Fünftes Kapitel
Eldrid
Als Ludmilla die Augen wieder öffnete, lag sie in einer Höhle. Hinter ihr stand ein Spiegel. Aber er leuchtete nicht.
Sie sprang auf. »Wo bin ich?«, fragte sie laut. Sie drehte sich im Kreis. Der Boden unter ihren nackten Füßen war warm und ein wenig feucht. Sie hörte Wasserrauschen. Wie von einem Wasserfall. Ludmillas Herz klopfte wie wild. Was ging hier vor? Ungläubig blickte sie den Spiegel an. Er stand gegen eine Felswand gelehnt und sah genauso aus wie der Spiegel im Haus ihrer Großmutter. Nur das Laken fehlte.
Zögerlich trat Ludmilla auf den Spiegel zu und versuchte, dahinter zu schauen. Sie presste ihr Gesicht an die Felswand. Aber hinter dem Spiegel war nur die Felswand, gegen die sie sich gerade lehnte. Fassungslos betastete sie die Wand. Sie war warm, genauso wie der Boden. Ihre nackten Füße befühlten den Boden, der ungewöhnlich weich für einen Höhlenboden war.
Mit zittrigen Fingern tastete sie den Spiegel ab. Als würde sie nach einem Knopf oder Hebel suchen, der sie zurückbrächte. Aber da war kein Knopf. Und auch kein Hebel. Weder auf dem Rahmen noch auf dem Spiegelglas selbst. Ludmillas Atem ging schnell, Panik stieg in ihr auf. Sie starrte in den Spiegel. In diesem Moment fiel es ihr auf: Sie konnte sich nicht darin spiegeln. Ungläubig berührte sie das Glas. Kein Spiegelbild! Als wäre der Spiegel erblindet. War das wirklich derselbe ?
»Wo zum Teufel bin ich hier?«, fragte sie laut. Sie drehte sich um und schaute angestrengt in die Höhle.
Die Wände schimmerten golden und hatten eine samtige, beige Farbe. Dieser Schein tauchte den Raum in ein warmes, dämmriges Licht, so dass genug zu erkennen war, ohne dass es gleißend hell war.
»Wie das Leuchten des Spiegels«, murmelte Ludmilla vor sich hin. Sie blickte nach oben und erkannte weit entfernt die Höhlendecke. Es war eine riesige Höhle mit einer extrem hohen Decke.
In der Mitte befand sich eine Feuerstelle. Etwas weiter links davon konnte Ludmilla einen Gang erkennen, der aber eine Biegung machte, so dass nicht zu sehen war, wo er hinführte. Es war ein schmaler Gang, der nicht ganz so hoch war wie die Höhle selbst. Er war der einzige Weg, also musste er auch irgendwohin führen. Nach draußen? Nur, wo war draußen? Und was war draußen?
Unschlüssig trat Ludmilla auf der Stelle. Neugierig reckte sie sich, um die Feuerstelle besser sehen zu können. Dabei hielt sie sich am Spiegel fest, als würde er ihr Halt geben. Sie konnte ein kleines Feuer erkennen. Strohballen lagen um die Feuerstelle herum, im Kreis angeordnet, und ein angenehmer Geruch war in der Luft. Sie konnte niemanden entdecken. Sie war allein. Allein mit diesem Spiegel.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war sich Ludmilla nicht sicher, was sie tun sollte. Ihre sonst so vorlaute Art war verschwunden. Tränen traten ihr in die Augen. Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen, das nur noch nach Hause in ihr Bett wollte. Sie rieb mit dem nackten Fuß an ihrem Bein. Was sollte sie nur tun? Sie ließ sich auf den Boden neben den Spiegel sinken, zog die Beine an und vergrub ihr Gesicht zwischen ihre Knie. Denk nach, Ludmilla! Denk!, befahl sie sich. Aber alles, woran sie sich erinnerte, war, dass dieses Miniaturfratzengesicht eine Melodie gesummt hatte und dann die Erinnerung abbrach. Zweifelnd blickte sie an dem Spiegel hoch. Das kleine Gesicht thronte auf dem höchsten Punkt des Rahmens und war stumm .
»Jetzt rufst du nicht mehr meinen Namen, was?«, giftete Ludmilla das Gesicht wütend an. Ihre Worte hallten in der Höhle wieder, so dass sie zusammenzuckte und sich panisch umsah. Nicht, dass sie jemand gehört hatte und jetzt in die Höhle kam. Aber vielleicht könnte sie dann Fragen stellen. Nur was wäre, wenn jemand kam und gar keine Fragen beantworten konnte oder wollte? Sie war ein Eindringling. Unschlüssig starrte sie immer wieder den Spiegel an. Aber dieser blieb stumm. Genauso wie das Miniaturgesicht, das auf dem Rahmen ruhte und sich nicht rührte.
