür auch überhaupt nicht geeignet. Sie ist frech, respektlos und übermütig.« Mina lachte kurz spöttisch auf. »Ich kenne die Wesen. Die können mit einer solchen unverschämten Art nicht umgehen. Das ist heute eine andere Zeit als damals. Die Jugend von heute …«, sie stockte, als suchte sie nach den richtigen Worten, »… und Ludmilla trägt einen Ton am Leibe …«
Mina ließ ein verächtliches Schnaufen ertönen, das Ludmilla so gut kannte, dass sie unwillkürlich grinsen musste. Sie wusste, dass sie mit ihrem Ton ihre Großmutter zur Weißglut treiben konnte.
»Sie kann sich und ihre Fähigkeiten nicht einschätzen«, zeterte Mina weiter. »Sie hält sich für das Größte und Beste! Sie überschätzt sich ständig. Sie ist ein pubertierender Teenager, der von eurer Welt keine Ahnung hat. Sie wird die Gefahr, die sich darin verbirgt, nicht einschätzen können, und du wirst sie nicht beschützen können.«
»Du kennst meine Mächte, Mina«, unterbrach der Mann sie, den Mina Uri nannte. »Selbstverständlich kann ich sie beschützen.« Seine Stimme war sehr ruhig und besonnen.
Minas hysterisches Auflachen schrillte durch das ganze Haus. »Dann müsstest du sie vor sich selbst beschützen, und das kannst selbst du nicht! Ich habe sehr deutlich gesagt, dass der Scathan-Spiegel nicht mehr als Portal zur Verfügung steht.«
»Und daran haben wir uns beide bis zum heutigen Tag gehalten, Mina«, unterbrach Uri sie mit klarer lauter Stimme. Er versuchte, das hysterische Schreien zu übertönen.
Aber Mina war weder zu übertönen noch zu beruhigen oder zu überzeugen. »Ich werde es nicht erlauben. Ich bin für sie verantwortlich und ich sage: NEIN! ENDE der Diskussion!«
Mit diesen Worten stürmte Mina aus dem Zimmer und stieß fast mit Ludmilla zusammen. Sie fuhr zusammen und starrte Ludmilla entsetzt an. Es kam Ludmilla so vor, als hätte Mina für einen Moment nun auch ihre restliche Fassung verloren. Doch dann polterte sie los: »Was machst du hier?«
In ihrer Stimme lag eine ungewöhnliche Schärfe. Ihre blaugrauen Augen funkelten Ludmilla böse an, und sie atmete schwer. Vor Aufregung zitterte sie am ganzen Leib. Aber bevor Ludmilla etwas erwidern konnte, packte Mina sie am Arm und schob sie zur Treppe.
»Hier gibt es nichts zu sehen oder zu hören. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass dieses Zimmer für dich tabu ist?«, herrschte sie sie an. Sie presste die Worte angestrengt heraus, als ob ihr das Sprechen schwerfiele. »Und ich kann für dich nur hoffen, dass du uns nicht belauscht hast!«
Ludmilla war so verdutzt über die Reaktion ihrer Großmutter, dass ihr keine schlagfertige Antwort einfiel.
Sie hatten nie mehr darüber gesprochen. Ludmilla hatte das Thema vermieden, weil sie nicht noch mehr Ärger bekommen wollte. Und Mina hatte es von sich aus auch nicht angesprochen. Aber eines hatte dieser Vorfall bewirkt: Ludmilla wollte unbedingt einen Blick in dieses Zimmer werfen. Irgendetwas musste in diesem Zimmer sein. Warum hatte sich Mina gerade in dem Zimmer mit diesem Uri gestritten? Und wer war dieser Uri überhaupt? Von welchen Mächten und Wesen hatten die beiden gesprochen? Was hatte Mina mit »eurer Welt« gemeint? Und noch eine Frage ließ Ludmilla nicht los: Wie war dieser Uri in das Haus gelangt und wieder hinaus? Sie hatte weder jemanden kommen noch weggehen gehört oder gesehen. Und das, obwohl sie den gesamten Abend darauf gewartet hatte und jemand an ihrem Zimmer im Erdgeschoss vorbei gemusst hätte, um zur Haustür zu gelangen.
