Viertes Kapitel
Das Spiegelzimmer
Ludmilla schlief schlecht in dieser Nacht. Immer wieder träumte sie von dem Spiegel, dem Leuchten und von Mina, wie sie sie vor dem Spiegel erwischte. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie immer noch müde. Sie blieb eine Weile liegen und dachte darüber nach, ob sie es noch einmal wagen sollte, zu dem Spiegel zu gehen. Ihre Neugier war sehr groß. Eigentlich war bisher nichts Gefährliches oder Schlimmes passiert, versuchte sie sich zu beruhigen. Aber sie konnte sich das Leuchten nicht erklären, und dass mitten in der Nacht jemand oder etwas ihren Namen rief, machte ihr Angst. Schließlich beschloss sie, den Gedanken erst mal ruhen zu lassen. Sie konnte sich nicht entscheiden.
Als sie in die Küche kam, saß Mina am Küchentisch, trank ihren Tee und las die Zeitung. Sie hatte wie immer einen grauen Rock mit einer weißen Bluse und einer Strickjacke darüber an. Ihre Füße steckten in schwarzen Slippern. Ludmilla hatte sich ihr blaues Lieblingskapuzensweatshirt übergezogen und ging barfuß zur Teekanne, die neben dem Herd stand.
»Guten Morgen«, murmelte sie verschlafen und beobachtete Mina dabei aus den Augenwinkeln. Mina reagierte nicht sofort. Sie nickte kurz und war in ihren Artikel vertieft. Ludmilla atmete innerlich erleichtert auf. Also hatte Mina in der Nacht nichts gehört. Sonst würde sie sie genau jetzt einem Kreuzverhör unterziehen.
Schließlich blickte Mina auf und sah Ludmilla prüfend an. » Hast du gut geschlafen? Du siehst schrecklich aus«, stellte sie knapp fest.
»Vielen Dank für das reizende Kompliment«, meckerte Ludmilla sie an.
Mina verkniff sich ein Lachen. Stattdessen fragte sie weiter: »Geht es dir gut? Ich meine es ernst. Du siehst krank aus. Zum Glück ist Wochenende. Da kannst du dich ausruhen. Magst du dich vielleicht noch einmal hinlegen?« Sie sah sie besorgt an.
Ludmilla aber, die Minas Fürsorglichkeit in diesem Moment schrecklich nervte, verzog den Mund. Bevor sie sich zusammenreißen konnte, giftete sie sie weiter an: »Mir geht es gut! Ich bin nicht krank. Kein Grund zur Sorge.«
Mina zog erbost die Augenbrauen hoch. »Also gut, Fräulein. Aber mäßige deinen Ton!« Mina scheute zwar die Konfrontation, aber sie bestand auf einem respektvollen Umgang.
Ludmilla zögerte, murrte dann ein »Ja, in Ordnung, Entschuldigung« und setzte sich zu Mina an den Küchentisch. Eigentlich wollte sie gar nicht so biestig sein. Sie gefiel sich selbst nicht, wenn sie sich so verhielt. Aber sie konnte manchmal nicht aus ihrer Haut. Und auch wenn es klüger gewesen wäre, Mina nach dieser Nacht nicht so anzublaffen, sie konnte sich nicht beherrschen. Jetzt tat es ihr leid.
»Hast du Pläne für das Wochenende?«, fragte sie Mina versöhnlich.
Mina sah verwundert von ihrer Zeitung auf. »Nein, warum? Du?«
Ludmilla schüttelte den Kopf. Sie hatte fast nie Pläne für das Wochenende. Ihr Leben war insgesamt sehr langweilig. Die Wochenenden verbrachte sie entweder mit Mina zu Hause oder in der Bibliothek. Zwar hatte sie ein Handy, ein Tablet und einen eigenen Computer, aber da sich ihre Großmutter energisch weigerte, technische Neuerungen im Haus einzuführen, war Ludmilla gezwungen, einen Teil ihrer Hausaufgaben in der Bibliothek zu machen. Sie hatte so oft mit Mina über die Notwendigkeit von Internet und WLAN diskutiert, und das ohne Erfolg, dass sie es inzwischen aufgegeben hatte. Mina ließ sich nicht beirren: Sie empfand das Internet als völlig überflüssig und unnötig. Da war nichts zu machen.