Nach einer Weile des Wartens und des Grübelns beschloss Ludmilla, sich ein wenig umzusehen. Vorsichtig und ganz langsam durchquerte sie die Höhle. Immer wieder drehte sie sich zum Spiegel um, den sie nicht aus den Augen lassen wollte. Mehr als die Feuerstelle und die Strohballen konnte sie aber nicht entdecken. Je weiter sie in die Höhle hineinging, desto mehr rückte der Spiegel in den Schatten des hinteren Teils der Höhle, der dunkler war als der Rest. Schon von der Mitte aus konnte Ludmilla den Spiegel nicht mehr sehen. Es war, als machte er sich unsichtbar.
Ludmilla zögerte kurz, aber dann siegte ihre Neugier. »Ich kann ja nicht ewig neben diesem Ding hocken. Irgendetwas muss ich unternehmen«, stellte sie fest und trippelte unsicher den Gang entlang.
Der Gang machte viele Biegungen, jedoch ohne Abzweigung. Nach einigen Metern wurde er breiter, und das Rauschen, das sie bereits in der Höhle gehört hatte, wurde immer lauter. Als sie um eine weitere Ecke bog, erkannte sie den Ausgang. Er lag groß und breit vor ihr, und warmes helles Sonnenlicht schlich sich in den Gang hinein. Das Rauschen wurde zu einem Getöse. Als Ludmilla hinaustrat, blickte sie genau in einen Wasserfall, der vor dem Eingang der Höhle in die Tiefe rauschte. Ludmilla trat ganz nah heran, so dass sie einzelne Spritzer abbekam. Der Wasserfall hatte so viel Kraft, dass sich schon kleine Tropfen wie winzige Nadeln auf der Haut anfühlten. Das Wasser war eiskalt. Die Spritzer sahen aus wie Funken, so eigenartig fingen sie die Sonnenstrahlen ein.
Ludmilla schaute sich nach allen Seiten um. Wo war sie? Unsicher schaute sie in den Gang hinein, der in die Höhle zurückführte. Und jetzt? Auf beiden Seiten des Wasserfalls waren nur Felswände zu sehen, an denen jeweils ein kleiner Weg weg von der Höhle führte. Beide Wege sahen fast identisch aus. Sie waren in den Felsen geschlagen, endeten aber in moosbedeckten Trampelpfaden. Es kam ihr fast so vor, als ob ein Spiegel genau am Ausgang der Höhle angelegt worden wäre. Ludmilla konnte keinen Unterschied zwischen dem Weg rechts von der Höhle weg und links von der Höhle weg erkennen. Nur der Ausgang der Höhle selbst neigte sich ein ganz klein wenig nach links. Das war für Ludmilla die Entscheidungshilfe. Sie wählte den linken von den beiden Wegen, weg von der Höhle, weg von dem Wasserfall, aber auch weg vom Spiegel.
Als Ludmilla fast den Trampelpfad erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal um. Sollte sie es wirklich wagen und sich so weit von dem Spiegel entfernen?
»Habe ich eine Wahl?«, fragte sie sich laut. »Das Ding leuchtet nicht, und das Fratzengesicht singt nicht, was der Weg zurück zu sein scheint. Also kann ich mich auch ein wenig umschauen.« Und bekräftigend fügte sie hinzu: »Außerdem kann ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.«
Sie war nur in das viel zu große weiße T-Shirt und die gestreiften Shorts gekleidet, die sie zum Schlafen trug. Aber es war warm, wie an einem Sommertag, und selbst die nackten Füße störten sie nicht.
Der Trampelpfad führte direkt in einen Wald und entfernte sich schnell vom Wasserfall. Ludmilla hätte zu gern das Ende des Wasserfalls gesehen, aber das Gebüsch und die angrenzenden Bäume verwehrten ihr die Sicht. Nur das tosende Wasser war zu hören, das mit viel Schaum und Dampf in die Tiefe stürzte. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis dieses Geräusch leiser wurde. Ludmilla lief weiter in den Wald hinein, drehte sich aber immer wieder um. Bei aller Neugier wollte sie sich nicht verlaufen.