Seit diesem Vorfall waren mehrere Monate vergangen, in denen sich Ludmilla keinen Reim auf den Streit hatte machen können. Sie hatte keinerlei Vorstellung, worum es in dem Gespräch gegangen war. Sie konnte sich auch nicht erklären, warum ihre Großmutter sie so negativ beschrieben hatte. Normalerweise lobte Mina sie immer in den höchsten Tönen und behielt die kleinen Streitereien für sich. Ludmilla liebte ihre Großmutter über alles, auch wenn sie das selten sagte. Sie hatten eine besondere Art, miteinander umzugehen. Respektvoll und vor allem ohne Streit. Mina hasste es, zu streiten. Umso mehr wunderte sich Ludmilla über ihren Ausbruch. Die Worte, die sie gegenüber Uri benutzt hatte, hatten Ludmilla zwar getroffen, aber sie hatte es damit abgetan, dass Mina sehr aufgeregt gewesen war und in der Aufregung Sachen gesagt hatte, die sie nicht so gemeint hatte. In dieser Hinsicht war Ludmilla sehr pragmatisch. Sie kannte ihre Großmutter und wusste, wie sehr sie von ihr geliebt wurde. Ihren Ausbruch konnte sie sich zwar nicht erklären, war sich aber sicher, dass es nichts mit ihr, Ludmilla, zu tun hatte. Was es damit auf sich hatte, das musste sie unbedingt herausfinden.
Ludmilla konnte es kaum erwarten, sich in diesem Zimmer umzuschauen. Wer weiß, wann Mina das nächste Mal in das Zimmer geht?, dachte sie bei sich, während sie gedankenverloren in ihrem Essen herumstocherte. Vor zwei Tagen hatte sie die Tür aufgeschlossen, und seitdem hatte sie keine Gelegenheit gehabt, sich dem Zimmer auch nur zu nähern. Ihre Großmutter war immer zu Hause, wenn sie zu Hause war. Und während Mina im Haus war, konnte sie nicht längere Zeit im ersten Stock verschwinden.
Ihre Großmutter blickte sie streng an. »Ludmilla! Wenn du keinen Hunger hast, musst du nichts essen.«
Ludmilla starrte auf ihren halbvollen Teller.
»Aber du kannst mir gern Gesellschaft leisten. Erzähl mir von der Schule.«
Ludmilla sah sie an. Ihre Großmutter war groß und schlank. Das lange weiße, glatte Haar steckte sie stets zu einem strengen Knoten im Nacken zusammen, und um ihren Hals hing eine Lesebrille an einer goldfarbigen Kette. Ihre blaugrauen Augen blitzten sie an. Mina war recht jung geblieben, auch wenn sie das mit ihren altmodischen Kleidern gut zu verstecken wusste. Sie trug immer einen weiten Rock, der über die Knie reichte, dazu eine Bluse und darüber eine Strickjacke. Das ganze Jahr über. Es war fast eine Art Uniform. Ludmilla sah zu ihren Turnschuhen hinunter und musste grinsen.
»Was ist so lustig?«, erkundigte sich Mina leicht pikiert.
Ludmilla fing an zu kichern. »Ich stelle mir dich gerade mit Jeans und Sneakers vor.«
Mina zog die Augenbrauen hoch. »Mit was?«
»Na, mit Jeans und meinen Turnschuhen. Du weißt schon, was man sonst noch so tragen kann, wenn man nicht Rock, Bluse und Strickjacke trägt«, gluckste Ludmilla los.
Mina lächelte amüsiert. »Ich habe verstanden. Aber ich mag meine Kleidung. Möchtest du aufstehen?«
Das war typisch für Mina. Sie verstand Ludmillas Scherze sehr oft nicht und erstickte Diskussionen meist im Keim. Ludmilla hatte sich daran gewöhnt und wusste, wie sie damit umzugehen hatte.
Ludmilla wollte sich nach dem Essen gerade in ihr Zimmer verziehen, als Mina sagte: »Ludmilla, ich muss heute Abend noch mal weg. Es könnte spät werden. Geh also bitte nicht zu spät ins Bett. Morgen ist Schule, in Ordnung?«
Ludmilla sah sie erstaunt an. Ihre Großmutter ging selten aus. Sehr selten! Sie überlegte kurz, ob sie nachfragen sollte, was sie vorhatte, aber dann bemerkte sie Minas Gesichtsausdruck. Sie sah an diesem Abend sehr müde aus. Ihre Stirn hatte tiefe Falten, und der Mund wirkte besonders dünn.
Ludmilla zog die Augenbrauen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. »Okay«, sagte sie und versuchte, gelassen zu wirken. Sie hob kurz die Hand zum Gruß und ließ ihre Großmutter stehen.
Die Haustür fiel schwer ins Schloss. Ludmilla war allein. Darauf hatte sie gewartet. Ungläubig ging sie zum Fenster. Sie konnte gerade noch die Rücklichter von Minas Auto sehen, als es um die Ecke bog. Weg war sie.