»Wozu brauchst du dieses Internet, wenn du alles in der Bibliothek nachlesen kannst?«, argumentierte Mina immer. In Minas Augen war die Bibliothek genau der richtige Ort für Teenager in Ludmillas Alter. »Dort kannst du doch auch deine Freunde treffen. Oder du nimmst sie mal mit zu uns nach Hause und lernst hier mit ihnen?«, versuchte Mina das Positive aus der Situation herauszukehren.
Ludmilla verdrehte dann immer die Augen. Sie hatte keine Freunde, die sie mit nach Hause bringen wollte. Schon gar nicht zum Lernen. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin und lernte mit Vorliebe allein. Aber vor allem lernte sie am liebsten in der Bibliothek. Nicht nur, weil sie dort das WLAN nutzen konnte, sondern auch, weil es dort jede Menge interessanter Bücher gab. Ludmilla liebte Bücher. Sie vertiefte sich gern in irgendwelche Sachbücher, die sie durch Zufall entdeckte. Für ihre Hausaufgaben brauchte sie meist nicht lange. Aber auch das brauchte Mina nicht zu wissen. Wenn es Ludmilla langweilig war, ging sie in die Bibliothek. Also verbrachte sie ihr halbes Leben in der Bibliothek. Zumindest kam es Ludmilla so vor.
Dieses Wochenende wollte sie unbedingt etwas über die Schriftzeichen auf dem Spiegel herausfinden. Zu dumm, dass sie kein Foto hatte machen können. Aber vielleicht konnte sie das eine oder andere Schriftzeichen aus dem Kopf aufmalen. Bei dem Gedanken an den Spiegel lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie hatte es gerade einmal für ein paar Minuten vermeiden können, daran zu denken. Sofort erinnerte sie sich wieder an das Leuchten, das kleine Gesicht und die Stimme. Davon bekam sie Gänsehaut. Und dennoch: Sie konnte nicht aufhören, daran zu denken.
Ludmilla verbrachte den restlichen Tag in der Bibliothek und versuchte, irgendetwas über den Spiegel herauszufinden. Ohne Erfolg. Weder die Schriftzeichen hatte sie in einem der vielen Bücher über Schriftkunde finden können, noch hatte eine der zahlreichen Suchmaschinen etwas über leuchtende Spiegel ausgespuckt.
Völlig genervt und müde kam sie nach Hause. Mina hatte sie sogar auf dem Handy angerufen und gefragt, wann sie käme. Mina rief sie fast nie auf dem Handy an. Nur, wenn sie sich wirklich Sorgen machte oder verstimmt war.
An dem Abend schwiegen die beiden sich an. Ludmilla ignorierte Minas prüfende Blicke und ging direkt nach dem Abendessen in ihr Zimmer.
»Wollen wir nicht noch schauen, ob es etwas im Fernsehen gibt?«, rief Mina ihr hinterher.
Ludmilla winkte ab und drehte sich nur halb um. »Ich bin müde, entschuldige, Mina, ich gehe gleich ins Bett.«
Mina schaute ihr kritisch nach. Irgendetwas stimmt mit ihr nicht. Ludmilla war unausgeglichener als sonst. Sie wirkte angestrengt. Mina hatte sich den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, was wohl mit ihr los war. Sie konnte jedoch noch nicht herausfinden, was es war.
Mitten in der Nacht wachte Ludmilla auf. Sie schreckte hoch, und da hörte sie es: Wieder und wieder hallte der Ruf durch das Haus. »Ludmilla … Ludmilla …!« Es war ein Singsang in der Stimme, der etwas Vertrauliches an sich hatte. In Ludmilla stieg Panik auf. Wenn Mina davon aufwachte? Sie musste etwas dagegen tun.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und lief mit nackten Füßen die Treppe hinauf. Dieses Mal ließ sie das Licht aus. »Der Spiegel leuchtet doch eh«, murrte sie vor sich hin. Sie fror am ganzen Körper und hatte einen Kloß im Hals. Dennoch wollte sie um keinen Preis, dass Mina erfuhr, dass sie das Zimmer aufgeschlossen und den Spiegel entdeckt hatte. Also hatte sie keine Wahl. Sie musste diese Stimme zum Schweigen bringen. Nur wie?