Der Wald war wundervoll. Er war voller Nadel- und Laubbäume. Alle waren hochgewachsen, und ihre riesigen Baumkronen verwehrten den Blick in den Himmel. Die dichten Büsche, Sträucher und Gräser, die den Boden überdeckten, erinnerten an einen Urwald und passten nicht recht zu den Bäumen. Ludmilla hatte einen solchen Wald noch nie gesehen. Das Geräusch des Wasserfalls wurde langsam leiser, und Ludmilla blieb stehen, um den Stimmen des Waldes zu lauschen. Sie hörte Vögel merkwürdige Melodien trällern und hatte den Eindruck, dass es traurige und düstere Lieder waren. Doch bevor sie sich darüber weitere Gedanken machen konnte, bemerkte sie, wie dunkel es in dem Wald war. Er war so dicht gewachsen, dass kaum Licht bis zum Waldboden durchdrang. Am Wasserfall war es viel heller gewesen. Hier war es eher so, als würde es gerade dämmern. Hoffentlich wird es hier nicht gleich dunkel, dann sehe ich nichts mehr, dachte Ludmilla.
Doch ihre Zweifel wurden binnen kürzester Zeit von immer neuen Entdeckungen überdeckt: Es gab vielfältige Facetten von dunklen Farben, die sie in der Natur noch nie gesehen hatte. Die Farben der Blätter und selbst der Baumstämme tauchten den Wald in ein Dämmerlicht. Ludmilla konnte sich an den nachtblauen Blättern, tiefroten Blumen, die an Rotwein oder Blut erinnerten, und fast schwarzen Baumstämmen gar nicht sattsehen. Nur noch ein paar Meter, entschied sie. Sie konnte nicht anders. Sie konnte jetzt noch nicht umkehren. Sie wollte mehr sehen.
Ludmilla ging immer tiefer in den Wald hinein, bestaunte die Schönheiten, die er ihr bot, und vergaß für eine kurze Zeit ihre Fragen und Bedenken. Sie war wie berauscht von dem Duft, den die Blumen verströmten, und von dem melancholischen Gesang der Vögel. Die Bäume schienen uralt zu sein, ihre Stämme waren so dick, dass Ludmilla sie nicht hätte umfassen können. Der Weg glich mehr einem Trampelpfad, der mit dunklen geschwärzten Tannennadeln bedeckt war. Bei jedem Schritt sank sie in die Tannennadeln ein und hinterließ einen Fußabdruck. So hinterlasse ich eine Spur, die ich zurückverfolgen kann, dachte sie zuversichtlich.
Was sie nicht bemerkte, war, dass die Tannennadeln sich wieder hoben und der Fußabdruck dadurch verschwand. Ludmilla bemerkte auch nicht die kleinen Feen mit ihren dunklen durchsichtigen Flügeln, die hinter ihr herflogen und sie misstrauisch beäugten. »Was will sie hier? Wer hat sie hereingelassen?«, zischten sie sich unentwegt zu. Und sie bemerkte die schwarzen Vögel nicht, die aussahen wie Krähen und jeden ihrer Schritte lautlos aus der Luft verfolgten.
Irgendwann wurde es Ludmilla dann doch mulmig zumute, und sie drehte sich um. Sie hatte sich ablenken lassen, aber jetzt wollte sie wieder zum Spiegel zurückkehren. Ihr Herz begann wie wild zu pochen, als sie bemerkte, dass ihre Fußspuren verschwunden waren. Hatte es eine Abbiegung gegeben? War sie noch so nahe an dem Wasserfall, dass sie einfach dem Geräusch nachgehen konnte? Sie lief den Weg zurück, den sie gekommen war. Immer schneller und schneller. Angst stieg in ihr hoch. Die Bäume waren plötzlich nicht mehr wunderschön, sondern riesig und bedrohlich und erstickten jegliches Sonnenlicht. Und dann nahm sie plötzlich auch die schwarzen Vögel über sich wahr, die ihr stumm zu folgen schienen. Ihr standen die Tränen in den Augen, als sie endlich das Getöse hörte. Wenigstens hatte sie sich nicht verlaufen. Vollkommen außer Atem und keuchend kam sie am Wasserfall an.
Sie blieb kurz stehen und drehte sich um. Die schwarzen Vögel waren verschwunden. Der Wasserfall dröhnte, während ihr Herz in ihrer Brust pochte. Und plötzlich meinte sie wütendes Geschrei der Vögel zu hören. Jenseits des Wasserfallgetöses. Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen war, und horchte. Aber der Lärm des Wassers und ihr eigenes Keuchen übertönten alles. Sie hatte es sich sicherlich nur eingebildet. Ludmilla versuchte den Gedanken abzuschütteln und wandte sich dem Gang zu, der in die Höhle führte.