Irgendwie war Ludmilla plötzlich mulmig zumute. Warum konnte sie nicht sagen. Langsam ging sie die Treppe in das obere Stockwerk hinauf. Selbst als sie vor der Tür stand, zögerte sie noch. Sie blickte erneut den Gang hinunter. Keiner da. Das wusste sie doch. Warum traute sie der Ruhe nicht? Die Dielen knarrten nicht. Das taten sie komischerweise nie, wenn Mina nicht im Haus war. Manchmal hatte Ludmilla sich schon überlegt, dass das Haus mit Mina sprach. Das passte zu den Geschichten ihrer Großmutter. Zu den Geschichten über das Haus. Mina war der Meinung, dass jedes Möbelstück und sogar ein ganzes Haus seine eigene Geschichte hätte. Und wenn man lang genug davorsitze und zuhöre, bekomme man die Geschichte vielleicht erzählt. Das entscheide das Möbelstück oder das Haus selbst.
Früher hatte sie Mina mit Fragen über das Haus gelöchert, und Mina hatte immer eine passende Geschichte parat gehabt. Aber das war lange her. Heute erzählte ihr Mina keine Geschichten mehr. Was daran lag, dass Ludmilla nicht mehr danach fragte. Sie fand die Geschichten inzwischen kindisch und konnte oder wollte Mina nicht mehr recht glauben. Früher hatte sie alle Geschichten geglaubt und geliebt. Heute dachte sie öfter darüber nach, was Mina ihr erzählt hatte, und fragte sich insgeheim, was daran wohl ausgedacht und was wahr war. Und manchmal vermisste sie Minas Geschichten richtig. Aber das mochte sie nicht zugeben. Weder vor sich selbst noch vor Mina.
Ludmilla schüttelte den Kopf. Sie hatte jetzt keine Lust, über das Haus nachzudenken. Entschlossen drückte sie die Türklinke hinunter. Aber die Tür öffnete sich nicht. Ludmilla starrte sie ungläubig an. Sie hatte sie aufgeschlossen und den Schlüssel zurückgelegt! War Mina in den letzten Tagen in dem Zimmer gewesen und hatte danach wieder abgeschlossen? Nervös kniff sie die Augen zusammen und drückte erneut die Klinke hinunter. Jetzt etwas fester und mit mehr Druck. Klemmte die Tür? Ludmilla presste die Lippen zusammen und lehnte sich gegen die Tür. Sie wollte unbedingt in dieses Zimmer. Und jetzt war die Gelegenheit.
Die Tür sprang so plötzlich auf, dass Ludmilla in den Raum hineingeschleudert wurde. Sie stolperte und stieß gegen einen Sessel. »Aua!«, stieß sie vorwurfsvoll hervor.
Sie rieb sich die Hüfte, während sie sich langsam umsah. Das Zimmer sah genauso aus wie ein beliebiges anderes Zimmer im Haus, in dem Mina alte Möbel aufbewahrte. Möbel über Möbel, die mit großen, weißen Laken abgedeckt waren. Unschlüssig stand sie da. Es war dunkel. Sehr dunkel und kühl. Ludmilla rieb sich fröstelnd die Unterarme, während sie zur Tür ging und den Lichtschalter betätigte. Das Klicken des Schalters hallte durch das gesamte Haus. Aber im Zimmer blieb es dunkel.
»Keine Glühbirne!«, stöhnte Ludmilla. Sie drehte sich um und suchte nach einer Lampe. Aber keiner der verhüllten Gegenstände sah wie eine Lampe aus. »Also gut!«, murmelte Ludmilla genervt und lief aus dem Zimmer.
Während sie den Gang entlang ging, knallte die Tür hinter ihr zu. Ludmilla fuhr zusammen und blieb stehen. Langsam drehte sie sich um und sah den Flur hinunter. Dieser lag ganz still da. Es gab keinen Luftzug. Ludmilla schüttelte den Kopf, als wollte sie einen schlechten Gedanken abschütteln. So was passierte in dem Haus andauernd. Merkwürdige Dinge. Dinge, die sich Ludmilla nicht erklären konnte. Manchmal machte es ihr Angst, aber diesen Gedanken schob sie dann ganz schnell beiseite.
Ludmilla lief durch die Küche in den Vorratsraum, in dem der Werkzeugkasten stand. Daneben stand die Taschenlampe. »Mein Freund, die Taschenlampe!«, sagte sie hämisch. Sie sprach gern laut zu sich selbst, wenn sie allein im Haus war. Auch wenn das etwas schräg war, es passte zu ihr.