Unschlüssig stand sie vor der Tür. Das goldschimmernde Leuchten kroch auf dem Boden durch den Türspalt. Ludmilla zögerte. Da ertönte der nächste Ruf: »Ludmilla!« Sie zuckte zusammen und drückte die Türklinke hinunter. Während sie in das Zimmer trat, zischte sie unaufhörlich: »Sch, sch. Nicht so laut. Ich bin ja da. Jetzt hör endlich auf, nach mir zu rufen.«
»Was ist das kleinere Übel? Von Mina eine Standpauke zu bekommen oder sich mit diesem Ding rumzuschlagen?«, fragte sie sich missmutig, als sie auf den Spiegel zutrat. Das alles war ihr nicht geheuer. Dieses Mal brannte der Spiegel regelrecht. Die Ranken und Blumen und Ornamente auf seinem Rahmen glühten, als stünden sie in Flammen. Ludmilla bestaunte dies mit einem gewissen Abstand.
Das Rufen war verstummt, und so konnte sie sich auf den Spiegel und sein Leuchten konzentrieren. Allmählich wurde sie ruhiger. Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus. Der Spiegel strahlte keine Wärme ab. »Also kein Feuer!«, murmelte sie vor sich hin und legte den Kopf schräg.
Ihr Blick blieb an ihrem eigenen Spiegelbild hängen. Wie sie dastand! Die langen dunkelroten Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Ihre blauen Augen funkelten sie durch den Spiegel an. Auch ihr Spiegelbild leuchtete. Immer noch ungläubig starrte Ludmilla an sich hinunter. Ihr Körper war nur leicht beleuchtet. Kein Brennen, kein Glühen. Aber wieso dann ihr Spiegelbild? Bevor sie noch einen weiteren klaren Gedanken fassen konnte, bemerkte sie, dass sich die Verzierungen auf dem Rahmen des Spiegels veränderten. Sie verformten sich zu glühenden Schriftzeichen, Buchstaben, Chiffren. Ludmilla fluchte innerlich, dass sie ihr Handy nicht dabeihatte. Das konnte sie sich unmöglich alles merken.
Noch während sie damit beschäftigt war, sich die Schriftzeichen einzuprägen, nahm sie eine Bewegung am obersten Rand des Rahmens wahr. Genau in der Mitte des Rahmens trat ein kleines Gesicht hervor. Es hatte rote, glühende Augen, dicke Backen und volle Lippen. Wie ein Raffael-Engel. Ludmilla stieß einen unterdrückten Schrei hervor und stolperte rückwärts. Sie atmete schwer, aber sie zwang sich hinzusehen.
Da öffnete sich der Mund und es ertönte eine warme, hohe Stimme: »Tritt ein!«
Ludmilla schluckte.
»Tritt ein!«, hauchte das Miniaturgesicht. »Tritt ein, Ludmilla!«
War das ein schlechter Scherz? Wohin denn eintreten? Ludmilla sah sich um. Um sie herum war alles dunkel.
»Tritt ein, Ludmilla. Du wirst erwartet, tritt ein!«
Wieder schaute sich Ludmilla um. Das konnte nicht echt sein. War das ein Traum? Sie kniff sich vorsichtshalber in den Arm. Aber das Gesicht blieb. Es fing an, in seiner hellen, lieblichen Stimme zu summen. Eine wunderschöne, beruhigende Melodie ertönte. Wäre da nur nicht dieses fratzenhafte Miniaturgesicht, das glühte und ihren Namen kannte und ihr panische Angst einjagte.
Seltsam nur, dass Ludmilla dieses Mal nicht fluchtartig den Raum verließ. Irgendetwas hielt sie davon ab. Sie blieb. Und nachdem das Gesicht schon eine Weile gesummt hatte, trat Ludmilla wie in Trance auf den Spiegel zu, berührte ihr Spiegelbild und schloss die Augen.