Drittes Kapitel
Das Gesicht
Sie schloss die Tür und lief den Flur entlang. Als sie die Treppe erreicht hatte, hörte sie das Auto ihrer Großmutter in die Einfahrt fahren. Das Garagentor quietschte laut. Hastig wollte sie gerade die Treppe hinunterlaufen, da hörte sie ein leises Klicken. Ludmilla hielt inne und schaute zurück in den Gang. Noch während sie angestrengt in die Dunkelheit starrte und sich fragte, was das für ein Geräusch gewesen war, entdeckte sie ein schwaches Licht, das den Flur erhellte. Als käme es aus dem Zimmer, dessen Tür sie gerade geschlossen hatte. Sie zuckte zusammen. Was jetzt? Sie schaute die Treppe hinunter und dann wieder den Flur entlang. Mit klopfendem Herzen lief sie zurück zu dem Zimmer. Die Tür stand sperrangelweit offen. Das Zimmer leuchtete in dem goldenen Licht, das Ludmilla vor ein paar Monaten schon einmal gesehen hatte.
Sie starrte staunend in den Raum, als sie die Autotür von Minas Auto hörte, die ins Schloss fiel. Panisch ergriff sie die Türklinke und zog die Tür zu. Zur Sicherheit drückte sie sich gegen die Tür. Sie öffnete sich nicht noch mal. Durch den Türspalt am Boden kroch das goldene Licht in den Flur. Entsetzt starrte Ludmilla auf den erleuchteten Boden. »Bitte hör auf zu leuchten. Du verrätst mich noch!«, flüsterte sie. Dann sprintete sie den Flur entlang, sprang die Treppe hinunter, mehrere Stufen auf einmal nehmend, und rannte in ihr Zimmer. Währenddessen hörte sie, wie Mina die Haustür aufschloss. Hastig schaltete sie ihre Schreibtischlampe an und schlug ein Lehrbuch auf, das auf dem Schreibtisch lag.
Sekunden später steckte Mina den Kopf zur Tür rein. »Du lernst noch?« Mina kam in das Zimmer. »Hast du morgen einen Test?«, fragte sie prüfend.
Ludmilla versuchte, einen gelassenen Gesichtsausdruck aufzusetzen, und unterdrückte ihren schweren Atem. »Nein, aber ich will vorbereitet sein.«
Sie hustete leicht. Als Mina sie weiter fragend ansah, blaffte sie sie an: »Sei doch froh, dass ich mich fortbilde!« Das Wort »fortbilde« sprach sie betont langgezogen und gekünstelt aus.
Mina hob spöttisch die Augenbrauen. »Ja, sicher, Ludmilla. Nur, das Buch habe ich im Wohnzimmer gefunden und hatte es dir auf deinen Schreibtisch gelegt. Es ist über ein Jahr alt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich damit noch fortbilden kannst.« Mina warf ihr ein überlegenes Lächeln zu und ergriff die Türklinke.
Ludmilla starrte entgeistert auf das Buch. Ihre Wangen fingen an zu glühen.
»Vergiss nicht, die Zähne zu putzen, bevor du schlafen gehst. Ich gehe jetzt ins Bett«, erklärte ihr Mina sachlich.
Ludmilla warf ihr einen erstaunten Blick zu. Sie konnte kaum glauben, dass Mina nichts weiter dazu sagen wollte.
»Gute Nacht, Schätzchen!«, flötete Mina nur und zog die Tür hinter sich zu.
Später in der Nacht konnte Ludmilla nicht einschlafen. Der Spiegel und das goldene Licht gingen ihr nicht aus dem Kopf. Kam das Licht von dem Spiegel? War es das? Er war übersät von dieser goldenen Farbe. Das passte irgendwie zusammen. Und dann fiel es ihr siedend heiß ein: die Taschenlampe. Sie hatte die Taschenlampe in dem Zimmer vergessen. Sie musste noch mal in das Zimmer. Aber natürlich nur, um die Taschenlampe zu holen. Nicht, um den Spiegel zu betrachten. Sie grinste. Sie konnte einfach nicht widerstehen .
Ludmilla wartete noch eine Weile, um sicherzugehen, dass Mina schlief. Als sie sich endlich einen Ruck gab, war es weit nach Mitternacht, und Mina schlief tief und fest. Vorsichtig schlich Ludmilla die Stufen hinauf. Sie kannte die Treppe in- und auswendig und wusste genau, welche Treppenstufen besonders laut knarrten. Die hätten sie bestimmt verraten. Aber gerade in diesem Moment knarrten alle Treppenstufen, und zwar so laut, dass es im gesamten Haus widerhallte. Das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Was sollte sie Mina sagen, wenn sie sie im ersten Stockwerk des Hauses antraf? Atemlos blieb sie auf der Treppe stehen und horchte nach unten. Alles still.
Oben angekommen, zögerte sie. Sollte sie es wagen, das Licht einzuschalten? Es war einer dieser altmodischen Schalter, die man drehen musste und die ein klickendes Geräusch machten. Aber ohne das Licht vom Flur würde sie die Taschenlampe nicht finden können. Also musste sie es riskieren. Sie konnte nicht darauf spekulieren, dass das mysteriöse Leuchten wieder auftauchte. Das klickende Geräusch hallte den Flur entlang. Ludmilla horchte angestrengt. Alles blieb still. Also weiter. Zur Tür. Mit zittriger Hand drückte sie die Klinke nach unten. Die Tür gab nicht nach. Ludmilla stutzte und versuchte es erneut. Ohne Erfolg. Inzwischen raste ihr Herz. Was sollte das schon wieder? Während sie ratlos die Tür anstierte, öffnete sie sich plötzlich ganz langsam von selbst und blieb einen Spaltbreit offen stehen.