Gerade als sie um die erste Ecke gebogen war, wandte sie sich noch einmal um. War da eine Bewegung hinter ihr gewesen? Panik ergriff sie wieder. Sie rannte in die Höhle hinein, hastig und mit klopfendem Herzen. Sie erkannte die Umrisse des Spiegels, der an der Felswand lehnte. Sie stürzte auf ihn zu. Zitternd kniete sie sich davor. Was sollte sie tun? Würde er sie zurückbringen? Irgendwie kam ihr das richtig vor. Nur wie? Er musste leuchten, das stand fest. Und das Gesicht musste diese Melodie von sich geben. So war es zumindest gewesen. Nur – wie bekam sie das hin?
Ludmilla zwang sich, tief durchzuatmen. Sie hatte ihn berührt, erinnerte sie sich nun. Ihre Finger zitterten, als sie das blinde Spiegelglas betastete. »Bitte, bitte, bitte«, murmelte sie immer wieder. Und: »Schnell, schnell, schnell, BITTE!« Ludmilla traute sich nicht mehr, sich umzudrehen, sie wollte einfach nur noch nach Hause. Raus aus dieser Welt.
Und tatsächlich! Der Spiegel erfüllte ihr den Wunsch und fing an zu leuchten. Ludmilla zuckte zurück und sah zu dem Gesicht hoch. Das blieb stumm. »Vielleicht brauche ich dich ja gar nicht!«, zischte sie feindselig zwischen den Zähnen hervor. Zögerlich streckte sie die Hand aus und berührte das Spiegelglas. Der Spiegel verschlang sie sofort. Doch aus der Ferne meinte sie noch eine Stimme zu hören: »Ludmilla!« Eine wohltuend freundliche Stimme.
Ludmilla landete recht unsanft auf der anderen Seite. Sie saß benommen auf dem Fußboden des Zimmers im Haus ihrer Großmutter, in dem der Spiegel auch stand. Sichtlich verwirrt blieb sie auf dem Boden sitzen. Der Spiegel hinter ihr leuchtete noch. Instinktiv rückte sie von ihm ab. Dennoch konnte sie nicht anders, als ihn anzuschauen. Sie starrte ihr leuchtendes Spiegelbild an. Hier hatte sie eines!
Sie zitterte immer noch am ganzen Körper, ihr T-Shirt war verschmutzt, und ihre Füße waren schwarz. Sie betrachtete sich im Spiegel. »Was hast du da nur angestellt?«, fragte sie sich. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht, die sie ungelenk zur Seite strich. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Misstrauisch betrachtete sie den Spiegel. Die Verzierungen, Schriftzeichen und Ornamente leuchteten immer noch. Aber wo waren die bewegten Schriftzeichen, die sie vorhin noch gesehen hatte? Sie rückte etwas näher, wobei sie darauf achtete, den Spiegel nicht zu berühren. Die Verzierungen verschwanden, und Schriftzeichen erschienen auf dem Rahmen, so als schriebe eine unsichtbare Hand eine Geschichte auf den Rahmen.
Gerade, als sich Ludmilla darin vertieft hatte, sich die Schriftzeichen weiter einzuprägen, trat das kleine Gesicht aus der oberen Mitte des Spiegelrahmens hervor und flüsterte: »Ludmilla!«
Ludmilla zuckte zusammen und schob sich instinktiv vom Spiegel weg. »Du!«, giftete sie das Gesicht an. »Als ich dich gebraucht habe, hast du nicht reagiert. Fratze!«
»Du musst zurückkommen. Gleich morgen Nacht zur selben Zeit. Es ist wichtig«, sprach das Gesichtchen unbeirrt weiter. Seine Stimme war lieblich und warm. »Hörst du, Ludmilla! Morgen, selbe Zeit! Benutze den Spiegel«, bekräftigte es.
»Ja, ja!«, antwortete Ludmilla erschöpft, ohne nachzudenken.
Dann verschwand das Gesicht im Rahmen. Damit erlosch auch das Leuchten des Spiegels. Ludmilla starrte noch lange auf die Stelle, an der das Gesicht erschienen war.
In dem Zimmer war es dunkel, aber es dämmerte schon, als sie langsam in ihr Bett schlich. Sie achtete nicht auf die Geräusche, die sie machte und die im Haus widerhallten. Sie war wie unter Schock. Und sie konnte gar nicht richtig glauben, dass sie das alles wirklich erlebt hatte. Und jetzt sollte sie zurückkehren? Zurückkehren? Durch den Spiegel? Wieder an diesen Ort? War es überhaupt ein Ort? Was war das für eine Welt?