Ludmilla war eine Außenseiterin in der Schule, ein eher stilles Mädchen, das gern beobachtete und viel las. Für eine Fünfzehnjährige war sie durchschnittlich groß, hatte leicht wellige, dunkelrote, dicke lange Haare, die sie sich gern zu einem Pferdeschwanz band, und große, strahlend blaue helle Augen. Ihre Haut war extrem blass und ihr Gesicht sehr schmal, so dass sie häufig kränklich aussah. Ihre Statur war schlaksig. Sport gehörte nicht zu ihren Vorlieben. Insgesamt gefiel sie sich in der Rolle der verschlossenen Außenseiterin. Ihre Mitschüler waren ihr viel zu albern, zu kindisch, und viele gemeinsame Interessen konnte Ludmilla nicht entdecken. Sie fand ihre Mitschüler langweilig, wie den Großteil ihrer Mitmenschen auch. Oft hatte sie das Gefühl, dass sie eine andere Sprache spreche als alle anderen um sie herum. Das war ihr zu mühsam, und so blieb sie lieber für sich.
Ludmilla pfiff sich ein Liedchen, während sie zurück zum Zimmer ging. Dabei musste sie grinsen. Ja, die verschrobene Ludmilla. Spricht zu sich selbst und pfeift Lieder, während sie Zimmer mit altem Kram durchforstet. Das passte doch.
Vor der Tür blieb Ludmilla stehen und atmete tief durch. »Na, dann wollen wir mal!«
Sie drückte entschlossen die Klinke hinunter. Dieses Mal ließ sich die Tür ganz leicht öffnen. Mit der Taschenlampe leuchtete sie das Zimmer ab. Die Schlagläden waren geschlossen. Es gab drei Fenster in einem Erker. Die schweren, dunkelroten, samtartigen Gardinen waren zugezogen, sodass kein einziger Lichtstrahl von draußen in das Zimmer dringen konnte.
Ludmilla bahnte sich ihren Weg zu dem Erker, zog die Gardinen zur Seite, öffnete die Fenster und schob die Schlagläden zur Seite. Die Schienen quietschten so laut, dass Ludmilla angestrengt das Gesicht verzog. Sie hasste dieses Geräusch. Mit der Taschenlampe beleuchtete sie die Schienen, auf denen die Schlagläden liefen. Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Sie waren völlig verrostet. »Mina hat hier seit Jahrzehnten kein Sonnenlicht reingelassen«, murmelte Ludmilla empört. Draußen fing der herrliche, verborgene Garten des Hauses die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs ein. Ludmilla öffnete alle Fenster ganz weit und ließ frische, wärmende Sommerluft in das Zimmer hereinströmen.
Unschlüssig sah sie sich um. Etwas unwillig seufzte sie. Was versteckte Mina hier? Warum hatte sie sich gerade in diesem Zimmer mit diesem Uri gestritten? Irgendetwas musste hier sein. Nur was? Ganz vorsichtig fing sie an, die Laken zu entfernen. Sie faltete jedes einzelne Laken sorgfältig zusammen und legte alle auf einen Haufen. Schließlich starrte sie fragend auf ihr Werk. Das Zimmer stand voll mit Sesseln, Stühlen, mehreren kleinen Tischen, zwei Kommoden und einem Sofa. An der Wand standen einige Bilder. Nichts von den Dingen erschien Ludmilla interessant oder auffällig.
Sie schaute sich lange im Zimmer um. »Was suche ich?«, fragte sie sich, während sie ratlos jedes einzelne Möbelstück betrachtete. Und dann erinnerte sie sich an das merkwürdige Licht, das aus dem Zimmer gekommen war, an dem Abend, an dem sich Mina mit diesem Uri gestritten hatte. Woher war das eigentlich gekommen?
Ludmilla kniff den Mund zusammen, sodass ihr Kinn noch spitzer wirkte. Irgendetwas musste sie übersehen haben. Ihr Ehrgeiz war geweckt. Immer wieder drehte sie sich im Kreis, ging die einzelnen Stücke ab, betrachtete sie eingehend, bevor sie sie verwarf. Und dann entdeckte sie etwas, das sie bisher übersehen hatte. Direkt hinter der Tür lehnte etwas sehr Großes, Rechteckiges an der Wand. Es war ebenfalls mit einem Leinentuch abgedeckt und etwas tiefer als ein Bild. Ludmilla ging auf die Tür zu und schloss sie fast ganz. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, so dass nur durch den Spalt der Tür etwas Licht vom Flur in das Zimmer hineinfiel. Ludmilla konnte das Laken kaum entfernen. Das, was sich darunter befand, war größer als sie selbst und sehr schwer. Deshalb schlug sie das Laken, so weit sie konnte, zurück. Sie wollte erst einmal sehen, was sich darunter verbarg, bevor sie sich die Mühe machte, das ganze Laken zu entfernen. Bei den restlichen Möbeln hatte sich die Mühe nicht gelohnt. Genervt sah sie in das Zimmer. Und sie musste auch noch alles wieder zudecken.