Jetzt fehlt nur noch ein Knarren, und ich stecke mitten in einem dieser absurden Gruselfilme, dachte sie und presste angestrengt die Zähne aufeinander. Sie zögerte eine Weile und stand unschlüssig vor dem Zimmer. Dann drückte sie die Tür mit ihrem nackten Fuß einen weiteren Spalt auf. Die Taschenlampe stand zwei Schritte von ihr entfernt auf dem Fußboden. Von ihrer Position aus konnte Ludmilla den Spiegel nicht sehen. Unentschlossen stand sie auf der Türschwelle. Sie hatte beide Hände zu Fäusten geballt, ihr Herz raste und sie atmete schneller. »Jetzt sei kein Angsthase!«, murmelte sie und machte einen großen Schritt in das Zimmer .
Hastig ergriff sie die Taschenlampe und wandte sich zum Gehen, als es unter dem Leinentuch zu leuchten begann. Ludmilla hielt inne und starrte den Spiegel an. Also doch! Das seltsame Licht kam von dem Spiegel. Aber wie konnte das sein? Ja, sie hatte viele verrückte Dinge in diesem Haus erlebt. Türen, die sich verselbstständigten, Holzdielen und selbst Möbel, die ein regelrechtes Eigenleben hatten, wenn es darum ging, Geräusche von sich zu geben. Aber ein Leuchten? Das war etwas Neues. Sie war hin- und hergerissen. Einerseits war sie neugierig und wollte unter das Leinentuch schauen, andererseits hatte sie panische Angst. Das, was hier passierte, konnte sie sich nicht erklären. Mit Logik nicht und auch sonst nicht.
Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und hob mit spitzen Fingern das Leinentuch an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie realisierte, dass der gesamte Spiegel leuchtete. Es war nicht nur der Rahmen, dessen Goldverzierungen, die regelrecht in Brand standen, sondern auch das Spiegelglas selbst leuchtete. Es war ein Leuchten, als ob sich die Sonne darin spiegelte. Ludmilla stand mit aufgerissenen Augen davor. Vorsichtig schlug sie das Tuch noch weiter zurück. Jetzt konnte sie auch ein Teil ihres eigenen Spiegelbildes erkennen.
Und auch ihr Spiegelbild leuchtete, es brannte buchstäblich. Ludmilla wich stolpernd zurück. Sie sah ihr viel zu großes T-Shirt, das sie nur zum Schlafen trug, die Shorts und ihre nackten Füße, die genauso leuchteten wie der Rest des Spiegels. Dann sah sie an sich hinunter – und sie leuchtete nicht! Natürlich nicht. Nur ihr Spiegelbild. Was ging hier vor?
Noch bevor Ludmilla einen weiteren klaren Gedanken fassen konnte, nahm sie eine Bewegung am oberen Teil des Spiegels war. Am höchsten Punkt des rechteckigen Rahmens schob sich etwas aus dem Rahmen heraus. Ein winzig kleines Gesicht, vollkommen in Gold getaucht und mit dicken Backen, bildete sich auf dem Leinentuch ab. Ludmilla entfuhr ein unterdrückter Aufschrei. Sie schlug sich die Hand auf den Mund und machte einen Schritt nach hinten, so dass sie gegen die Tür stieß. Die Tür schwang zu und wäre fast mit einem lauten Knall ins Schloss gefallen, hätte Ludmilla nicht in letzter Sekunde die Klinke zu fassen bekommen. Ihr Herz pochte wie wild. Sie stand schwer atmend an der Tür und starrte den Spiegel an. So sehr sie auch versuchte, sich zusammenzureißen, den einzigen klaren Gedanken, den sie fassen konnte, war FLUCHT. Sie traute sich nicht mehr, das Leinentuch wieder über den Spiegel zu ziehen. Ihr Griff um die Taschenlampe wurde fester, als sie die Tür schloss.
Ludmilla lief, so schnell sie konnte, auf Zehenspitzen den Flur entlang. Sie drehte sich immer wieder panisch um. Dieses Mal blieb die Tür zum Zimmer geschlossen.
Als sie an der Treppe ankam, hörte sie ganz leise eine Stimme rufen: »Ludmilla! Ludmilla!« Sie erstarrte. Die Stimme gehörte nicht Mina. Immer wieder rief jemand ihren Namen. Es war mehr ein Flüstern, das im Flur und in Ludmillas Kopf widerhallte. Die Stimme war hoch, warm und freundlich. Die Panik schnürte ihr die Kehle zu. Ludmilla schaltete vorsichtig das Licht im Flur aus. Natürlich gab der Schalter wieder das hässliche laute Geräusch von sich. Aber das war jetzt auch egal. Mina war bestimmt schon wach geworden. Jetzt ging es nur darum, so schnell wie möglich ins Erdgeschoss zu gelangen und eine gute Ausrede parat zu haben.
So leise wie möglich rannte Ludmilla in ihr Zimmer und verkroch sich unter ihre Decke. Erst dann wagte sie, wieder zu atmen. Sie presste sich die Decke auf den Mund und keuchte. Mit rasendem Herzen saß sie in ihrem Bett und horchte. Nichts. Alles still. Sie horchte und horchte. Und dann hörte sie es wieder: »Ludmilla! … Ludmilla!«, hallte es immer wieder durch das gesamte Haus und blieb in Ludmillas Kopf stecken. Es war kein Flüstern, sondern ein Ruf. Ein Ruf des Spiegels, oder bildete sie sich das nur ein?