»Wer weiß, wann Mina das nächste Mal das Zimmer betritt. Dann muss alles wieder aussehen wie vorher«, knurrte sie vor sich hin. Endlich wandte sie sich dem zu, was sie gerade aufgedeckt hatte, und es verschlug ihr den Atem.
Es war ein Spiegel. Ein riesiger, wunderschöner Spiegel. Der Rahmen war aus dunklem Ebenholz und mit einem geschnitzten Muster versehen. Auf den Leisten lagen goldene Farbe und zusätzliche goldene Verzierungen. Er war übersät mit Ornamenten, Blumen, Ranken, Blättern und Zeichen. Ludmilla entdeckte Schriftzüge, die ihr völlig fremd waren. Das Gold auf dem dunklen Holz glänzte, als wäre es gerade erst poliert worden. Sie kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Sie musste sich unbedingt den gesamten Spiegel anschauen. In diesem Moment konnte sie gerade einmal die Hälfte davon betrachten.
Aber das Laken komplett zu entfernen war schwieriger, als sie gedacht hatte. Es war über den Spiegel gelegt und klebte an der Wand. Der Spiegel könnte umfallen, wenn sie an dem Laken zog. Sie überlegte. Direkt neben der Tür stand ein alter Ohrensessel mit einem scheußlichen, verblassten Blumenmuster. Ludmilla schüttelte missbilligend den Kopf, während sie ihn vorsichtig in Richtung des Spiegels schob. Wie konnte Mina etwas so Hässliches aufbewahren? Das Parkett quietschte und knarrte. Der Sessel aber blieb stumm. Er glitt fast geräuschlos über den Boden .
»Hallo, Verbündeter!«, feixte Ludmilla. »Du bist zwar hässlich, aber zweckdienlich.« Zweckdienlich . Ein schönes Wort. Ludmilla liebte es, Wörter zu sammeln. Wohlklingende Wörter, skurrile Wörter, bösartige Wörter, romantische Wörter. Alle Wörter, die ihrer Meinung nach irgendwie besonders klangen oder einen bestimmten Ausdruck hatten oder sie einfach nur ansprachen. Zweckdienlich war ein solches Wort. Grinsend schob sie den Sessel links neben den Spiegel und stieg darauf. Jetzt konnte sie vorsichtig das Laken von dem oberen Ende des Spiegels lösen. Zweckdienlich! Ludmilla gluckste. Das musste sie sofort in ihrem Büchlein zu ihrer Wörtersammlung hinzufügen!
Aber jetzt erst einmal der Spiegel: Als sie den Rest des Lakens herunterzog, verschlug es ihr abermals die Sprache. Am oberen Rand des Spiegels gab es zusätzliche Malereien aus Gold, die eine Geschichte zu erzählen schienen. Das musste sie sich genauer anschauen. Sie wusste zwar nicht, ob es der Spiegel war, den Mina versteckt hielt, aber irgendwie machte es Sinn. Wieso sollte Mina etwas so Schönes in einem verschlossenen Zimmer stehen lassen? Das musste einen Grund haben. Nur welchen? Nachdenklich betrachtete sie den Spiegel. Und plötzlich fiel ihr auf, wie dunkel es geworden war. Und spät. Sie hatte die Zeit völlig vergessen und hatte keine Ahnung, wann Mina zurück sein würde.
Es fiel ihr schwer, aber sie musste sich an die Arbeit machen und die Möbel wieder mit den Laken bedecken. Dabei starrte sie immer wieder den Spiegel an. Er war zu faszinierend. Zumindest von den Malereien und den Schriftzeichen wollte sie mit ihrem Handy ein Foto machen. Damit könnte sie im Internet recherchieren, um welche Schriftzeichen es sich handelte. Vielleicht würde sie so auch etwas über die Herkunft des Spiegels herausfinden. Als sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche zog, bemerkte sie, dass der Akku leer war. Ludmilla fluchte. Ihr lief die Zeit davon. Das musste bis zum nächsten Mal warten. Schweren Herzens bedeckte sie schließlich den Spiegel mit dem Laken und verließ das Zimmer.